Arthur
Hermann starb bei der Geburt seines Sohnes.
"Musst nicht mit hinein", sagte vorher seine hochschwangere Frau. "Musst nicht mit hinein, ich schaff' das schon!"
Hermann war ein Hüne von einem Mann, sportlich durchtrainiert, jetzt natürlich nervös, lachte etwas gekünstelt: " Ich muss doch meiner Kleinen (er sagte immer meine Kleine) die Hand halten."
Die Geburt verlief völlig normal. Als das blutige Köpfchen sichtbar wurde, befiel Hermann Übelkeit.
"Pressen, drücken!" rief die Hebamme. "Ja, gut so, sehr brav! Gut machen Sie das!"
Hermann drückte die Hand seiner Frau so fest, dass es ihr weh tat. Mit einem Flutsch lag das bläulich-blutige Wesen zwischen ihren Beinen. Hermann griff sich noch ans Herz, sackte zusammen und verschied lautlos.
In diesem Moment fing das Wesen zwischen ihren Beinen kräftig zu schreien an. Die Hebamme, nachdem sie es abgenabelt hatte, trug es zur Säuberung weg. Auch Hermann wurde weggetragen - auf einer Bahre, direkt in die Pathologie, wo man später eine Gehirnblutung mit anschließendem Herzstillstand feststellte.
Marlene wurde krank und man behielt sie mit dem kleinen Hermann noch drei Wochen im Spital. Als Marlene genesen war, zog sie mit dem Baby in das Haus ihrer Mutter, um deren Fürsorge und Liebe, die sie jetzt dringend brauchte, zu genießen.
Hermann war ein besonderes Kind. Er schrie nur, wenn er Hunger hatte, die Hosen voll oder ihn irgendwelche Kleinkinderkrankheiten plagten. Ansonsten lachte und jauchzte er viel oder schlief seinen tiefen Babyschlaf.
Hermann war wunderschön. Dichte schwarze Locken umrahmten sein pausbäckiges Kindergesichtchen und seine hellblauen Augen strahlten mit seinem herzlichen Lachen um die Wette. Hermann wurde von allen verwöhnt. Von Onkeln, Tanten, der Oma und natürlich von Marlene – alle liebten Hermann.
Bereits mit acht Monaten fing er zu laufen an und es war drollig und anmutig zugleich, wie sich das kleine Wesen zuerst wackelig und dann bereits ohne Hilfe fortbewegte.
Hermann räumte gerne Küchenschränke aus und dann wieder ein, so gut es eben für so einen kleinen Buben möglich war. Dabei erregten ein Suppentopf und zwei Kochlöffel seine kindliche Aufmerksamkeit. Er drehte den Topf um und schlug mit dem Holz ein paar mal auf den Topfboden. Zuerst zaghaft und dann immer schneller. Hermann behagte das sehr und die Mutter nannte ihn "meinen kleinen Blechtrommler".
Zu Weihnachten bekam er nebst vielen Plüschtieren, Pferdchen und anderem Kleinkinderspielzeug auch eine Babytrommel aus Kunststoff. Hermann trommelte den ganzen Tag. Er trommelte auf Tischen, Stühlen, auf seinen Plüschtieren, auf die Mama, auf die Oma, aufs Fenster usw.
Marlene war ständig um ihr Söhnchen bemüht, erzog ihn liebevoll und gerecht. Hermann wuchs etwas schneller als andere Kinder und mit vier war er groß und kräftig, konnte schon zählen und las mühelos seine Lieblingsgeschichte "Dornröschen".
Das Haus von Marlenes Mutter stand weit außerhalb der Stadt und so konnte die kleine Familie oft ausgedehnte Spaziergänge durch Wald und Wiesen machen.
Bei einem dieser Spaziergänge erblickte Hermann einen toten Hasen. Da das Kind sehr tierliebend war, weinte es bitterlich. Die Mutter tröstete ihn und sagte, dass ihn die Englein holen werden.
"Aber warum?" schluchzte Hermann.
