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Argentinischer Tango

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07.08.2002
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Argentinischer Tango

Eisenbeschlagene Türen donnern. Stimmen hallen durch den Korridor und fangen sich in meiner Nische. Eine kleine Nische im Halbdunkel des Trakts, hier bricht das Schweigen der Verschwundenen. Sie liegt in einem der unzähligen unbekannten Kellergewölbe der großen Stadt, am Rio de la Plata.

Blanke Stiefel im zackigen Schritt marschieren den Korridor entlang.
Raúl und Alfonso, beide sehr begabt.
Ihr Gast läuft auf wunden Sohlen.

Raúl klopft meine Schulter, zwängt mich in seine Umarmung, küsst meine Wangen und lobt das Vaterland. Er hält mit ein paar Flaschen des feinen Sauvignon Blanc unter die Nase. Dazu stellt er Rosinenweißbrot und in Olivenöl getränkten Hirtensalat auf meinen kleinen Tisch.
„Die Subversiven sagen, Präsident Videla hat das Spiel verschoben. Ich war im Stadion, mein Freund. Wir haben die Peruaner zurück in ihre Anden geschossen, haben nun Holland im Endspiel!“

Alfonso redet wenig, er führt Befehle aus. Er hat ein junges Mädchen im Schlepp, ihr Schrei nach Freiheit ist schon verstummt.
Lebensenergie, die nur noch kriecht. Wie wohlgeformt ihre Brüste noch sind?
Ich löse das Seil um ihren schmalen Hals und stütze sie, ihre Beine geben nur noch wenig Halt. Sie ist recht hübsch.
Ich wünschte sie würde Nylons tragen, nur für mich. Für einen Moment berühre ich das helle Blau ihrer Augen, dringe ein … doch Vorsicht! Dahinter verbirgt sich der Feind, ein Kommunist. Er tötet.
Ich nehme ihre Hand, fühle das zarte weiche Fleisch, es ist ganz blass. Die Hände einer Märchenprinzessin, … Vorsicht!
Ich streife den Ring von ihrem Finger, Isabel wird er gefallen.
Das Mädchen lässt sich von mir zum Grill führen, bettelt nicht.

Raúl steckt die Kabel, prüft die Elektroden und leert eine Flasche vom blumigen Weißen in schnellen Zügen.
Er sabbert in Begeisterung.
„Ich war im Stadion. Kempes … Tor! Luque … Tor! Immer wieder, bum, bum, bum.“

Die Pflaster, die feine Drähte halten, haften nicht. Der Körper ist feucht, zuviel Adrenalin.
Alfonso besorgt ein Tuch und verwischt die Nässe.

Raúl wartet am Transformator, freudetrunken.
„Ich wette eintausend Pesos, mein Freund. Wir werden Weltmeister und Mario Kempes schiesst mindestens ein Tor!“
Ich halte nicht dagegen. Argentinien wird Weltmeister. Präsident General Videla wird die Tore schießen. Soll ich es ihm erzählen?

Alfonso stellt die Fragen.
Seine Technik ist ausgereift. Er erlernte sein Handwerk in uruguayischen Lagern, damals noch mit der Machete. Heutzutage erlaubt die Zivilisation feinere Methoden.
Mit therapeutischem Geschick, anatomischer Erfahrung und viel Fingerspitzengefühl, verhilft er den Verschwiegenen zur Redseligkeit.

Doch dieser Fisch bleibt stumm!
Alfonso gibt mir ein Zeichen, ein Fingerzeig, das reicht.
Meine Aufgabe ist lächerlich einfach, nur ein kleiner Dreh am Lautstärkeregler.

Im Radio hüpft ein Akkordeon, kratzig und zart. Dazu eine Violine, lebendig ihr Spiel.
Feine Klänge im Dialog. Schmerz und Temperament, so wunderschön.
Tango! Ich liebe den Tango, mag die Melancholie.
Abends führe ich Isabel zu den Rhythmen. Im Kerzenlicht erproben wir neue Figuren. Schnell verliere ich mich im hübschen Dunkel ihrer Augen und wir verfangen uns in Leidenschaft. Isabel!
Ich liebe sie.

Der Transformator surrt, die Lichter unter der gewölbten Decke flackern. Im Schattenspiel, auf weissen Wänden, das Gebärden der Kreatur.
Ein Knall, ganz plötzlich.

Der Grill funkt, als schraubten sich Hunderte von Feuerwerksraketen gleichzeitig in die Lüfte.
Stille!
Raúl grinst verlegen.

Alfonso flucht kurz, löst ihre Riemen und schubst den Körper von der Fläche.
Mit einem tiefen Seufzer, Ausdruck der Verzweiflung, lässt er sich auf den kleinen Hocker fallen. Er reißt er sich ein riesiges Stück Weißbrot aus dem Laib, lässt den Sauvignon durch seine Kehle laufen und starrt auf das verbrannte Fleisch.

