Mitglied
- Beitritt
- 04.09.2015
- Beiträge
- 5
Arifa
Ihr Hals schmerzte. Sie konnte kaum noch schlucken, ausgetrocknet von heißer, staubiger Luft. Ihre Beine waren in einen Trott gefallen, langsam und schwerfällig liefen sie von selbst immer weiter. Die Augen hatte sie halb geschlossen, die Wimpern verkrustet vom salzigen Schweiß, der ihr stetig das Gesicht herunter gelaufen war, vermischt mit Staub und Sand. Allmählich kühlte die Luft ab, die Sonne stand schon tief über dem Horizont. Bald würde sie untergehen. Ihr Orientierungspunkt in dieser endlosen Weite. Im Sternenhimmel lesen war sie nicht so gut und kein Mond würde diese dunkle Nacht erhellen. Sie musste die Straße erreichen. Heute noch.
Langsam schleppte sie sich einen Hügel hinauf, hinter dem die Sonne bereits zu verschwinden drohte. Immer Richtung Westen, das war ihr Plan. Schon immer gewesen.
Ihr Aufbruch war so weit entfernt, so irreal erschien ihr diese ganze Mission. In ihrem Kopf spielten sich Bilder ab, längst vergangene Erlebnisse kehrten immer wieder in ihr Bewusstsein.
Da war ihr Vater, würdevoll saß er in dem alten Sessel mit der großen Lehne und dem breiten Sitzpolster, auf dem nur noch schwach das bunte Muster zu erkennen war, das ihn zierte. Sonnenstrahlen fielen ihm durch die Spalten und Risse im Holzdach auf sein Gesicht und betonten seine Falten und seine von harter Arbeit gegerbte Haut. Sie war gerade vom Wasser holen zurück gekommen und stellte den gefüllten Eimer zu seinen Füßen. „Baba,wie geht es dir? Wie war dein Tag?“ Sie neigte sich hinunter um ihm die ledernen Sandalen abzustreifen.
„Gut mein Kind, gut. Anstrengend. Doch als ich dich gerade beobachtet habe, wie anmutig du in der Abendsonne den Weg zu unserer Hütte hinauf kamst, dachte ich : „Wie froh ich doch bin, solch eine tüchtige Tochter zu haben, so pflichtbewusst und untergeben. Du machst deinem Namen alle Ehre, Arifa. Es wird nicht schwer werden für dich einen Mann zu finden. Ich habe schon einige Anwärter.“ Dankbar streichelte er ihr über ihr langes schwarzes Haar, dass sie zum Trocknen nicht bedeckt hatte, während sie anfing ihm mit einem Tuch die Füße zu waschen.
Unwillkürlich musste sie bei der Erinnerung an diesen Abend auf ihre Füße schauen. Die selben Sandalen trug sie nun, um über den von Dornenbüschen und Kraut bewachsenen, heißen Sandboden zu laufen. Sie hatte die Sandalen aufgehoben, statt sie, wie ihr befohlen, auf den großen Müllhaufen am Ende der Dorfstraße zu werfen, der einmal im Monat, aber nur wenn der Wind richtig stand, abgebrannt wurde. Heimlich hatte sie die Sandalen mit übrig gebliebenen Lederstücken wieder zusammen geflickt und zu ihrem Versteck gebracht. Unten am Fluss, hinter einer alten Dattelpalme am Südhang, hatte sie schon immer alle Schätze ihrer Kindheit aufbewahrt und dort sollten nun auch die Sandalen warten. Mit der Gewissheit, dass sie diese irgendwann brauchen würde.
