- Beitritt
- 26.10.2001
- Beiträge
- 1.572
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Arkadijs Traum
Arkadijs Traum
„Niet!“
Brausendes Dunkel verschluckt den dünnen Schrei einer sechsjährigen Jungenkehle.
Wirr hängt sein schweißverklebtes Haar über die blasse Stirne und umrahmt die schwarzen, weit aufgerissenen Augen.
„Niet“ kommt ein Stöhnen aus seinem Mund, wie ein Schatten, geworfen von einem bleichen Mond.
Sein Herz rast.
Schritte nähern sich im Dunklen vor der Türe, die Klinke bewegt sich, ein Lichtstrahl beleuchtet einen weißen Arm, eine bleiche Hand, die nach dem Lichtschalter greift.
Mit einem Geräusch, als fielen schwere Regentropfen auf umgefallene Rotweingläser erglühen die Neonröhren an der Decke zu gleißend hellem Licht.
Arkadij schließt die Augen und bebt vor Furcht.
Er hat es gewusst.
***
„Armer Wurm“ sagt Schwester Mathilde zu ihrer Kollegin, während sie sich einen Kaffee einschenkt.
Diese nickt gedankenverloren und murmelt: „Ja, armer Wurm“
Schweigen senkt sich wie ein Schleier zwischen sie.
Draußen miaut der kalte Novemberwind um kahle Alleebäume.
Es hat minus vier Grad Celsius.
Der Wind weht von Osten.
***
Das Glas zwischen den langen, sehnigen Fingern, es vorsichtig drehend jeden Reflex der rubinroten Flüssigkeit mit den Augen verfolgend, schaut Kapitän Ludwig Eberlein in die lodernden Flammen des Kaminfeuers.
„Haben wir...“ er bricht ab.
Eine sanfte Bewegung neben ihm erzeugt ein leises Rascheln.
„Was, Ludwig?“ Fragt eine leise, sanfte Frauenstimme.
„ ...“
Die Flammen im Kamin fressen gierig Holz.
„ Ludwig?“
Das kreisen der Flüssigkeit im Glas stockt.
Ein Fensterladen klappert plötzlich gegen die Hauswand.
Kapitän Eberlein stellt das Glas mit einer entschlossenen Geste auf den Beistelltisch, steht auf, und öffnet das Fenster.
Ein eisiger Windstoß bauscht die Gardinen und fegt durchs Zimmer.
Das Feuer im Kamin duckt sich wie ein Tier.
Rasch befestigt er den losgerissenen Fensterladen wieder mit seinem Haken an der Wand und schließt das Fenster mit einer harschen Bewegung.
Die vier Kerzen auf der Kommode an der Wand flackern noch einmal und brennen dann mit ruhiger Flamme weiter, als sei nichts gewesen.
Als er zu seinem Sessel vor dem Feuer zurückkehrt schaut er in ein altes Gesicht mit jungen Augen, welches ihn liebevoll aus der Tiefe des zweiten Sessels heraus anschaut.
***
Leise tappen seine Schritte barfuss über das kalte Linoleum. Es riecht nach klinischer Sauberkeit und einer Unmenge verschiedener Medikamente. Er visiert den Schmalen Lichtspalt unter der Türe an und zieht die schneeweiße Decke fester um den mageren Körper.
Er zittert.
Er versteht nicht, was die Menschen hier zu ihm sagen.
Sie sehen alle so gesund aus.
Immerzu lachen sie ihn aus.
Er weiß nicht wo Mamusch ist.
Er weiß nicht, wo sein Vater so lange bleibt. Er wollte doch bald wiederkommen.
Er hat es ihm versprochen.
Dann kamen die Männer und brachten ihn auf ein Schiff.
Dann flogen sie mit einem großen, silbernen Vogel, weit weg, in ein anderes Land.
Akasha, sein Bruder ist auch hier, sie kamen zusammen in diesem großen weißen Haus an,
Akasha konnte nichts sehen.
Er lag auf einem weißen Bett mit piepsenden Kästen und vielen Schläuchen die aus ihm herauswuchsen wie Regenwürmer die sie zusammen am Flussufer zum Angeln ausgruben, damals, bevor...
Arkadij legt die kleine, schwitzende Hand auf die Türklinke.
Sein Herz schlägt bis zum Hals, als er die Klinke langsam herunterdrückt.
Ob sie ihn schlagen, wenn sie ihn erwischen?
Ob sie mit ihren großen Stiefeln in sein Gesicht treten werden?
Ob sie... ?
***
Ehlers ist besoffen.
Besoffen und wütend.
„ Gib mir noch `nen Rum, und halt die Fresse.“ Eine Stark behaarte Hand stellt das gewünschte vor Ehlers ab.
Er ergreift das Glas mit zitternden Händen und leert es in einem Zug.
„ Noch ein´n. aber dalli.“
Erneut erscheint die schweigende Hand mit dem verlangten vor Ehlers´ Gesicht.
Eine Träne tropft neben dem Glas auf den Tresen. Sie vermischt sich mit verschüttetem Bier.
