Was ist neu

Arwen Abendstern

Beitritt
10.12.2002
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Arwen Abendstern

Die Frau saß etwas abseits von den anderen. Er hatte sie schon eine Weile beobachtet, und als der Hauptgang beendet war, nahm er die Schale mit seinem Nachtisch, verabschiedete sich von seinen Freunden und setzte sich ihr gegenüber ans Fenster.
"Hallo! Sie sind neu hier, oder? Ich habe Sie noch nie hier gesehen."
Sie schaute irritiert von ihrem noch halbvollen Teller auf. "Vorgestern angekommen. Gestern hatte ich keinen Appetit und bin in der Wohnung geblieben."
"Scheint sich noch nicht wirklich gebessert zu haben, hm?"
"Wie kommen Sie darauf?"
"Weil Sie noch immer lustlos in ihrem Essen herumstochern, während alle anderen schon fertig sind."
"Stimmt nicht: Der Mann dort hinten isst auch noch."
Er drehte sich in die gewiesene Richtung. "Der arme Georg hatte letztes Jahr seinen zweiten Schlaganfall. Seitdem klappt es mit der Koordination nicht mehr so - mit dem wollen Sie sich doch nicht vergleichen, oder?
"Sind Sie gekommen, um mit mir ein Therapiegespräch zu führen?"
"Nein!" Er lachte. "Nein, eigentlich wollte ich Sie einfach nur kennen lernen."
"Mich wollte schon lange kein Mann mehr kennen lernen."
"Vielleicht lag 's an der falschen Gesellschaft? Wie heißen Sie?"
Ihre Lippen versteiften sich etwas. "Arwen", sagte sie dann.
Er schwieg einen Moment. "Arwen?" Wie die Elfenprinzessin?"
"Arwen. Und Abendstern ist mein Zweitnahme."
Er grinste sie an. "Seien Sie mir bitte nicht böse, aber das klingt verdammt nach irgendeiner Kifferkommune in Kalifornien. So mit Wohnwagen, freier Liebe, und so…"
Jetzt schmunzelte sie. "Es war in Irland, aber ansonsten stellen Sie sich das schon ganz richtig vor. Ja, ich wurde in einem Wohnwagen inmitten vieler illegaler Grünpflanzen gezeugt. - Und wie heißen Sie?"
"Lars. Leider hat mein Name keine so interessante Geschichte. Meine Eltern hatten eine Schwäche für nordische Namen und so …" Er zuckte mit den Schultern. "Und Sie? Haben Sie ihren Eltern ihren Namen je verziehen?"
"Na, es geht so. Die meiste Zeit war es ganz in Ordnung. Nur als damals der Film rauskam und der ganze Hype war, da war es doch sehr nervig."
"Der Zeichentrick?"
"Nein. So alt bin ich auch wieder nicht. - Die erste richtige Verfilmung, die damals in drei Teilen immer Weihnachten kam. Jedenfalls, da war ich eine junge Frau und alle meine Freundinnen machten die gleichen Sprüche - sprachen mich als "Elfchen" an. Fragten, wem ich meine Unsterblichkeit schenken wolle und natürlich, ob ich Aragorn schon gefunden hätte. All den Unsinn halt. Ehrlich gesagt hatte ich eben etwas Ähnliches von Ihnen erwartet."
"Da bin ich aber froh, ihre Erwartungen enttäuscht zu haben. - Mögen sie das Buch?"
"Geht so. Aber sie bewegen sich jetzt auf dünnem Eis: Wenn man so heißt wie ich, hat man im Laufe der Zeit mehr Gelegenheit, sich über den "Herrn der Ringe" zu unterhalten, als einem lieb ist."
Lars lächelte sie breit an. "OK, reden wir über etwas anderes. Erzählen sie mir, warum Sie hier sind? Sie scheinen sich doch sehr unwohl zu fühlen?"
"Sie sind ziemlich neugierig."
"Generell eigentlich nicht. Aber auf Sie schon."
"Ein Charmeur …"
"Als ich jünger war vielleicht. Heute ist das mit dem Charme so eine Sache."
"… und sehr direkt."
"Schuldig. Ich finde, wenn ein Mann sich zu einer wildfremden Frau setzt und ein Gespräch beginnt, ist sowieso klar, was er will. - Warum dann noch verstecken spielen?"
"Weil … verstecken spielen Spaß macht und man sich dabei besser kennen lernt?"
Er zuckte mit den Schultern und lächelte wieder. "Ist eine ganze Weile her, aber ich weiß noch, wie ich als kleiner Junge beim Versteckspielen im Wald immer als erster erwischt wurde. Ich fand das doof und irgendwann versteckte ich mich einfach nicht mehr, sondern stellte mich direkt neben den Jungen, der suchen musste. Sobald der fertig gezählt hatte, und sich umschaute, griff ich sofort an den Baum und rief "Frei!", noch bevor der andere überhaupt wusste, was geschah. Daher kommt das wohl."
"Klingt so, als hätten Sie sich nicht an die Regeln gehalten."
"Sagen wir mal, ich habe sie großzügig interpretiert."
Wieder lächelte sie. "Meine Wohnung wurde renoviert."
"Wie bitte?"
"Ihre Frage, warum ich hierher gekommen bin. Der Vermieter hatte meine Wohnung renoviert und ich konnte mir nicht mehr die Miete leisten."
Lars setzte sich vor und räusperte sich. "Das tut mir leid. Sie haben gar keine Angehörigen, die Sie unterstützen?"