Der Sand gab unter ihrem Gewicht nach und sie spürte wie sie langsam ans Ende ihrer Kräfte kam. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie es sein musste, wenn man wie eine Yilan, eine Schlange, über den Sand gleiten konnte. Hoffentlich trat sie in keine hinein. Das wäre ein qualvoller Tod. Einmal war ein Mädchen beim Spielen auf dem Müllhaufen von einer Yilan gebissen worden. Sie wohnte nicht weit von ihnen weg, nur ein paar Häuser, man hatte ihre qualvollen Schreie die ganze Nacht lang gehört. Arifa und ihre Geschwister hatten kein Auge zu gemacht, während ihre Mutter zu jeder vollen Stunde Gebete gemurmelt hatte. Am nächsten Morgen war das Mädchen tot. Die Jungs im Dorf erzählten sich Horrorgeschichten davon, wie das Bein angeschwollen sei, dass es fast geplatzt wäre und alle mit Blut bespritzt hätte. Arifa hatte versucht, nicht hin zu hören, sie hasste solche Geschichten, doch die Schreie des Mädchens hatten sie noch viele Nächte verfolgt und wenn sie zum Müllhaufen musste, dann warf sie die Sachen immer nur noch aus sicherer Entfernung darauf und rannte davon.
Doch das war lange her. Noch ein paar Schritte und sie hatte die Kuppe des Hügels erreicht. Von dort hatte man sicher einen Ausblick auf die umliegende Landschaft und vielleicht erspähte sie ja in der Ferne eine Linie, die Straße, die sich in Richtung Küste wand. Doch als sie oben ankam blies ihr ein kühler Wind entgegen und sprühte ihr noch mehr Sandkörner ins Gesicht. Sie fröstelte in ihrer dünnen Leinenhose und ein kalter Schauer lief ihr den nassgeschwitzten Rücken hinunter. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und blinzelte ins gleißende Sonnenlicht. Da erkannte sie in gar nicht weiter Entfernung eine Gestalt. Noch einmal rieb sie sich die Augen. Das konnte doch nicht sein. Und als sie nun die Augen weiter öffnete, war die Gestalt verschwunden. Ihr Gehirn hatte ihr einen Streich gespielt. Vor ihr lag nur die leere, endlose Weite. Doch sie hatte die Gestalt erkannt, die sie gesehen hatte und vielleicht war das ja ein Omen. Ein Zeichen, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Denn wäre sie dieser Gestalt nie begegnet, so hätte ihr Leben nie diese Wendung gehabt, sie hätte nie angefangen diesen Plan zu schmieden. Und sie würde im selben Moment wohl entjungfert und mit starken Bauchschmerzen, gelähmt, in dem stinkenden Zimmer dieses Mannes liegen, dem sie heute ihr Ja-Wort geben sollte.
Bei dem Gedanken lief ihr erneut ein Schauer über den Rücken, Angst breitete sich in ihrem Bauch aus und sie konnte das ihr bekannte Ziehen spüren, das sie seit zwei Jahren in regelmäßigen Abständen fast ohnmächtig werden ließ. So, nur noch stärker, hatte sie sich den Schmerz immer vorgestellt, den die Frauen in ihrer Hochzeitsnacht erlitten. Ihre Cousine konnte sich damals kaum noch bewegen und war drei Tage nicht aus dem Schlafzimmer gekommen, während ihr Mann immer und immer wieder seine Lust an ihr befriedigt hatte. Das sollte Arifa natürlich nicht hören. Doch sie hatte ihre Mutter belauscht, als diese Banan ein paar Wochen später zum Essen eingeladen hatte. Erst als ihr Mann zu einem wichtigen Termin in die Stadt musste, konnte sie sich langsam erholen. Jetzt hatte Banan drei Kinder. Ihre zarte und sanfte Art, die sie früher so an ihr bewundert hatte, war schroffem Verhalten gewichen und sie kam nur noch selten zu Besuch.
„Ich folge der Frau...das habe ich schon immer getan.“ ,dachte Arifa und setzte sich wieder in Bewegung. Ihre Füße trugen sie in die Richtung, in der sie die Erscheinung gesehen hatte.