"Morgen, morgen, wirst du sehen, morgen, wenn wir wiederkommen ist das Häschen bei den Engeln."
Insgeheim dachte sich Marlene, dass sie den Kadaver gleich in der Früh wegräumen würde.
Das Kind war wieder einigermaßen zufrieden und Marlene ging nächsten Tag tatsächlich mit einer Schaufel und einem Krampen bewaffnet in den Wald. Doch von dem Tier war außer ein paar Knöchelchen nichts mehr übrig. Füchse oder andere Raubtiere hatten sich wahrscheinlich in der Nacht daran gütlich getan.
Auch recht, dachte Marlene, und schob mit dem Fuß die Knochen ins nahe Gebüsch, legte noch ein paar Taubenfedern, wo das tote Tier gelegen hatte nieder und ging wieder heim.
Beim nächsten Spaziergang zeigte die Mutter ihrem Söhnchen die Stelle mit den Taubenfedern und Hermann jauchzte: "Das Häschen ist nun bei den Engeln und es geht ihm gut und das ist der Häschenplatz!" Und so war seine kleine Welt wieder in Ordnung.
"Marlene, Marlene, so kann das nicht weitergehen, du versauerst hier!" sprach ihre Mutter. "Es wird Zeit, dass du wieder unter Menschen gehst. Das wöchentliche Treffen mit deinen Freundinnen ist ja doch zu wenig."
Und tatsächlich: Marlene kümmerte sich ausschließlich um ihren Kleinen, den Haushalt und um ein wenig auszuspannen, las oder strickte sie.
Beim nächsten Freundinnen Treffen brachte sie halb belustigt das Ansinnen ihrer Mutter vor.
"Also, da hat sich recht, deine Mutter", sagte Lisa, eine ihrer Freundinnen. "Weißt was, ich nehme dich übers Wochenende mit nach Wien, dort hauen wir anständig auf die Pauke und schlafen kannst bei mir, in meiner Zweitwohnung."
"Was, soweit – nach Wien? Was wird aus Hermann und Mutter?"
"Ach was, vergiss einmal deine Pflichten, dein Mandi (sie sagte statt Hermann Mandi) ist wohl bei deiner Mutter gut aufgehoben."
Gesagt – getan und Marlenes Mutter freute sich mit ihr.
Marlene war sehr hübsch. Groß, schlank, ihr blondes Haar aus der Stirn gekämmt gab ein paar große, fragende Rehaugen frei.
Der Abend in Wien begann mit einem Abendessen in einem netten Lokal. Anschließend besuchten sie eine In-Disco im ersten Bezirk und damit begann das Verhängnis.
Das Verhängnis kam in Gestalt eines vierschrötigen Kerls namens Arthur, der Marlene sofort zum Tanzen aufforderte. Arthur war eigentlich hässlich. Nicht sehr groß, mit auffällig kleinen manikürten Händen. Sein Profil glich dem eines Boxers und seine sinnlichen, dicken Lippen wirkten eher gemein. Sein spärliches Haar war gleichmäßig um den Kopf verteilt und damit es besser hielt, mit Gel fixiert. Auf den ersten Blick wirkten seine dunkelbraunen Augen schön. Doch bei näherem Betrachten bemerkte man eine gewisse Kälte.
Am schönsten war seine sonore, männliche Stimme. Marlene fiel sofort auf sie herein, war für seine Komplimente sehr empfänglich, ja schon jetzt verfallen.
Während Lisa mal mit diesem, mal mit jenem tanzte, hatte Marlene nur noch Augen für Arthur. Er trug Designerklamotten, eine Rolex und protzigen Schmuck.
Arthur nötigte Marlene immer wieder zum Trinken. Er selbst trank auch, nur er vertrug es und Marlene nicht.
