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Asche, Schnee und eine Kerze

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23.01.2007
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Asche, Schnee und eine Kerze

In der Hütte war es kalt, doch der Junge wagte nicht, ein Feuer zu entzünden. Die Anderen würden den Rauch sehen.
Vor dem Fenster breitete sich eine endlose Ebene aus. Baumskelette stachen aus dem Boden hervor, grauer Schnee fiel auf die Landschaft und vermischte sich am Boden mit Asche. Bald würde die sternlose Nacht hereinbrechen. Es war Glück, dass sie die Hütte gefunden hatten: Noch eine Nacht und sie wären erfroren.
Der Junge kniete am Fenster, drückte das Mädchen an sich und fühlte ihr Herz schlagen.
»Heute ist Weihnachten«, flüsterte er.
»Was ist das?«
Eine Weile antwortete er nicht und überlegte. Das Mädchen war sein Schweigen gewohnt, schloss die Augen und lehnte sein Ohr gegen die Brust des Jungen.
»Früher haben sie das gefeiert. Oma hat davon erzählt, da warst du noch nicht auf der Welt. An Weihnachten sind die Menschen nett zueinander. Sie schenken sich Dinge und essen gute Sachen.«
Das Mädchen hob den Kopf und suchte den Blick des Jungen. »Sind die Anderen heute auch nett zu uns?«
»Ich weiß nicht.«
»Kommen sie dann her?«
»Nein, sie bleiben draußen. Vielleicht feiern sie alleine.«
Das Mädchen nickte. »Das finde ich auch besser so.«
»Willst du mit mir Weihnachten feiern?«
»Vielleicht«, antwortete das Mädchen und blickte weiter hinaus in die Ebene. »Ich will nicht, dass die Anderen kommen. Wenn sie kommen, will ich nicht Weihnachten feiern.«
»Sie kommen nicht.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Mir ist eiskalt.«
Der Junge sah hinaus. Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien und am Horizont mischte sich die bleifarbene Ebene mit dem Grau des Himmels. Am Fenster bildeten sich Eisblumen. Er wickelte sich und das Mädchen in die stinkende Decke und drückte die klammen Finger.
»Meinst du, dass sie heute kommen?«, fragte das Mädchen.
»Nein, sie kommen nicht.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher.«
»Ich glaube, ich habe etwas gesehen. Dort drüben.«
Das Mädchen drückte den Zeigefinger an die Scheibe und ein Kranz aus Kondenswasser bildete sich, der bald darauf gefror.
»Das ist nur der Wind.«
»Bist du sicher?«
»Es ist nur der Wind.«
Von ihren Vorräten waren noch drei Dosen Fisch übrig sowie eine Dose Bohnen und ein Glas Apfelkompott. Außerdem besaßen sie eine Kerze. Er hatte sie vor ein paar Tagen gefunden, sie lag auf dem Boden der Küche eines zur Hälfte eingestürzten Hauses. Gleich daneben waren die verkohlten Überreste einer Frau. Er hatte das Mädchen nach draußen geschickt und die Kerze eingepackt.
Der Junge schlug die Decke zurück und setzte sich in die Zimmermitte. Das Mädchen folgte ihm. Er stellte die Kerze in den Staub, dazu legte er das Apfelkompott. Eine rostige Gabel legte er daneben. Mit einem Benzinfeuerzeug entzündete er die Kerze und flackerndes, gelbes Licht breitete sich aus.
»Glaubst du, die Anderen können das Licht sehen?«, fragte das Mädchen.
»Nein. Es ist zu klein.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher.«
»Ich will nicht, dass sie es sehen. Mach es lieber aus.«
»Sie sehen es nicht.«
»Bist du ganz, ganz sicher?«
»Ja, ich bin ganz, ganz sicher.«
Das Mädchen setzte sich und blickte zum Fenster, der Himmel war schwarz geworden. Der Junge setzte sich ihr gegenüber und blickte in ihr schmales Gesicht.
»Weil heute Weihnachten ist, schenke ich dir das Apfelkompott«, sagte er.
Das Mädchen lächelte.
»Was ist Weihnachten?«, fragte das Mädchen.
»Da schenkt man sich etwas.« Er schob das Glas mit dem Kompott zu ihr.
»Danke. Ich mag Apfelkompott.«
»Ich weiß.«
»Das ist mein Lieblingsessen.«
»Ich weiß.«
»Warte. Dann will ich dir auch was schenken.«
Das Mädchen kramte in der Tasche des zerschlissenen Anoraks und fischte eine Batterie heraus. Der Zylinder war zerkratzt und am Ende hatte sich blasiger Rost gebildet.
»Ich hab das am Straßenrand gefunden. Und du hast gesagt, wie wichtig so etwas ist.«
Der Junge nahm die Batterie und betrachtete sie im Kerzenlicht. »Danke. Das ist lieb von dir.«
»Glaubst du denn, dass sie noch geht?«
»Ja, die geht noch.«
»Bist du sicher?«
Er steckte die Batterie in die Hosentasche. »Ja, ich bin sicher.«
»Machst du das Kompott auf?«
Der Junge nahm die Gabel und hebelte den Verschluss auf. Mit einem Knacken löste er sich. Er roch daran, das Kompott war in Ordnung. Das Mädchen steckte die Finger ins Glas. Der Junge hielt ihr die Gabel hin.
»Nimm die.«
»Na gut.«
»Woher weißt du eigentlich, dass heute Weihnachten ist?«, fragte das Mädchen und steckte sich eine Gabel Kompott in den Mund.
Der Junge dachte nach. »Weil wir in einer Hütte sind.«
»Ja.«
»Und draußen liegt Schnee.«
»Ja.«
»Und wir haben eine Kerze und Geschenke.«
»Aber so war das doch gestern auch schon.«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sind wir aber morgen nicht mehr in der Hütte.«
»Weil die Anderen kommen und wir weglaufen müssen?«
»Ja, vielleicht.«
»Darum ist heute Weihnachten?«
»Ja. Darum ist heute Weihnachten.«
Die Kerze warf zuckende schwarze Schatten an die Wand. In der Luft tanzten Staubflocken. Bis auf das Schmatzen des Mädchens war es ruhig.
»Haben wir wieder mal Weihnachten?«, fragte das Mädchen.
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Wir haben noch ganz oft Weihnachten.«
»Na gut.«