Es war ihre erste Konfrontation mit der westlichen Welt gewesen. Sie war gerade sechs Jahre alt geworden und bald gab es eine große Feier in ihrem Dorf. Dafür wurde allerhand benötigt und alle gaben sich viel Mühe um das Fest gebührend zu feiern. Jede Familie hatte einen anderen Auftrag bekommen um das gemeinsame Mahl zu bereichern und um diese besonderen Speisen zuzubereiten, mussten sie in die Stadt fahren. Arifa durfte an Stelle ihrer Mutter als weibliche Begleitung mit ihrem Vater auf den Markt fahren, da ihre Mutter gerade erst ihren kleinen Bruder geboren hatte. Ausgerüstet mit einer langen Liste und geschult vom täglichen Helfen bei der Zubereitung, war sie ganz stolz neben ihrem Vater hergelaufen. Dieser führte sie ständig an der Hand. Auf dem großen Basar wimmelte es nur so von Menschen und nicht alle davon waren gut. Das hatte ihr Vater ihr auf dem Weg dorthin erklärt, als sie auf dem Wagen eines Ochsenkarrens saßen und in der Dämmerung getrocknete Früchte kauten. Manche von ihnen seien auf der Jagd nach kleinen Mädchen. Dabei würden sie besonders die Schönen aussuchen und mitnehmen. Und da Arifa ja wirklich eine Schönheit sei, müssten sie ganz besonders aufpassen. Er sagte ihr, sie solle nur auf den Boden schauen während sie über den Basar gingen und nur den Kopf heben um den Händlern die Zutaten zu nennen. In der Stadt angekommen, tat sie wie ihr geheißen und es gab keinen Zwischenfall. Doch sie war den ganzen Tag wie verzaubert. Die vielen Stimmen und Gerüche, Sprachen, die sie nicht verstand, Musik und das Licht und Schattenspiel der engen Gassen hatten sie in eine Traumwelt versetzt. Und als ihr Vater sich auf einer der öffentlichen Toiletten erleichtern musste und ihr befahl sich nicht vom Fleck zu rühren und sofort zu schreien, falls ihr etwas Angst machte, da konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, den Kopf doch einmal zu heben. Und was sie dann sah, im Gegenlicht der Sonne, die durch einen Stand voller bunter Tücher schien, war eine Frau, wie sie noch nie eine gesehen hatte.
Ein erstauntes „Ohhh“ war ihrem Mund entwischen und der Mann, der am Toilettenhäuschen saß, hatte aufgeschaut und die Frau ebenfalls gesehen und dann mit einem anzüglichen Grinsen zu ihr gesagt: „ Das ist eine Bati Kadin, eine westliche Frau...und zwar eine verdammt hübsche.“ Arifa hatte nur unbewegt auf die langen hellen Haare gestarrt, die der hochgewachsenen Frau über ihre freien Schultern fielen. Auf ihrer weißen Bluse spielten bunte Reflexionen herum hängender Kristalle während sie sich aufrecht und mit sicherem Schritt auf sie zu bewegte. Ihre Oberschenkel waren von einer kurzen braunen Hose bedeckt, der Rest ihrer Beine leuchtete hell. Als sie an Arifa vorbei ging, bemerkte sie wohl, dass sie angestarrt wurde und schenkte ihr ein Lächeln. Doch dann kam ihr Vater auch schon wieder aus dem Häuschen und herrschte sie an : „Arifa! Ich habe dir doch gesagt du sollst den Kopf nicht heben!“
„Entschuldige Baba.“, schnell hatte sie wieder den Kopf gesenkt und von da an hatte sich das Bild dieser Frau in ihrem Gedächtnis fest gebrannt.