"Nein. Kein Aragorn, keine Kinder."
Einen Moment breitete sich ein unangenehmes Schweigen aus.
"Eines Tages werden sie Abschussprämien zahlen", sagte Arwen schließlich.
"Wer? Die Politiker?"
"Wer denn sonst?"
"Sie sind also richtig zwangseingewiesen, ja? Das tut mir leid. Aber Sie werden sehen, Arwen, hier ist es halb so schlimm. Wir können uns für unsere Rente wenigstens noch ein bisschen was leisten. Wenn wir die Miete hier selbst zahlen müssten … Ich für meinen Teil kann auf die Jugend jedenfalls gut verzichten."
"Klingt, als hätten sie mit ihrem Leben schon ganz abgeschlossen."
"Wirke ich auf Sie so? Dabei dachte ich, ich sei schon sicher in der Schublade des Lebemannes angekommen. - Im Gegenteil, ich lebe sehr gerne. Aber mit den Menschen hier. Ich bin hier mit Menschen zusammen, die ungefähr mein Alter haben, meine Erfahrungen gemacht haben. Aber draußen … als ich klein war beschwerten sich meine Großeltern immer über die schnelllebigen Zeiten. Die hatten ja keine Ahnung. Was soll ich da noch? Nein, ich bin gleich als ich in Rente ging in dieses Altenviertel gezogen und habe es nie bereut."
Arwen legte den Kopf schief. "Komische Sichtweise. Trotzdem, die schieben uns doch ab. Ich finde es entwürdigend, so behandelt zu werden. Wer Menschen einfach irgendwo zusammentreibt und zwingt, dort zu leben, wird sie eines Tages auch erschießen. Altenviertel - Das hier ist doch ein Ghetto!"
"Ich denke nicht, dass wir abgeschoben werden. Sie schaffen uns Freiräume, in denen wir unter uns sind. Für ein Ghetto fehlt doch wohl die Mauer drumherum und die Wachen …"
"Das kommt auch noch." Arwen zuckte mit den Schultern und zum zweiten Mal trat eine angespannte Pause ein. "Aber Politik ist ein schlechtes Thema, um sich kennen zu lernen, nicht wahr? Vielleicht bin ich wirklich ein bisschen wütend. Ungerechtigkeiten machen mich immer aggressiv. Nicht nur in eigener Sache, wissen Sie."
Lars lachte. "Also keine Märchenprinzessin, sonder eher ein Feuerkopf, ja?"
Sie erwiderte das Lachen. "Sagen wir mal: Eher die kriegerische Arwen aus dem Film als das liebe Mädchen aus dem Buch. Tolkien war ein Chauvi. - Aber was ist mit Ihnen? Angehörige?"
"Zwei Söhne, zwei Enkel. Ansonsten keine."
"Jetzt sind sie auf einmal sehr einsilbig."
Lars machte eine wegwerfende Handbewegung. "Da gibt's nicht viel zu erzählen. Wir kommen eigentlich ganz gut miteinander aus."
"Eigentlich?"
"Na, Probleme gibt's immer. Sie besuchen mich häufig. Fast jeden Tag. Sind sehr fürsorglich …"
"Aber …?"
"Na, ich hätte schon gerne öfters richtigen Besuch. Nicht den per Video, verstehen Sie? Meine Kinder verstehen das nicht, meinen, das eine wäre so gut wie das andere. Außerdem würden wir uns so häufiger sehen, als wenn sie erst extra anreisen müssten. Solche Sachen halt."
"Etwas mehr Kontakt zu den Jüngeren hätten sie also doch gerne."
Lars zuckte mit den Schultern. "Manchmal. - Es ist doch immerhin Familie, nicht wahr?"
Das Putzpersonal rückte ein und begann, den Esssaal aufzuräumen. Die letzten kleinen Grüppchen lösten sich auf. Auch Arwen stand auf.
"Sehen Sie, Lars, jetzt haben wir uns ein wenig besser kennen gelernt, und wenn Sie meiner noch nicht überdrüssig geworden sind, setzen Sie sich vielleicht morgen wieder zu mir, und wir unterhalten uns weiter. Was halten Sie davon?"
"Wenn Sie meiner noch nicht überdrüssig sind, könnten Sie mich eigentlich heute Abend besuchen, auf ein Glas Wein, und wir könnten uns dort weiter kennen lernen."
"Jetzt sind sie wieder so ungeduldig und direkt."
"Erwischt. Wie früher immer. Versteckspielen ist halt doch nicht meine Sache." Er setze ein Lächeln auf, das bei einem jüngeren Mann wohl spitzbübisch gewirkt hätte. "Ich habe eine große Sammlung alter CDs…
"CDs? Nicht auf dem PC?"
"Ich will die Dinge, die ich liebe, auch anfassen, besitzen. Und ich sitze gern bei einem Glas Wein, höre Musik und schaue mir das Booklet an."
"Was haben Sie denn im Angebot?"
Er musterte sie kritisch. "Ich würde sagen, sie sind der Bruce Springsteen Typ."
"Schon möglich."
"Und? Kommen Sie vorbei?"
"Mal sehen. Ich werde darüber nachdenken."
"Ich wohne genau gegenüber, sehen Sie?" Er wies aus dem Fenster.
"In Ordnung, ich weiß, wo ich Sie finde. Aber verlassen Sie sich nicht darauf, dass ich komme." Lars blieb noch einen Moment und sah ihr nach. Dann trank er seinen Tee aus und nahm seine Tabletten ein. Etwas, worauf er in Arwens Anwesenheit verzichtet hatte.

