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Asche, Schnee und eine Kerze
In der Hütte war es kalt, doch der Junge wagte nicht, ein Feuer zu entzünden. Die Anderen würden den Rauch sehen.
Vor dem Fenster breitete sich eine endlose Ebene aus. Baumskelette stachen aus dem Boden hervor, grauer Schnee fiel auf die Landschaft und vermischte sich am Boden mit Asche. Bald würde die sternlose Nacht hereinbrechen. Es war Glück, dass sie die Hütte gefunden hatten: Noch eine Nacht und sie wären erfroren.
Der Junge kniete am Fenster, drückte das Mädchen an sich und fühlte ihr Herz schlagen.
»Heute ist Weihnachten«, flüsterte er.
»Was ist das?«
Eine Weile antwortete er nicht und überlegte. Das Mädchen war sein Schweigen gewohnt, schloss die Augen und lehnte sein Ohr gegen die Brust des Jungen.
»Früher haben sie das gefeiert. Oma hat davon erzählt, da warst du noch nicht auf der Welt. An Weihnachten sind die Menschen nett zueinander. Sie schenken sich Dinge und essen gute Sachen.«
Das Mädchen hob den Kopf und suchte den Blick des Jungen. »Sind die Anderen heute auch nett zu uns?«
»Ich weiß nicht.«
»Kommen sie dann her?«
»Nein, sie bleiben draußen. Vielleicht feiern sie alleine.«
Das Mädchen nickte. »Das finde ich auch besser so.«
»Willst du mit mir Weihnachten feiern?«
»Vielleicht«, antwortete das Mädchen und blickte weiter hinaus in die Ebene. »Ich will nicht, dass die Anderen kommen. Wenn sie kommen, will ich nicht Weihnachten feiern.«
»Sie kommen nicht.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Mir ist eiskalt.«
Der Junge sah hinaus. Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien und am Horizont mischte sich die bleifarbene Ebene mit dem Grau des Himmels. Am Fenster bildeten sich Eisblumen. Er wickelte sich und das Mädchen in die stinkende Decke und drückte die klammen Finger.
»Meinst du, dass sie heute kommen?«, fragte das Mädchen.
»Nein, sie kommen nicht.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher.«
»Ich glaube, ich habe etwas gesehen. Dort drüben.«
Das Mädchen drückte den Zeigefinger an die Scheibe und ein Kranz aus Kondenswasser bildete sich, der bald darauf gefror.
»Das ist nur der Wind.«
»Bist du sicher?«
»Es ist nur der Wind.«
Von ihren Vorräten waren noch drei Dosen Fisch übrig sowie eine Dose Bohnen und ein Glas Apfelkompott. Außerdem besaßen sie eine Kerze. Er hatte sie vor ein paar Tagen gefunden, sie lag auf dem Boden der Küche eines zur Hälfte eingestürzten Hauses. Gleich daneben waren die verkohlten Überreste einer Frau. Er hatte das Mädchen nach draußen geschickt und die Kerze eingepackt.
Der Junge schlug die Decke zurück und setzte sich in die Zimmermitte. Das Mädchen folgte ihm. Er stellte die Kerze in den Staub, dazu legte er das Apfelkompott. Eine rostige Gabel legte er daneben. Mit einem Benzinfeuerzeug entzündete er die Kerze und flackerndes, gelbes Licht breitete sich aus.
»Glaubst du, die Anderen können das Licht sehen?«, fragte das Mädchen.
»Nein. Es ist zu klein.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher.«
»Ich will nicht, dass sie es sehen. Mach es lieber aus.«
»Sie sehen es nicht.«
»Bist du ganz, ganz sicher?«
»Ja, ich bin ganz, ganz sicher.«
Das Mädchen setzte sich und blickte zum Fenster, der Himmel war schwarz geworden. Der Junge setzte sich ihr gegenüber und blickte in ihr schmales Gesicht.
»Weil heute Weihnachten ist, schenke ich dir das Apfelkompott«, sagte er.
Das Mädchen lächelte.
»Was ist Weihnachten?«, fragte das Mädchen.
»Da schenkt man sich etwas.« Er schob das Glas mit dem Kompott zu ihr.
»Danke. Ich mag Apfelkompott.«
»Ich weiß.«
»Das ist mein Lieblingsessen.«
»Ich weiß.«
»Warte. Dann will ich dir auch was schenken.«
Das Mädchen kramte in der Tasche des zerschlissenen Anoraks und fischte eine Batterie heraus. Der Zylinder war zerkratzt und am Ende hatte sich blasiger Rost gebildet.
»Ich hab das am Straßenrand gefunden. Und du hast gesagt, wie wichtig so etwas ist.«
Der Junge nahm die Batterie und betrachtete sie im Kerzenlicht. »Danke. Das ist lieb von dir.«
»Glaubst du denn, dass sie noch geht?«
»Ja, die geht noch.«
»Bist du sicher?«
Er steckte die Batterie in die Hosentasche. »Ja, ich bin sicher.«
»Machst du das Kompott auf?«
Der Junge nahm die Gabel und hebelte den Verschluss auf. Mit einem Knacken löste er sich. Er roch daran, das Kompott war in Ordnung. Das Mädchen steckte die Finger ins Glas. Der Junge hielt ihr die Gabel hin.
»Nimm die.«
»Na gut.«
»Woher weißt du eigentlich, dass heute Weihnachten ist?«, fragte das Mädchen und steckte sich eine Gabel Kompott in den Mund.
Der Junge dachte nach. »Weil wir in einer Hütte sind.«
»Ja.«
»Und draußen liegt Schnee.«
»Ja.«
»Und wir haben eine Kerze und Geschenke.«
»Aber so war das doch gestern auch schon.«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sind wir aber morgen nicht mehr in der Hütte.«
»Weil die Anderen kommen und wir weglaufen müssen?«
»Ja, vielleicht.«
»Darum ist heute Weihnachten?«
»Ja. Darum ist heute Weihnachten.«
Die Kerze warf zuckende schwarze Schatten an die Wand. In der Luft tanzten Staubflocken. Bis auf das Schmatzen des Mädchens war es ruhig.
»Haben wir wieder mal Weihnachten?«, fragte das Mädchen.
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Wir haben noch ganz oft Weihnachten.«
»Na gut.«