Manchmal träumte sie von ihr. Sie träumte, dass sie dieser Frau nach gelaufen war, ungeachtet der Rufe ihres Vaters. Oder, dass die Frau sie an der Hand genommen hatte und ihr sagte, sie solle den Kopf heben. Einmal hatte sie auch geträumt, dass ihr Vater die Frau gesehen hatte und laut geschimpft hatte. Dass er ihr Dinge hinter her gerufen hatte, die sie nicht verstand, schlimme Sachen, doch die Frau war einfach weiter gegangen. Arifa wusste schon damals, dass es gut war, dass ihr Vater diese Frau nicht gesehen hatte und sie erzählte auch niemanden von ihrer Begegnung. Doch von diesem Moment an hatte sich etwas in ihr verändert, von diesem Moment war sie selbst der Meinung, sie würde ihrem Namen gerecht werden: Arifa, wissend, erkennend.
Vor genau einem Monat war sie vierzehn geworden und seitdem waren die Hochzeitsvorbereitungen in vollem Gange. Der Mann hatte morgens vor ihrer Hütte gestanden und um ein Gespräch mit ihrem Vater gebeten. Ganz aufgeregt war ihre Mutter umher gerannt, wie eine aufgescheuchte Henne und hatte ihren Vater geweckt, der zu diesem Zeitpunkt noch schlief, was eine Seltenheit war. Arifa sollte vorerst in ihrem Zimmer bleiben, also schickte sie ihre kleine Schwester zum Spionieren hinaus. Doch als die Stimme durch die dünnen Wände tönte, wusste sie schon, wer es war und ein Stich fuhr ihr mitten ins Herz.
„Hakim“, dachte sie, „der pockennarbige Mann, der erst vor kurzem aus der Stadt zurück gekehrt ist.“ Sie hörte wie er ihrem Vater erzählte, dass er Arifa schon ein paar mal bei ihrem Gang zum Einkaufen gesehen hätte und sie ihm im Gedächtnis geblieben wäre. Ihr Vater, der ihr Wali war, ihr Ehevormund, hörte sich erfreut an und sie wusste sofort, dass sie keine Chance hatte. Hakim war ein angesehener Mann im Dorf. Er war um die dreißig und hatte viele Jahre in der Stadt gelebt und dem Militär gedient. Jetzt, da sein älterer Bruder einem Virus erlegen war, war er zurück gekehrt, um den Hof seines Vaters weiter zu führen. Man sagte ihm Brutalität und Unnachgiebigkeit nach, zwei Eigenschaften, die ihn zu einem guten Geschäftsmann machten. Arifa hatte Angst vor ihm. Er war ihr auch aufgefallen, mit seinen vielen Narben und dem leicht hinkenden Gang. Außerdem war er groß und kräftig und immer laut. Es ging das Gerücht um, er hätte einen Trieb wie ein Hammel. Ekel stieg in ihr auf. Gemischt mit Angst. Doch als die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde und sie heraus treten sollte um ihren zukünftigen Mann zu begrüßen, war sie ganz ruhig. Sie spielte mit. Nur keinen Verdacht erwecken, sonst wäre ihr Plan dahin. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Meer und ein Bild von einem Turm aus Stahl, der irgendwo in einer großen Stadt stand, er war sehr berühmt, deswegen war er mal auf einem Bild zu sehen gewesen. Das war ihr Ziel. Daran dachte sie, als der Hammel sich zu ihr hinüber beugte, seinen übelriechenden Atem verströmte und ihre Wangen streichelte.