 
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Ok, ein paar Worte zu dieser Story:
Wie Hinterlassenschaft und Das Loch im Schnee ist die Story das Ergebnis einer Hausarbeit für meine Autorenschule.
Aufgabe war, einen "Dialog" zu schreiben, nicht unbedingt eine Geschichte. Entsprechend dieser Vorgabe ist die Story auch nicht unbedingt sehr handlungsreich geworden. :rolleyes: Ich würde sie aber nicht hier posten, wenn ich nicht denken würde, dass sie letztlich schon eine in sich geschlossene Einheit bildet.
Trotzdem interessiert mich primär eine Kritik des Dialogs: - Ist er interessant? Unterhalten sich Leute so? Macht er neugierig auf die Figuren und was die beiden vielleicht sonst noch erleben?

Niels

PS: Die SF Elemente sind zugegebenermaßen eher zurückhaltend eingesetzt. Warum es eine SF Geschichte ist, sollte dem aufmerksamen aber Leser deutlich werden, oder? :p

 

Hi Niels,

mir hat der Dialog durchaus gefallen. Aufgrund Deiner Erklärung spare ich mir die Kritik an der mangelnden Handlung ;)
Der Dialog wurde dadurch interessant, dass er nach und nach die Umstände aufdeckte. Auf subtile Weise lässt Du bestimmte, ungewohnte Aspekte einfließen, die ein großes Potenzial aufweisen. Aus dem Plot lassen sich mühelos mehrere Geschichten ableiten.
An ein paar Stellen erinnerte mich der Dialog ein wenig an einen schnellen Schlagabtausch, wie er selten in der Realität, häufig aber in amerikanischen Kinofilmen auftaucht (z.B. das mit dem Charmeur). Das wirkt auf mich ein wenig konstruiert, aber auch nicht unrealistisch - immerhin befinden wir uns in der Zukunft.
Eine Kleinigkeit noch: An ein paar Stellen hast Du das persönliche Fürwort "Sie" klein geschrieben. Wenn mich mein interner Mini-Duden nicht täuscht, muss das auch in Dialogen groß geschrieben werden.

Fazit: sprachlich prima, interessante Ideen in einem flotten Dialog, und nicht zuletzt SF des 21. Jahrhunderts.

Liebe Grüße

Uwe
:cool:

 

Die Geschichte ist für eine auf reinem Dialog basierende Erzählung wirklich gut.

Auch die Sozialkritik ist dem SF-Leben angepasst, ich würde die Geschichte jedoch zu Gesellschaft tun.

Ich dachte am Anfang, 2 20 jährige oder so seien die Prot, und langsam verwandelten sie sich in Greise.
Das war der beste Teil der Geschichte

Mfg Dowd

 

Vielen Dank euch dreien für eure positive Kritik! :) War vorab doch etwas nervös ob der äußeren form und dem mir ungewohnten Genre. ;)

Bin gespannt, was meine Lehrerin dazu sagt ... :D

 

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