„Egal, morgen fliegen wir sie mit den anderen zur Küste.“

 

Erst zuviel Klischee, aber dann doch bedrückend.
Gut!
Gruß,
Lobo

 

Hallo Arche!

Schön, mal wieder was von Dir zu lesen! :)

Mir gefällt die Geschichte und ich finde es gut, daß Du sie geschrieben hast – viel zu wenig wird über diese Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen hoch im Kurs stehen, berichtet. Damit meine ich jetzt nicht Geschichten, sondern überhaupt, in den Nachrichten kommen die kaum vor…

Du zeigst die Gleichgültigkeit der Befehlsausführer in ihrem Schwarz-Weiß-Denken sehr gut anhand der Gespräche und daran, was sie tun. Sie führen ihre Handgriffe aus, routinemäßig, wie es in jedem Beruf routinemäßige Handgriffe gibt, über die man nicht mehr nachdenkt, sondern sie einfach macht. – Ich finde, das ist Dir sehr gut gelungen. :)

Nur noch ein paar Kleinigkeiten, scheint so, als würdest Du mit dem ß auf Kriegsfuß stehen... ;)

»Sie liegt in einem der unzählig vielen unbekannten Kellergewölben der grossen Stadt«
– wenn Du „unzählig“ schreibst, kannst Du Dir „vielen“ sparen (oder umgekehrt), da es dasselbe aussagt.
– Sie liegt in einem der vielen unbekannten Kellergewölbe (ohne -n) der großen Stadt

»Er hält mit ein paar Flaschen des feinen Sauvignon Blanca unter die Nase«
– mir

»Dazu stellt er Rosinenweissbrot und in Olivenöl getränkter Hirtensalat«
– Rosinenweißbrot und in Olivenöl getränkten Hirtensalat

»ihre Beine geben nur noch wenig halt«
Halt

»leert eine Flasche vom blumigen Weissen in schnellen Zügen.«
– Weißen

»Mario Kempes schiesst mindestens ein Tor!“
… Videla wird die Tore schiessen.«
– schießt, schießen

»Er reisst er sich ein riesiges Stück Weissbrot«
– reißt

»morgen fliegen wir Sie mit den anderen zur Küste«
sie


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Servus Arche,

die Geschichte ist in gutem Stil geschrieben. Klischee keineswegs. Das ist wirklich jeden Tag passiert. Man frage die Mütter der Plaza de Mayo. Schlimmeres noch ist geschehen. Kenn das auch nur von Erzählungen von Menschen, die von dort sind, aber trotzdem berührt es mich.

Häferl hat Dir ohnehin bereits die Hauer, die immer wieder passieren, aufgezählt.

Mir war's ein wenig zu kurz, hätte mir gerade bei diesem Thema etwas mehr Beschreibungen gewünscht. Mehr über den Protgonisten. Ein wenig mehr über den Tango, was er im Protagonisten bewegt (ich liebe Tango).

Wirklich gut geschrieben.

Grüße

Ecna

 

Danke Lobo, dass du dich dieser Geschichte gewidmet hast.

Susi auch dir dank, weil du dir wieder so viel Mühe gemacht hast. Ich hätte auch alles mit ß geschrieben, habe mir aber anderes "ss" erklären lassen, nochmals. Und denke ich werde es in tausend jahren nicht kapieren. Schön, dass du die story so empfunden hast. Deckt sich mit meinen Absichten.

Hei Echnaton. Ja, einmal wollte ich was sozialkritisches machen. Dieses Wort "sozialkritisch", ich gebe zu es ist Euphemismus.

Ich habe überlegt, ob ich noch mehr in den Hauptdarsteller eingehe. Naja ... vielleicht hätte ich es machen sollen. Hoffe es kam rüber, das er wohl ein wenig irre, meinetwegen fanatisch-naiv-ungebildet ist.
Ich freue mich über deine Anerkennung.

Liebe grüsse Stefan

 

Hallo Stefan!

ja, ich freu mich ebenfalls drüber, dass Du wieder etwas veröffentlicht hast hier, und so ein schwieriges, erstes und wichtiges Thema.
Und ich kann ebenfalls wenig an Klischees entdecken, finde Deine Wortwahl sehr gelungen. Besonders gelungen fand cih, dass man als Leser den Prot nciht einschätzen kann. Er löst ihren Strick, stützt sie, sieht ihr Elend, begehrt sie? Und dann, automatisch, weil es Befehle sind, verliert er danach kein Wort mehr. Fussball, Wein, alles egal, abgehakt. Ich finde Deine Darstellung sehr gelungen, weil sei durch die Abgestumpftheit des Prot beim Leser die Emotionen schafft.

liebe Grüße
Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke Kleine, genau das wollte ich erreichen. Der Prot ist total abgestumpft, weiss gar nicht was Liebe ist.
Ring der Frau schenken und so...! Emotionslos ist er in wirklichkeit...noch besser Keine emotionale Intelligenz!

So sollte es sein.