Es wurde immer kühler. Oder lag das an der Erschöpfung? Wie in Trance bewegte sie sich immer weiter, mehr in ihrer Gedankenwelt als in der Umgebung. Und plötzlich erschrak sie. War das ein Motorengeräusch. Sie blickte sich um, konnte jedoch nichts entdecken. Sie hielt den Atem an und lauschte. Doch! Das musste das Knattern eines Motors sein, es war ganz in der Nähe. Plötzlich fühlte sie sich wie befreit und rannte los. Das Geräusch kam näher. Und dann erkannte sie auch die Straße, wenige hundert Meter entfernt auf einer leichten Anhöhe. Glücksgefühle überströmten sie, doch sie wusste, dass sie sich beherrschen musste. Sie war noch lange nicht in Sicherheit. So schnell sie noch konnte, lief sie auf die Straße zu und winkte dem entgegen kommenden Lastwagen zu. Der Fahrer schien sie zu bemerken und verlangsamte sein Tempo, der Motor gluckste dunkel vor sich hin. „Ich bin ein Junge.“, schärfte sie sich ein. „Ein Junge auf dem Weg zum Hafen. Sonst nichts.“ Der Lastwagen kam langsam zum Stehen, die Bremsen quietschten und eine dicke Staubwolke breitete sich unter den Rädern aus. Scharfer Dieselgeruch stieg ihr in die Nase und für einen Moment konnte sie kaum noch die Umrisse des Fahrzeugs erkennen. Dann hörte sie eine Stimme : „Junge! Was machst du denn so spät noch hier draußen? Willst du erfrieren? Hat dich niemand gelehrt, dass es in der Nacht zu kalt hier draußen ist? Wohl immer vorm warmen Ofen gesessen, was?“ Der Fahrer zog verächtlich die Nase hoch um dann mit einem gurgelnden Geräusch auszuspucken. Unsicher ging Arifa auf die Fahrerkabine zu, sie bebte innerlich. Ihre Tarnung durfte nicht auffliegen. „Was ist los, Junge? Hast du deine Sprache verloren?“ , wieder zog der Fahrer die Nase hoch. Die Staubwolke hatte sich inzwischen gelichtet und hinter dem großen Lenkrad war ein kleiner Mann mit dickem Bauch zu erkennen. Auf seinem hellen Hemd waren allerlei Spuren von Dreck und er sah aus, als er hätte er sich seit Tagen nicht gewaschen. Er blickte Arifa direkt ins Gesicht, doch sein Blick war gütig. Er lächelte leicht, dabei blitzte ein Goldzahn in seinem Mund und mit dem unrasierten und ungepflegten Bart wirkte er auf Arifa wie ein Pirat. So waren diese immer in den Geschichten beschrieben worden. Sie wollte etwas sagen, ihn fragen, wo er hinfuhr, doch sie brachte nur ein kehliges Krächzen hervor. Zu ausgetrocknet war sie. Der Fahrer blickte sie unverwandt an. Da formte sie mit ihrer Hand eine Welle, es war das einzige was ihr einfiel. „Aah, zum Wasser willst du? Na da hast du aber Glück gehabt. Ich fahr die Nacht lang durch. Morgen früh sind wir am Hafen.“ Arifa musste lächeln. „Meer, Arbeit. „ ,brachte sie mit kratziger Stimme hervor. Der Fahrer winkte ab „Jaja, schon gut, spring hinten auf.“
Knarzend legte er den Gang wieder ein. Mit letzter Kraft zog sie sich an den Metallstäben der Ladefläche nach oben und suchte sich wankend einen Platz zwischen den vielen gefüllten Säcken. Erschöpft fiel sie in eine Mulde direkt hinter der Fahrerkabine. Er hatte ihr geglaubt. Ihre Tarnung funktionierte. Sie hatte sich ja selbst noch nicht gesehen.