„Ihr habt ja keine Ahnung“ lallt er in das stetige Gemurmel im Hintergrund.
“Ihr habt von nichts eine Ahnung, hört ihr, von nichts.“
Schmetternd fällt seine schwere Hand auf den Tresen nieder.
Glas zerspringt knirschend.
Das Gemurmel verstummt schlagartig.
Ehlers betrachtet interessiert, wie sich ein roter Blutfaden seinen Weg aus dem inneren seiner Faust in Richtung der Bierlache bahnt.
„Ist ja gut, Ehlers, ist ja gut“ beruhigt ihn die tiefe Stimme des Wirtes.
„Alles vorbei, Ehlers, alles vorbei.“
„Ihr habt ja keine Ahnung,“ raschelt Ehlers Stimme wie dürres Laub entlang des Flaschenregals hinter dem Tresen... „ keine Ahnung habt ihr...“
***
Schrilles Piepsen schreckt Schwester Mathilde auf. „Elisabeth, Ruf den Arzt auf die 24“ ruft sie und läuft los.
Sie hastet über den stillen Korridor an dessen Ende eine defekte Leuchtstoffröhre flackert.
Nur das aufklatschende Quietschen ihrer Gummisohlen und das leiser werdende Piepsen aus dem Schwersternzimmer, fast im Takt mit ihrem keuchenden Atem ist zu hören.
Sie sieht die kleine Gestalt nicht, die sich furchtsam in die schwach beleuchtete Ecke bei der Besenkammer drückt, als sie vorbeihastet.
Sie öffnet die Türe von Nummer 24 und stürzt hinein.
Hinter ihr erklingen rasch lauter werdend hastige Schritte.
***
„Wieder einer, schon wieder“ sagt Kapitän Eberlein traurig und legt die Tageszeitung beiseite.
„Ja, Ludwig, es ist ein Jammer“ antwortet die leise, alte Stimme und die jungen Augen schauen traurig zu ihm herüber.
„Mama?“
„Ja, mein Junge?“
„Warum komme ich immer zu spät?“
„Weil du nicht Gott bist, mein Junge.“
„Weil ich nicht... ja, vielleicht hast du recht, Mutter. Vielleicht hast du recht.“
Langsam steht Ludwig Eberlein auf, faltet sorgsam die Leinenserviette zusammen, steckt sie in den silbernen, leicht angelaufenen, mit der Gravur des Familienwappens versehenen Serviettenring und legt sie dann neben sein Frühstücksgeschirr.
„Ich muss gehen, Mama“ sagt er, „Es geht immer weiter, der Tod und die Dummheit haben keine Pause.“
„Wann bist du zurück?“ Fragt sie ihn mit leiser Stimme.
„In vier Monaten, so Gott will“
„Gott beschütze dich, mein Kind.“
„Leb wohl, Mama.“
***
Ehlers ist wieder nüchtern.
Er starrt durch die dicken Glasscheiben des Flughafenrestaurants auf das graue, nasse Vorfeld, wo soeben eine 737 der Lufthansa auf ihre Position rollt.
Er bemerkt die bewundernden Blicke der Serviererin nicht, deren blaue Augen an den Streifen seiner Uniform hängen bleiben.
Unaufhörlich rühren seine Finger mit dem Löffel im kalten Schaum seines leeren Milchkaffees.
Er sehnt sich nach den stillen Stunden auf seinem Schiff.
Er sehnt sich nach der klaren Weite des Meeres, nachts, wenn er aus dem Operationssaal kommt, in dem er wimmernde, ausgezehrte Fragmente Menschlichen Seins zwischen Tod und Leben hin und her balanciert.
Oft fällt ein Leben wie eine überreife Frucht.
Er spürt eine Hand auf seiner Schulter.
Er schaut auf und sieht in Eberleins ruhige Gesichtszüge.
„Komm Heinz, es ist Zeit. Der Flieger wartet nicht und wir werden auf unserem Schiff gebraucht“
„Ja, Ludwig, so ist es wohl“ sagt er und steht auf.
***
Weit draußen vor der großen Stadt kauert ein kleines Bündel im eisigen Morast eines abgeernteten Kartoffelackers. Es hat wieder getaut, am Morgen.
Wolkenpferde jagen am Himmel dahin und Arkadij hebt langsam den Kopf.
Ein großer, silbern glänzender Vogel erhebt sich dröhnend in die Luft.
„ Mamusch“ flüstert er.
„Mamusch! , Akasha, Papa!“
Er wirft die Decke von sich und rappelt sich hoch.
Viele tausend Kilometer entfernt stampft ein Schiff durch die hohe See.
An den Ufern ferner Gestade warten Menschen auf die Hilfe, die von diesem Schiff ausgeht.
Arkadij beginnt zu laufen.
Weit breitet er seine dünnen Arme aus.
Der Wind saust um seine Ohren.
„Mamusch“
Wolkenpferde jagen über die Welt unter schweigenden Sternen.