Ganz am Ende der schummrigen Theke presste Arthur seine dicken Lippen auf die von Marlene. Dann tanzten sie wieder eng umschlugen nach der Musik von Lionel Richie. Da war's um Marlene geschehen und bereitwillig sagte sie ja, als Arthur sie fragte, ob sie zu ihm nach Hause wolle. Eigentlich fragte er nicht, sondern bestimmte. Aber das merkte sie nicht.
Lisa war zornig. Nicht, dass Marlene ohne sie fort ging, sie war zornig, als sie Arthur sah.
"Aber morgen rufst mich gleich am Morgen an – verstehst du? – Hast verstanden?"
Marlene bejahte und Arthur versuchte Lisa zu beschwichtigen.
Seine Wohnung war ein Spiegelbild seiner selbst. Teure , geschnitzte Möbel aus der Gründerzeit, Ölgemälde, wahrscheinlich Kopien, zeigten fettleibige, nackte Haremsdamen. Riesige, schmutzige Luster überall, unzählige Nippes in einer Glasvitrine, dicke, falsche Teppiche und schwere, Kordel besetzte Vorhänge von undefinierbarer Farbe.
Im Schlafzimmer ein pompöser Schrank, auch geschnitzt versteht sich, er war genau so groß wie das unordentliche Bett, worauf er Marlene wie eine Puppe warf und sofort brutal nahm.
Marlene wusste erst nicht, wie ihr geschah, doch es es gefiel ihr – verdammt, es gefiel ihr sogar sehr gut.
Später wurde er ein wenig zärtlich, küsste sie überall hin und Marlene war verliebt, verliebt bis über beide Ohren.
Am Morgen nach dem Erwachen dachte Marlene, Lisa anzurufen, um zu sagen, dass sie bliebe. Ja, sie wollte bei Arthur bleiben, lange, ganz lange, aber das wusste sie auch nicht so genau…
Arthur zerstreute ihr Bedenken, in dem er wieder über sie herfiel.
Marlene blieb eine Woche, Arthur musste stundenweise weg. In diesen Zeiten putzte Marlene die verdreckte Wohnung, die Lüster, die Fenster, wusch die Vorhänge, seine stinkigen Socken, bügelte die Hemden und das alles nur aus "Liebe". Der Mutter und Lisa versicherte sie, dass es ihr gut gehe.
Marlene wollte noch bleiben, aber Arthur gab treffliche Gründe vor, von wegen Geschäftsreise oder so an und Marlene fuhr endlich nach Hause. Man sehe sich doch bald wieder, versicherte Arthur.
Marlene, wieder daheim, bemerkte schon die fragenden Augen der Mutter. – Ja, Geschäftsmann ist er, fährt teure Autos, ist reich und sieht gut aus und wir sehen uns wieder.
Und die Mutter freute sich mit ihr.
Im Kindergarten wurde bei Hermann ein großes musikalisches Talent festgestellt. Er schlug die Trommel genau im Takt und wenn er Musik von Cd's hörte, setzte der Kleine ein wie ein Profi.
Natürlich bekam er ein kleines Schlagzeug. Er beherrschte auch schon die Flöte und das Gitarrenspiel erlernte er fast mühelos.
"Der muss später auf die Hochbegabtenschule für Musik", sagte die Kindergärtnerin und Marlene und die Oma waren von der Idee begeistert.
Marlene fuhr jetzt öfters nach Wien. Marlene ließ sich ausnutzen, körperlich und finanziell. Marlene, wenn wieder daheim, träumte sehr viel, vernachlässigte den Haushalt und manchmal auch Hermann. Hatte Arthur mal keine Zeit oder wollte keine Zeit haben, bombardierte sie ihn mit Anrufen, SMS oder Mails, zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Marlenes Mutter sah, wie sehr die Tochter litt. "Er soll doch auch mal hierher kommen", sagte sie.
Marlene rief Arthur an um zu fragen, ob er kommen würde. "OK, ich komme", stimmte Arthur gelangweilt zu. "Aber erst in drei Wochen, vorher geht es sich zeitlich absolut nicht aus."