Ihre Gedanken gingen zurück an den letzten Tag, als sie sich in dem großen langen Spiegel im Wohnzimmer betrachtet hatte. In ihrem bunten Brautgewand an dem ihre Mutter in den letzten vier Wochen jede Nacht gearbeitet hatte. Es war von einem dunklen Violett mit zart rosa- und pinkfarbenen Ornamenten. Ihre Lieblingsfarben seit sie sich erinnern konnte. Ihre Mutter wollte, dass sie an diesem Tag ganz besonders hübsch aussah. „Arifa, mein Schatz, die schönste Braut, die man je gesehen hat!“, und ihre Augen glänzten vor Rührung. „Danke Mutter, du hast dir so viel Mühe gemacht.“ Der lange Riss, der den Spiegel von unten bis oben teilte, lief ihrem Spiegelbild genau durchs Gesicht und gab dem ganzen einen bizarren Ausdruck. Fast hätte sie drei Augen gehabt. Sie waren alle früh zu Bett gegangen. Am nächsten Tag war es soweit und jeder wollte dafür gut ausgeschlafen sein. Als alles still geworden war im Haus, es musste um die Mitternacht sein, war sie aufgestanden. Auf Samtpfoten schlich sie zu dem Regal über dem Bett ihrer Schwester und zog geräuschlos das große Märchenbuch hervor. Dort hatte sie seit Jahren das wenige Geld, dass sie besaß in einem Umschlag versteckt. Sie kannte jeden Handgriff. Wie oft hatte sie dieses Szenario gespielt. Für den Ernstfall trainiert. Denn da durfte nichts schief gehen. Sie stellte das Buch wieder zurück an seinen Platz. Und atmete langsam aus. Das Gesicht ihrer Schwester war im Dunkeln nicht zu erkennen, nur ihr kleiner Körper war als Schatten auf der hellen Matratze auszumachen. „Es tut mir leid. Ich liebe dich, Kamila.“, sie wagte es nicht die Wörter auszusprechen, sie hoffte, dass ihre Gedanken ihre kleine Schwester erreichen würden. Dann schob sie leise die Tür auf, nur soweit, dass diese nicht knackste. Sie schlich zum Waschraum um die große Schere, die in der unteren Schublade des Schränkchens aufbewahrt wurde, zu entwenden. Ein geübter Griff und dann verließ sie durch das offene Fenster das Haus. Es musste alles ganz schnell gehen. Als sie in sicherer Entfernung war, lief sie ein Stück bis sie an dem Gebüsch ankam, wo der Kot so oft entsorgt wurde. Der Gestank raubte ihr fast den Atem und sie hatte das Gefühl sich gleich übergeben zu müssen. Doch es half nichts. Sie atmete durch den Mund und mit einem großen Schnitt war ihr langer Zopf ab. Eilig ließ sie die Schere um ihren Kopf fahren. Immer mehr Haare fiel zu Boden. In Kürze waren sie wohl nicht mehr länger als fünf Zentimeter. Das Werk eines ganzen Jahrzehnts dahin. Doch sie hatte keine Zeit darum zu trauern. Sie zog einen trockenen Ast aus dem Gebüsch und kehrte die Haare zu den Wurzeln. Noch ein bisschen Sand und Blätter darüber. Hier würde sowieso niemand freiwillig suchen. Leise lief sie zurück zum Haus. Sie legte die Schere, die sie vorher so gut wie möglich gereinigt hatte, wieder an ihre Stelle zurück bevor sie wieder durch das Fenster entschlüpfte, das war das letzte Mal. Und nach einigen Metern lief sie los, ohne sich auch nur noch einmal um zu blicken.