 

Hallo Yours,

eine kurze, winterliche Postapokalypse. Zu wenig, um wirklich nachhaltig zu sein, denn außer einem Stimmungsbild ist hier nichts, und dieses kennen wir schon:
Asche, Konservendosen, marodierende Kannibalen und ein kindlicher Gesprächspartner, der ständig die Dialoge mit "Okay." beendet ergibt Cormac McCarthys "Die Straße". Insofern list sich Deine Geschichte wie ein Stück McCarthy-Fan-Fiction.

Trotzdem: Ich finde es sehr schön, zumindest eine Geschichte hier zum Weihnachtsthema zu haben. Und die ist - bei aller Meckerei - sogar schön & besinnlich zu lesen.

Frohes Fest,
X-Mas-Naut

 

Hallo Naut!

Danke dir für deinen Kommentar. Du hast Recht: Ich hab "Die Straße" vor ner Weile gelesen und ich hatte McCarthys Stimme im Kopf. Ich finde seinen Stil großartig. Und mich freut, dass das Buch noch jemand gelesen hat.

Diese Geschichte hier ist aber älter, das heißt, sie entstand, bevor ich das Buch gelesen habe. Zumindest die Geschichte. Auch da gabs schon Konserven und die Asche, und das zentrale Thema war die Frage, wie man "Weihnachten" feiern und bewahren kann in einer Ödnis inmitten von Menschen, die einem buchstäblich ans Fleisch wollen. Ich mag postapokalyptische Phantasien sehr gerne, nur wusste ich nie, wie ich sie anpacken sollte.

Ich habs die Geschichte dann wieder ausgegraben nachdem ich das Buch gelesen hatte und ich fand seine Art zu schreiben wunderbar passend. Also habe ich meine überarbeitet und hier eingestellt.

Danke für das "schön & besinnlich", das freut mich.

Dir auch schöne Weihnachten,

yours

 

Guten Abend, yours!

Das ist eine schöne und rührende Geschichte. So rührend und schön, daß sie mir fast zu schön und zu rührend ist. Die Kinder sind so rein und gut in einer so kalten und traurigen Welt, man will glauben wollen, daß sie damit durchkommen und immer so bleiben, aber ob das hinhaut ... ich rechne Dir hoch an, daß sie wenigstens während der Geschichte am Leben bleiben. :D

Das Gebirge am Anfang fand ich extrem auffällig zu arg:

