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Arzt oder Patient?
Behutsam umschlang er mit seinen Händen die frisch gebrühte Tasse heißen Brennesseltee und schlürfte daran als würde er gerade das kostbarste Gut der Welt konsumieren. Anschließend stellte er die Tasse auf einem Buch ab, welches über die menschliche Anatomie Aufschluss gab, weshalb die ebenfalls dort platzierten "Übungskatheter" auf den sorgfältig gesäuberten Parkettboden hinunterpurzelten. Er war angehender Arzt im zweiten Semester seines Studiums.
Seit er begonnen hatte zu studieren, begann er, Menschen anders zu betrachten. In seinem besten Freund, dem rauchenden Literaturstudenten, sah er oftmals nur mehr das Lungenkarzinom, welches sich vielleicht schon in ihm bildete. Und wenn er abends an der leidenschaftlich schnapstrinkenden Hauswartin vorbeiging, war der einzige Gedanke der sich ihm ins Gehirn brannte, ihre vom Fusel zerfressene Leber. Über dies hinaus war er nicht einmal dazu in der Lage, Arbeiter von der Straßenmeisterei, die drei Blocks weiter eine Kreuzung in frischen Teer tunkten, davon zu überzeugen, aufgrund der gesundheitlichen Risken ihre Arbeit niederzulegen.
Er konnte diesen Hang zur medizinischen Analyse seiner Mitmenschen, der sich mittlerweile schon automatisch in ihm ausbreitete, nicht mehr stoppen. Ein Studienkollege hatte ihn darüber aufgeklärt, dass dies eine Art Berufskrankheit sei, die er nun mal zu akzeptieren habe. Er wolle ja immerhin Arzt werden und ein solcher muss mit seinem Beruf leben, auch in seiner Freizeit.
Mit einem einzigen entspannten Schluck trank er genüsslich seinen Tee aus und platzierte sich vor den Fernseher. Als er dann allerdings das Programm von RTL2 betrachtete, überkam ihn unmittelbar ein gewaltiger Brechreiz, der fast dazu führte, dass der eben eingenommene Tee aus ihm herausquoll. Es waren Frauen zu sehen, die ihre verschwitzten, sekundären Geschlechtsmerkmale auf einer Theke herumwälzten. Wenige Sekunden später wackelte ein schwerst alkoholisierter Mann daher und platzierte sein frisch erworbenes Kebap direkt auf diesen bunten Bakterienpool. Kurz danach schlang er die türkische Spezialität grinsend hinunter.
Angewidert verließ er das Fernsehzimmer und begab sich in sein Schlafgemach. Die Sauerstoffzirkulationspumpe, die verhinderte, dass sich zu viele Staubmilben im Raum ansammelten, schaltete er noch mit einer routinierten Handbewegung ein. Danach zog er den Reißverschluss von seinem Quarantänezelt zu, schloss seine Augen und freute sich auf seine Vorlesung morgen an der Uni.