Sie lief Richtung Fluss, zu ihrem Versteck. Auch das Laufen hatte sie geübt, bis dorthin waren es rund vier Kilometer, inzwischen eine Leichtigkeit für sie und auch ihr Kopf fühlte sich so leicht an. Dort angekommen war sie zuerst ins seichte Wasser gewatet. Ein wenig mulmig war ihr dabei schon. Wer wusste, was sich da alles drin versteckte. Über ihr war das samt-schwarze Himmelszelt mit seinen Millionen von Sternen. Der Mond war nur eine hauchdünne Sichel, er würde ihr kein Licht schenken. Doch das war gut so. Dann würde man sie auch nicht über die weite Ebene laufen sehen. Das Wasser war erstaunlich warm, sie war noch nie nachts am Fluss gewesen. Mit ihren Fingern suchte sie nach einem handlichen Stein mit rauer Oberfläche. Bald hatte sie einen gefunden und ließ sich am Ufer nieder. Sie kratze den Nagellack, den ihre Mutter ihr erst vor ein paar Stunden so sorgfältig aufgetragen hatte, mit der selben Sorgfalt wieder ab. Es durfte nichts übrig bleiben. Und da sie dies ja im Dunkeln nicht erkennen konnte, musste eben auch die oberste Hornschicht mit abgekratzt werden. Als sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, ging sie zu ihrem Versteck. Dort holte sie ein kleines Bündel hervor. Sie entkleidete sich völlig und band sich als erstes mit dem festen Leintuch die Brust ab. Nur gut, dass sie nicht so viel hatte, sonst wäre das etwas schwieriger gewesen. Dann zog sie sich den weiten Wollpullover über und schlüpfte in die Leinenhose. Ihre Füße mussten noch etwas trocknen. Dann nahm sie das klappbare Messer, dass sie dort schon seit Ewigkeiten aufbewahrte und steckte es in die Hosentasche. Sie musste ein kleines Feuer machen. Die Streichhölzer reichten aus um das trockene Dornengestrüpp zu entfachen und mit diesem wiederum konnte sie ein paar härtere Stücke Holz entzünden. Es dauerte eine Zeit, bis nur noch glühende Kohle übrig war und erst dann nahm sie den goldenen Ring aus ihrer Nase, tauchte ihre Hand und ihren Ärmel tief ins Wasser, nahm ohne zu Zögern eines der glühenden Kohle Stücke in die triefnasse Hand und drückte es auf das Loch in ihrer Nase. Sie zwang sich nicht zu schreien und wurde dabei fast ohnmächtig. Drei Sekunden und dann ließ sie die Kohle fallen und tauchte den Kopf in den Fluss. Keine Spuren. Sie musste ein vollständiger Junge werden. Als sie sich von diesem Schmerz langsam erholt hatte, ihre Haut brannte immer noch und ihr war ganz schlecht, versteckte sie alles, wessen sie sich entledigt hatte, wieder hinter dem Baum, zog die alten Sandalen ihres Vaters an und dann lief sie los.
Der Lastwagen setzte sich wieder in Bewegung und schaukelte in der roten Abendsonne über die von Schlaglöchern übersäte Straße Richtung Meer. Sie schlief sofort ein und in ihrem Traum befand sie sich auf einem großen Schiff, eingebettet zwischen Kartoffelsäcken, auf dem Weg nach Europa. Sie blickte durch eine Luke auf den blauen Himmel hinaus. Das Meer erschien ihr unnatürlich grün und am Horizont konnte sie eine helle Gestalt erkennen.
Sie bekam nicht mit, wie der Lastwagenfahrer sich zu ihr umdrehte und durch das Loch in der Wand auf sie blickte. „Komischer Junge“, dachte er. „Viel zu dünn angezogen.“ Er kramte auf der Sitzbank nach einer Decke, um sie nach hinten zu werfen. Dabei fiel sein Blick auf Arifa's rechten Fußknöchel. Die Sonne schickte gerade ihre letzten Strahlen übers Land und schien genau auf eine schmale, ringförmige, weiße Fläche an ihrem Knöchel, die sich klar von ihrer gebräunten Haut abgrenzte. Der Fahrer wurde stutzig. Er verlangsamte sein Tempo und versuchte einen Blick auf Arifa's Gesicht zu erhaschen. Der Schmutz bedeckte ihren ganzen Körper, doch unter dieser Schicht, meinte er klar geformte Brauen zu erkennen. Und überhaupt hatte dieser Junge sehr wohl geformte Lippen. Der Lastwagen holperte noch ein paar Kilometer weiter und der Fahrer grübelte. Dann zog er die Nase hoch, wollte schon laut ausspucken, besann sich jedoch eines besseren. Er wollte seinen Fahrgast auf keinen Fall wecken. Und bei der nächsten ebenen Stelle wendete er, um dahin zurück zu fahren, wo er her kam. Wo sie vermutlich her kam. Man würde sie sicher suchen. Vielleicht gab es sogar eine Belohnung.