Und tatsächlich, Arthur kam in einem Oldtimer angefahren, brachte Blumen für die Mutter, einen Hauch von Nachthemd für Marlene und einen Winniepoobären für Hermann. Marlene war begeistert, die Mutter weniger und Hermann fürchtete sich vor dem Riesending.
Hermann mochte Arthur vom ersten Augenblick an nicht. Sein musikalisches Ohr vertrug dessen Stimme nicht, war ihm zu laut und wenn er rief: "Mandiburli komm, Winniepoobärli spielen", da lief Hermann weg zu seinen Instrumenten.
Die Mutter wusste schon nach der ersten Nacht, was los war. Sie hörte das Gestöhne, Geschrei – aber sie schwieg.
Und Hermann schlug sein Schlagzeug den ganzen Tag, hörte nicht auf damit. Selbst beim Essen trommelte er unkontrolliert mit den Fäusten auf den Tisch. Bevor es Schlafenszeit wurde, versteckte Arthur die Stöcke von dem kleinen Schlagzeug und die Mutter nahm Schlaftabletten.
Hermann hörte in der Nacht Schreie , grässliche Schreie. Ich muss Mama helfen, dachte er, ich muss ihr helfen! Arthur tut ihr weh!
Er suchte nach seinen Schlagzeugstöcken, aber fand sie nicht. Neben dem Kamin stand ein Feuerhaken und eine kleine Kohlenschaufel. So bewaffnet, lief er ins Schlafzimmer.
Arthur lag, er hockte fas auf Marlene und Hermann schlug mit der Schaufel auf ihn ein und krallte sich an seinem Rücken fest. Arthur drehte sich verwundert um und wollte ihn abschütteln, da verfing sich der Feuerhaken in seiner Halsschlagader und er blutete, blutete wie ein gestochenes Schwein und das Blut lief über das Gesicht von Marlene und über ihre Nacktheit. Arthur verstummte und sackte schwer auf ihren Leib.
"Jetzt kannst Mama nicht mehr weh tun", sprach Hermann vor sich hin, "jetzt nicht mehr." Er ging in sein Zimmer und schlief sofort ein.
Marlene, einer Ohnmacht nahe, blieb regungslos und hörte einige Minuten dem Blut zu, wie es tropf, tropf, tropf, gespenstisch langsam auf den Boden fiel.
Plötzlich überkamen sie ungeahnte Kräfte und sie schleuderte Arthur aus dem Bett, der mit einem dumpfen Geräusch wie ein nasser Sack am Boden aufschlug.
"Mutter! Mutter! Ich habe Arthur getötet! Ich habe Arthur getötet!" rief Marlene geistesgegenwärtig.
Die Mutter war sprachlos und entsetzt! Ich habe so etwas Ähnliches kommen sehen, aber so etwas nicht, ging es ihr im Kopf herum.
"Ruhig, ruhig, mein Kind! Wir müssen die Nerven behalten."
Mutter und Tochter banden Arthur in das blutige Leintuch, trugen ihn zum Auto und versenkten beides in dem verwahrlosten Baggersee, wo nie ein Mensch hinkam, da die Gegend so hässlich und unwirtlich war.
Die Mutter verbrannte das Bettzeug samt Matratze, wusch den Boden, so gut es ging, und Marlene duschte. Sie duschte und duschte, bis sich die rote Flüssigkeit in hellrosa verwandelte und selbst als das Wasser klar war, duschte sie immer noch.
Marlene sprach nicht mehr. Sie sprach nicht mit Hermann, nicht mit ihrer Mutter, mit niemandem.
Marlene wurde fort gebracht. Hermann wurde von Oma erzogen und sie gab ihm alle Liebe, die eine Großmutter nur geben kann. Onkeln und Tanten halfen ihr dabei.
Nur getrommelt hat Hermann nicht mehr. Er wurde ein stilles Kind, man vermisste sein herzliches Lachen und seine Späße. Er las sehr viel und übte Gitarre.
