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Arnold ist geheilt von kleinen Mädchen
Melanie ist einundzwanzig Jahre alt. All ihre Energien wendet sie fürs Lernen auf, um ihrem Traum näher zu kommen. Als Ziel hat sie sich gesetzt, zumindest ein Werk, das sie komponieren wird, in einem der ganz großen Konzert- oder Opernhäuser aufzuführen. Sie liebt klassische Musik, darin kann sie all ihre Gefühle zum Ausdruck bringen, ohne sie beim Namen nennen zu müssen.
Vor drei Jahren trat Peter bei einer Vorlesung über Harmonielehre in ihr Leben. Auch er hängt ähnlichen Träumen nach – sein Ziel ist es, Musik zu Filmen zu schreiben. So verbrachten die beiden bereits viele Stunden gemeinsam mit dem Lernen von Theorie und der Umsetzung in die Praxis. Am liebsten spielen sie vierhändig Klavier, so kann sie es am meisten genießen, seine Nähe zu spüren.
Arnold hat heute seinen Glückstag. Er bestand am Vormittag die letzten Tests und gab die richtigen Antworten auf die Fragen des Psychiaters. Nach jahrelangen Gesprächen und einer positiv abgeschlossenen Aversionstherapie ist er nun geheilt. Das bestätigt der Arzt mit Stempel und Unterschrift. Der Richter wird sein Einverständnis zur Entlassung geben und Arnold daraufhin aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher freikommen – er wird bestimmt nie wieder kleine Mädchen anrühren. Allein schon beim Gedanken daran wird ihm schlecht.
Peter nimmt Melanie sanft in den Arm und beginnt, sie am Rücken zu streicheln. Er weiß, daß er sich ihr vorsichtig nähern muß. Als er zum ersten Mal versucht hatte, mit ihr Zärtlichkeiten auszutauschen, fing sie plötzlich zu heulen an und vergrub sich unter der Decke. Er verstand nicht, was los war, und Melanie konnte es ihm nicht erklären. Sie war selbst erschrocken, als sie plötzlich diese schrecklichen Gefühle hatte. Melanie war aufgestanden und begann, wild in die Tasten zu hämmern, wurde dann ruhiger und wanderte von den tiefen zu den ganz hohen Tönen, die sie nur sehr zart anschlug, es hörte sich wie Weinen an. Dann wurde es nach Todesangst klingendes Flehen, das wieder von den hart angeschlagenen tiefen Saiten niedergeschrien wurde. Noch einmal klimperte sie ein kurzes hohes Wimmern, um es von den donnernden Tiefen, die den Flügel zum Beben brachten, ersticken zu lassen. Sie steigerte sich in dieses Spiel mit ganzer Kraft hinein und beendete es abrupt. Nach drei Takten Pause ließ sie das Lied mit langsamen hohen Tönen ausklingen, die ganz deutlich ein letztes Schluchzen darstellten.
Peter verstand sofort, daß mit Melanie Schlimmes geschehen sein mußte, denn so spielte sie sonst nie. Normalerweise liebte sie sanfte, melodiöse Stücke. Ihm war klar, dass diese Komposition nur ein Schrei aus Melanies Seele sein konnte. Es dauerte nicht lang, bis er verstand, wie er diesen Schrei deuten musste.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg – und bleibens ab jetzt anständig!«
Der Stationsaufseher ist überzeugt, dass Arnold eigentlich ein ganz sympathischer Mann ist und dass die Sache mit den vier Mädchen einfach ein Aussetzer war. Er bewies ja auch sonst seine Intelligenz, das konnte der Wärter regelmäßig im Fernsehraum feststellen, da die erste Antwort bei der Millionenshow immer von Arnold kam – und richtig war. So ein intelligenter Mensch macht das sicher kein zweites Mal, der weiß doch, was er tut. Arnolds Selbstbewusstsein steigt, bei dem Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird.
Fröhlich pfeifend macht er aus der eigens für ihn geöffneten Anstaltstür den Schritt in die Freiheit, auf den er während der letzten zehn Jahre gewartet hatte.
»Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe, Peter. Jeder andere hätte es wohl schon lang aufgegeben mit mir...«
»Aber Schatz, was redest du denn da? Du kannst doch nichts dafür, dass dir das zugestoßen ist. Es dauert eben die Zeit, die du dafür brauchst, es zu verarbeiten. Ich liebe dich, Melanie. Wie könnte ich dich da für dein Leid auch noch mit Liebesentzug strafen?« Melanie fällt ihm um den Hals und drückt sich so fest an Peter, wie noch nie zuvor. Die Tränen schießen ihr jetzt vor Freude aus den Augen. Sie fühlt, wie ihre Last im Nu ein Stückchen leichter wird und ist sich sicher, daß sie durch Peter – irgendwann – alles Leid über Bord werfen wird können. Allein die Aussicht darauf macht Melanie froh.
Arnold bekommt einen Bewährungshelfer zur Seite gestellt, der ihn dabei unterstützt, wieder ins Leben zurückzufinden. Dabei ist vor allem die Arbeits- und Wohnungsuche vorrangig. Eine kleine Wohnung ist bald gefunden, die ihm das Sozialamt finanziert. »Einen Job werdens ja jetzt auch schnell finden, wenns eine Wohnung haben«, weiß sein Bewährungshelfer und gibt ihm weitere Adressen von Firmen, die schon öfter bereit waren, auch Vorbestrafte oder Haftentlassene zu beschäftigen.
Als er zum ersten Mal in seiner Wohnung schläft und sich am Morgen im Spiegel betrachtet, grinst er sich selbst an und sagt zu seinem Spiegelbild: »Jetzt fehlt nur noch, dass sie dir den roten Teppich ausrollen...«
Melanie macht jetzt eine Therapie, zwei Stunden pro Woche, eine davon meist mit Peter gemeinsam. Bald wird sie es schaffen, nicht mehr bei bestimmten Berührungen die Gefühle zu verspüren, die sie mit den unangenehmen Erinnerungen an ihre Kindheit verbindet, obwohl sie es gar nicht will.
Abends kuschelt sie sich an Peter, während sie gemeinsam die Nachrichten ansehen.
»Ein Mann, der vor elf Jahren wegen sexuellem Mißbrauch von vier Mädchen ...«
Melanie richtet sich auf und starrt das Foto an, das hinter der Sprecherin erscheint. Als sie tief Luft holt, sieht es aus, als würde sie gleich losschreien. Dann aber flüstert sie nur: »Das war er...« Peter nimmt Melanie in den Arm.
»... vor wenigen Monaten als geheilt entlassen, wurde heute auf frischer Tat verhaftet.«
Eine Filmeinspielung am Bildschirm zeigt einen Park. Auf einem Weg sind die Umrisse eines kleinen Körpers aufgezeichnet, ein Blechsarg wird weggetragen.
»Der neunjährige Florian M. fiel heute dem Mann zum Opfer. Er erlag seinen schweren inneren Verletzungen noch am Tatort.«
Die Sprecherin macht ein betroffenes Gesicht und kann sich einen Nachsatz nicht verkneifen:
»Die Therapie scheint gewirkt zu haben: Diesmal war es kein Mädchen.«