Grauer Schnee fiel auf die tote Landschaft und vermischte sich am Boden mit Asche. In der Hütte war es kalt. Der Junge wagte nicht, ein Feuer zu entzünden aus Angst, dass die Anderen den Rauch sehen würden. Vor dem Fenster breitete sich die endlose Ebene aus. Skelette von Bäumen stachen aus dem Boden hervor, totes Gras wiegte sich im Wind unter einer fahlen Sonne. Bald würde die sternlose Nacht hereinbrechen.
Da bleibt einem ja nichts erspart! Doppelt tot ist echt am tötesten. :aua:
»Ich weiß nicht. Ja, sind sie.«
Hier ist wieder so eine krasse Kumulation:
am Horizont mischte sich die bleifarbene Ebene mit dem Grau des Himmels. Bald würde es dunkel sein. Am Fenster bildeten sich durch ihren Atem Eisblumen. Graue Blumen vor einer toten Welt.
Da mußte ich an Loriot denken: Wir nehmen das Steingrau!
»Ja, ich bin ganz sicher.«
Das ist übrigens meine Lieblingsstelle. Eine Batterie! Und wahrscheinlich ist sie kaputt, aber Ja, die geht noch. Das fand ich richtig rührend. Andererseits: Wenn der Junge das Mädchen anlügt, um sie zu beruhigen, könnte das auch heißen: Die Anderen sehen das Licht, kommen wahrscheinlich heute Nacht noch, aber wenn man eh sterben muß ... Ich hab da bei Dir so ein Mißtrauen. Der Schluß z.B.: Glaub ich das jetzt, daß die nochmal Weihnachten haben werden? Nach dieser Batteriesache? Es hätte mich echt beruhigt, diese Batterie funktionieren zu sehen.

Das dauernde "okay" hat mich ein bißchen gestört. Ich habe mich damit getröstet, daß das eben zur persönlichen Magie der Kinder gehört, daß es eine Formel ist, die Dinge wahr macht, Hoffnung gibt und die Einheit erhält.

Ich hätte mich aber mehr für die Anderen interessiert, überhaupt für das Drumrum, da ist echt wenig. Alles grau und tot, und draußen irgendwelche Bösen - am Bühnenbild hast Du so gut gespart, Du könntest glatt ein Schwabe werden. :D

Daß in Science Fiction eine rührende Weihnachtsgeschichte steht, hat was Subversives, wenn auch ganz sub.

Liebe Grüße!
Makita.

 

Hallo yours!

Schnee, eine Kerze und was Leckeres, mehr Dinge braucht man nicht, um Weihnachten zu feiern. Nur sind deine Beiden da nicht von selbst drauf gekommen. Endzeitszenario.
Mit Engelsgeduld – sehr passend zur Weihnacht – versucht der Junge das Mädchen zu beruhigen.
Manchmal gibt er sich zuversichtlicher als er ist. Er scheint sie auf eine großbrüderliche Art zu mögen. Aus den wenigen gesprochenen Worten, die sich auch sehr oft wiederholen, kann man einiges herauslesen.


»Oma hat davon erzählt. Da warst du noch nicht auf der Welt. An Weihnachten sind die Menschen nett zueinander. Sie schenken sich Dinge und essen gute Sachen.«
= Oder: „Meine Oma hat davon erzählt … Sie sind keine Geschwister.
Da warst du noch nicht auf der Welt. = halte ich für überflüssig. Der Altersunterschied wird ohnehin deutlich.
Das ist ja gerade die Stärke dieses Textes, das so etwas nicht direkt geschrieben werden muss. Übrigens könntest du in diesem Sinne sogar die Worte „wagte“ und „Angst“ (erster Absatz) streichen.

Der Einstieg hat mir weniger gefallen:

Grauer Schnee fiel auf die tote Landschaft und vermischte sich am Boden mit Asche. In der Hütte war es kalt. Der Junge wagte nicht, ein Feuer zu entzünden aus Angst, dass die Anderen den Rauch sehen würden. Vor dem Fenster breitete sich die endlose Ebene aus. Skelette von Bäumen stachen aus dem Boden hervor, totes Gras wiegte sich im Wind unter einer fahlen Sonne. Bald würde die sternlose Nacht hereinbrechen.
Es war Glück, dass sie vor ein paar Tagen die Hütte gefunden hatten. Noch eine Nacht draußen und sie wären mit Sicherheit erfroren. Der Junge drückte das Mädchen an sich und fühlte das Herz schlagen.

Zwanzig Worte gestrichen:

Der Junge wagte nicht, ein Feuer zu entzünden. Die Anderen würden den Rauch sehen.
Vor dem Fenster breitete sich unter einer fahlen Sonne die endlose Ebene aus. Skelette von Bäumen stachen aus dem Boden hervor. Grauer Schnee fiel auf die tote Landschaft und vermischte sich am Boden mit Asche.
Bald würde die sternlose Nacht hereinbrechen. Es war Glück, dass sie die Hütte gefunden hatten. Noch eine Nacht draußen und sie wären erfroren.
Der Junge drückte das Mädchen an sich und fühlte das Herz schlagen.


Liebe Grüße

Asterix

 

Hallo Makita!