Nach zwei Jahren durfte Marlene heim. Nur übers Wochenende. Sie sprach noch immer nicht. Meistens saß sie in der Küche und beobachtete Hermann mit hasserfüllten Augen, nahm teilnahmslos ihre Mahlzeiten ein und wartete, bis man sie wieder abholte.
Der unendlichen Geduld der Ärzte und Schwestern verdankt Marlene, dass sie wieder langsam zu sprechen begann. Wie ein Kind lernte sie die einzelnen Buchstaben, setzte sie zusammen, sprach und las ganze Wörter und Sätze.
Marlene durfte nach Haus, für immer. Sie sei völlig wiederhergestellt, sagten die Ärzte.
Marlene half wieder im Haushalt, versuchte, so gut es ging, mit Hermann umzugehen und freundlich zu sein. Doch er, inzwischen zehn Jahre alt, fühlte ihre hasserfüllten Blicke wie kleine Nadelstich in seinem Rücken.
Inzwischen kam von der Hochbegabtenschule die Zusage, dass Hermann aufgenommen war. Tränenreich verabschiedete er sich von seiner Oma. Der Mutter gab er die Hand und versprach, recht gut zu lernen.
Marlene traf sich wieder mit Freundinnen, las oder strickte. Ausgegangen ist sie nie mehr.
Hermann kam zu den Semesterferien, Weihnachten und Ostern nach Hause, wurde dann von seiner Oma verwöhnt und auch die Mutter bemühte sich sehr. Nur ihre Augen, ihre einst so schönen großen Augen, waren jetzt ganz klein. Es waren hasserfüllte Äuglein und Hermann redete sich ein, dass sie von der schweren Krankheit stammten.
Er machte in der Schule große Fortschritte, bekam viel Lob von seinen Lehrern und älteren Musikerkollegen und erlangte durch einige kleine Fernsehauftritte, wo er Jugendorchester dirigierte, gewisse Berühmtheit.
Hermann war fünfzehn, als seine Oma starb. Er brach am Grab fast zusammen. "Jetzt hab' ich nur noch dich, Mutter", sagte er die beiden lagen sie sich in den Armen und weinten.
Mit siebzehn sah Hermann prächtig aus: Lange, schwarze Locken, die bis auf die Schultern reichten, schwarze, gebogene Wimpern, die seine blauen Augen umrahmten, die schön geformte Nase, der immer etwas melancholische Mund und der athletische Körper wie der seines Vaters.
Hermann wurde von allen Mädchen umschwärmt und von den Jungen beneidet. Aber er hatte nur Augen für Caro. Caro, eigentlich Caroline, war eine exzellente Pianistin und die beiden spielten oft im Duett.
Hermann liebte Caro und Caro liebte Hermann. Sie gingen Händchen haltend durch die Straßen, ins Kino oder zu Konzerten.
Es kamen die Osterferien und Caro wusste nicht wohin. Sie werde wohl im Internat bleiben müssen, da ihre Eltern eine Kreuzfahrt machten und niemand Zeit für Caroline hatte. Die Eltern hatten eigentlich nie Zeit für ihre Tochter.
Als sie wieder einmal darüber traurig war, küsste er sie zum ersten Mal ganz zart auf die Lippen.
"Aber natürlich darfst du Caro mitnehmen", sagte die Mutter, als Hermann anrief."Natürlich, du musst sie mitnehmen. Da kommt mehr Leben ins Haus."
Als die beiden ankamen wurden sie auf das Freundlichste begrüßt und bewirtet. Mutter holte extra aus der Stadt die erlesene Delikatessen. Nach herzlichen, launigen Gesprächen und dem üppigen Abendmahl wurde die schlafen Frage erörtert. Caro sollte in dem inzwischen umgebauten Zimmer der Oma schlafen und Hermann in seinem alten Kinderzimmer.
So zirka um 23 Uhr begaben sich alle zu Bett. Nur- Caroline konnte nicht einschlafen. Ungewohnt war die Fürsorge und Herzlichkeit der Mutter. Caro war glücklich und wollte ihre Zufriedenheit mit Hermann teilen. Sie war auch übermütig.
Sie nahm ihren Polster, ging in sein Zimmer und warf das Kissen mit Schwung auf seinen Kopf. Dieser, nicht feig, nahm seinen und schleuderte ihn nach Caro. So entstand eine heftige Polsterschlacht und beide hatten einen Riesenspass. Caro hüpfte auf sein Bett, zog ihn an den Locken und trieb allerlei Spaß mit ihm. Hermann, übermütig, warf sie auf den Rücken und wollte sie auch an den Haaren ziehen. Plötzlich legte sie ihre Arme um seinen Hals und schaute ihn zärtlich an. Da küsste er sie ganz lang. Sie küssten sich wieder und immer wieder. Dann, ganz langsam und verhalten drang er in sie ein. Sie schauten sich dabei tief in die Augen, nach einem ganz kurzen Schmerz fügte sich Caro in seinen Rhythmus und es war für die beiden ein Concertissimo, wie man es schöner nicht beschreiben kann.
"Hermann liebt Caro", sagte er, "und Caro liebt Hermann – für immer", sagte sie. Endlich lagen sie sich in den Armen und Wange an Wange schliefen sie ein.
Da verließ die Mutter den Türspalt. Sie konnte nicht schlafen, zuviel ging ihr durch den Kopf, manchmal ganz wirre Sachen.
Es war drei Uhr früh und Mutter deckte den Frühstückstisch. Sie nahm den weißen Damast, den sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr benutzt hatte, legte das gute Besteck auf und gab die sorgfältig gebügelten Servietten dazu.
Salami, Eier, Käse, Marmelade etcetera. waren im Kühlschrank, nur frische Semmeln fehlten noch. Sie blieb am halb gedeckten Tisch sitzen und wartete bis sieben Uhr, bis der Bäcker öffnete.
Pünktlich um sieben Uhr stieg sie ins Auto und fuhr in die Stadt. Zuerst in die Bäckerei, später zum Blumenhändler und dann in die Apotheke. Hastig ging sie noch in ein Cafe, trank einen Mocca und rauchte eine Zigarette. Es war halb neun, als sie wieder daheim ankam.
Die beiden waren schon in der Küche, deckten lachend den Tisch fertig, küssten sich und die ganze Küche strahlte vor Glück. Lächelnd bedankte sich die Mutter für das Tischdecken, gab die Semmeln, Kaffee und frisch gepressten Orangensaft dazu.
Es war ein heiteres Frühstück und Caro fühlte sich sehr zu Marlene hingezogen. Marlene merkte das und war auch zu Caro sehr freundlich.
Die Beiden wollten einen Osterspaziergang machen.
"Marlene", rief Caro – sie sagte bereits Marlene, "kann ich bitte noch etwas Orangensaft haben?"
"Natürlich", sagte die Mutter, "ich stelle ihn dir auf die Garderobe."
Sie trank den Saft und dann liefen sie los. Nach einer halben Stunde wurde Caro müde.
"Ich bin müde und schläfrig", sagte sie, "ich möchte heim."
Hermann schleppte sie ins Bett, wo sie sofort einschlief.
"Mutter, Mutter! Was ist mit Caro?" rief er.
"Nein, was soll denn sein. Müde ist sie von der Reise, der ungewohnten Umgebung und Mädchen in diesem Alter wird halt öfters schlecht."
Er beruhigte sich, blieb aber am Bett sitzen und hielt ihre Hand. Nach zwei Stunden öffnete Caro die Augen und verlangte zu trinken.
"Mutter, sie will trinken!" rief Hermann.
Die Mutter kam mit einem großen Krug Orangensaft und einem Glas. Caro trank drei Gläser von dem Saft, sodass im Krug nur wenig übrig blieb und sank sofort wieder in die Kissen.
"Lass sie jetzt schlafen", sagte sie zu Hermann, "und komm mit in die Küche. Kannst mir beim Kochen helfen."