Die Kinder sind so rein und gut in einer so kalten und traurigen Welt, man will glauben wollen, daß sie damit durchkommen und immer so bleiben, aber ob das hinhaut ... ich rechne Dir hoch an, daß sie wenigstens während der Geschichte am Leben bleiben.

Ja, das ist meine Weihnachtsgeschichte ohne sterbende Kinder. Ich hab auch eine mit ... im Acht-Wort-Geschichten-The-Game Thread, hrhr.

Mir sind die Kinder ja selber fast zu rein. Am Anfang, also in ner älteren Version, wollte der Junge das Apfelkompott zunächst selber essen und dann weiterschenken. Ich weiß auch nicht, warum ich das gestrichen habe. Vielleicht sollte ich es wieder reinnehmen - so als Kontrapunkt. Das macht ihn vermutlich menschlicher und lässt ihn nicht wie einen Engel erscheinen.

Den Anfang hab ich gekürzt. Asterix hat das ja auch angemerkt, und mir gefällt er jetzt besser so. Da hab ichs wohl übertrieben. Wie auch mit dem Steingrau, genau. Ja. Ich hab ja grinsen müssen. Werde sehen, dass ich das auch noch kürzen kann.

Das mit der Batterie, ja. Es zeigt natürlich sehr viel über das Verhältnis der zwei, aber es zeigt es nur dem Leser. Dem Mädchen bleibt es verschlossen. Sie weiß ja nicht, ob sie geht oder ob nicht. Das Spannende: Der Junge weiß es vermutlich auch nicht. Er weißt auch nicht, ob die Anderen kommen werden oder ob sie noch einmal Weihnachten feiern werden.
Aber er fühlt sich verpflichtet, sie durch seine Aussagen zu trösten. ihr zu sagen: Es wird alles gut - obwohl, und das ist oft so, wenn man diese Ritualworte verwendet -, es man ja selber gerade nicht weiß.

Und darum natürlich die Blasen an der Batterie. Das rostet alles. Es zerfällt. Die ganze Welt zerfällt. Aber er möchte, für sie!, noch einen Rest behalten.

Und so sind die beiden ein Licht, ja. Ganz verklärt betrachtet. :) Wie die Kerze in der Zimmermitte, die gelbes Licht erzeugt im Kontrast zum Grau der restlichen Geschichte.

Das Bühnenbild, okay. Weißt du ... man könnte ja viel mehr. Man könnte! Aber dazu ... hm. Irgendwann. Da schreib ich mehr. Nicht nur eine Szene in einem Meer aus Einsparungen. Ich freue mich aber darüber, dass du es wissen wolltest. Alleine schon die Neugier ist ja was. Solange sie nicht Enttäuschung wird. :)

Danke dir und komm gut über Weihnachten! Ich wünsch dir fröhliche.


Hallo Asterix!

Ja, er braucht sehr viel Geduld. Aber er hat ja auch sehr viel Zeit. Viel zu dem Thema habe ich bereits in meiner Antwort auf Makitas Beitrag geschrieben.

Manchmal gibt er sich zuversichtlicher als er ist.

Genau. Das ist auch ein zentrales Thema von Weihnachten, finde ich. Darum habe ich das hier als Motiv gewählt. Besser sein zu wollen als man ist. Zuversichtlicher als sonst. Und das in der grauen Welt, in der die zwei Kinder ja in der Geschichte leben.

Was bleibt an Menschlichkeit, wenn die Welt, so wie wir sie kennen, einmal untergegangen ist? Und: Was genau ist Menschlichkeit? Gehört das, was die Anderen tun, nicht auch zur Menschlichkeit?

Naja. Das führt alles zu weit für diese kleine Geschichte. :)

Den Anfang habe ich überarbeitet, danke für deine Gedanken dazu. Ich finde ihn, knapper wie er jetzt ist, auch besser.

Danke für deinen Kommentar! Und auch die fröhliche Weihnachten.


yours

 

Hey yours,

erschreckend, aber deine Geschichte gefällt mir. Ruhig, dennoch mit viel Inhalt. Wunderschönes Schlaglicht. Nur das Okay ist wirklich etwas zu viel.
Erinnert mich übrigens im Ansatz an Helmut Peschs "Eden". Wie gesagt, nur im Ansatz. Die Stimmung ist am Anfang ähnlich, auch wenn der Plot ein ganz anderer ist.

lg
Dave

 

Hey Dave!

Danke dir. :)

Ich werde ein paar Okays rausnehmen, okay. "Eden" hab ich noch nicht gelesen, aber ich schau es mir mal an. Ich mag ja die Stimmung am Anfang selber sehr gerne, auch wenn das eitel klingt.

Bis bald,
yours

 

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