Sie gingen hinunter, Marlene wusch sorgfältig Krug und Glas und stellte beides dann noch in den Geschirrspüler.
Aber da war Caro schon tot!
Hermann hielt es nicht lange aus und lief wieder hinauf zu ihr. Er nahm ganz zärtlich ihre Hand – ihre kleine, kalte Hand.
"Mutter, sie atmet nicht!" schrie er.
Er wurde kreidebleich und Ringe tanzten vor seinen Augen. "Mutter! Mutter! Überall Blut, ich habe sie umgebracht! Ich habe sie totgemacht, mit einem Feuerhaken habe ich sie totgemacht!"
"Du hast sie nicht totgemacht", sagte die Mutter. "Schau, wie schön sie ist." Sie kreuzte Caros Hände über der Brust und streifte das Laken sorgfältig glatt.
"Mach das Blut weg!" schrie Hermann und er wieder der kleine Junge. Die Mutter nahm in fest in die Arme. "Es ist kein Blut, mein Kleiner! Es ist kein Blut, schau nur!"
Hermann schluchzte: "Es ist kein Blut und sie ist so schön. Genauso schön wie Dornröschen!"
"Ja", bestätigte die Mutter, "genauso schön wie Dornröschen!"
"Aber das Dornröschen hatte rundherum lauter Rosen!" erinnerte sie Hermann mit einer Kleinbubenstimme.
"Ach ja, die haben wir vergessen!" Mutter zauberte den Rosenstrauß hervor und beide brachen bedächtig die Rosen von den Stängeln. Sie legten die weißen und rosa Blüten sorgfältig auf und um Carolines Körper und betrachteten sie lange.
Verzückt sprach Hermann: "jetzt ist sie noch schöner als Dornröschen."
"Ja, viel, viel schöner als Dornröschen" pflichtete ihm die Mutter bei und beide küssten sie auf die Wangen.
"Kommt Dornröschen auch zu den Engeln im Himmel?"
"Ja. Selbstverständlich" sagte die Mutter.
"Ja, aber dann müssen wir sie auf den Häschenplatz tragen. Du weißt, Mutter."
"Ja, ich weiß."
Und sie trugen Caro auf die Waldlichtung, legten sie sanft nieder und bedeckten den Leichnam wieder mit den mitgebrachten Rosen. Die Mutter nahm Hermann liebevoll bei der Hand, so wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war, und sie gingen nach Hause.
Mutter blieb noch bei Hermann am Bett sitzen. Als er schlief, strich sie ihm zärtlich über die Stirn und ging dann sofort in den Keller, um eine Taschenlampe, eine Spitzhacke und eine Schaufel zu holen. Insgeheim hoffte sie, dass irgendwelche Tiere, Bären oder so, den Leichnam verschleppt hätten. Aber Caro lag unversehrt am Häschenplatz und der Mond schien ihr ins Antlitz.
Am nächsten Morgen kam die Mutter verdreckt, müde und verschwitzt nach Hause, wusch zuerst die Geräte und dann sich selbst. Hermann schlief noch den tiefen Kinderschlaf.
Als er aufwachte, wollte er sofort zum Häschenplatz, um zu schauen, ob die Englein das Dornröschen schon geholt hatten.
Die Mutter half ihm beim Anziehen und beide gingen Hand in Hand zum Häschenplatz, wo nur mehr ein paar Taubenfedern lagen.
"Dornröschen ist jetzt im Himmel!" jauchzte Hermann.
"Ja, Dornröschen ist jetzt im Himmel" sagte die Mutter, "es schaut auf dich herab und sieht, wie du glücklich bist."
Beide gingen wieder heim, Hermann an der Hand der Mutter und beide waren recht zufrieden.
Er nahm seine alten Kindertrommelstöcke, trommelte den ganzen Tag und manchmal auch in der Nacht.
Er trommelte auf den Tischen, den Stühlen, auf die Wände, die Mama und auf alles, worauf man trommeln kann….Tag um Tag… Jahr für Jahr…