 

Gefällt mir wirklich gut. Kommt zweifelsohne zum Kern der Sache, ohne zu beschönen. Jeder Satz sitzt. Und außerdem noch toll geschrieben.

Anea

 

Auch mir gefällt dein Stil sehr gut, verdichtet die Athmosphäre automatisch. Allerdings sind auch mir einige KLischees bzw. die flachen Charaktere aufgefallen, aber bei der Kürze des Textes und dem doch sehr ungewöhnlichen Thema (Hab hier noch nichts derartiges gelesen) geht das mMn voll in Ordnung. Wer mehr will, soll Marquez usw. lesen ;)

"Sie liegt in einem der unzählig unbekannten Kellergewölbe"
Müsste "unzähligen" heißen.

Gruß
wolkenkind

 

Hallo Anea und Wokenkind, freut mich dass,der Stil gefällt, bzw. die Sätze sitzen.

Mit den Klischees bin ich mir nicht sicher, weiss nicht, was gemeint ist. Kann mir nur einiges denken.

Liebe grüsse an euch beide.

 

Hm, was die Klischees angeht, stört mich eigentlich vor allem die Stelle hier: "Dahinter verbirgt sich der Feind, ein Kommunist. Er tötet."
Ich kann mir zwar vorstellen, dass Folterknechte kalt und abgestumpft sind, aber ihre Gedanken so zu reduzieren halte ich doch zumindest für sehr gewagt, das liest sich wie das Klischee, das die Amis von den KZ Wärtern hatten. Die meisten machten den Job ja aus Bequemlichkeit, leichtes Geld usw., also nicht aus wirklicher Überzeugung oder Vaterlandsliebe.

In diese Richtung geht ja auch der Schlusssatz:„Egal, morgen fliegen wir sie mit den anderen zur Küste.“

 

So,

möcht jetzt nochmal ein wenig Senf zu diesem Text geben, hm...

Wolkenkind, der letzte Satz entspricht der Wirklichkeit. Es war in südamerikanischen Miltiärregimen gang und gäbe, daß man die getöteten Opfer mit Flugzeugen an weit entlegene Küsten verfrachtete und dort ins Meer warf oder in Massengräbern verscharrte. Da gibt es zahlreiche Belege für.

Oft ist es auch so, daß Folterer erotische Erregungen beim Foltern empfinden, das kann man auch in zahlreichen Dokumenten nachprüfen. Vor allem hat man in Südamerika nach Ende der Diktaturen den Versuch unternommen, eine Art Aufarbeitung der Geschehnisse zu beginnen. Befragungen von Opfern und Tätern, Bücher mit Biographien, etc. Erst jetzt kann man in Argentinien die Täter vor Gericht bringen.

Und in dieser Geschichte ist halt der Protagonist nicht einfach ein Mitläufer aus Bequemlichkeit, sondern einer, der Freude am Quälen anderer menschen hat. das gibt's und nicht selten.

Ich finde diese Geschichte durchaus den Tatsachen entsprechend. Meine Kritikpunkte siehe oben.

Vielleicht zwei Bücher zu dem Thema:

Hartweig Weber: Die opfer des Kolumbus, 500 Jahre Gewalt und Hoffnung

und Eduardo Galeano: die offenen Adern Lateinamerikas

Amnesty International hat unzählige Berichte dazu verfaßt, vielleicht haben die ein Archiv darüber...

 

Den letzten Satz hab ich ja auch gar nicht kritisiert :)
Nur die Stelle "Dahinter verbirgt sich der Feind, ein Kommunist. Er tötet." hört sich weder nach erotischen noch nach sadistischen Motiven an, das klingt nach Politik, und deshalb meine ich, dass das etwas aus der sonstigen Story fällt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Echnaton schrieb. Es gibt da nicht mehr viel hinzuzufügen.

Ich spreche in meiner Geschichte von einem Protagonisten, heisst auch, dass nicht alle so gewesen sein müssen.

Die Beschreibungen und das Aufzeigen eindeutig abnormer Verhaltensweisen dient dazu die Atmosphäre zu schaffen. Bzw. eine Emotion beim Leser zu, bzw. ein Nachdenken, zu erzeugen.

Noch einen Satz zum Kommunisten der tötet.

Es gab in Argentinien die Antikommunistische Allianz, solche geheimen Bündnisse gab es in vielen südamerikanischen Staaten. Demokraten, Intellektuelle, Studenten, die gegen das Militär waren, wurde als Kommunisten hingestellt und nachts von Banden, die inoffiziel für das Militär arbeiteten,entführt. Oft glaubten Teile des einfachen Volkes, die das Regime unterstützten, der Kommunist ist der Feind, der das Land in den Abgund stürzen will.

Liebe Grüsse Arche und danke Wolkenkind, dass du dich mit diesem Text auseinandergesetzt hast!!!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Stefan,

wie schön, dass es wieder etwas von dir zu lesen gibt! :)

Eine gruselige, sicher wahre und auf jeden Fall fesselnde Geschichte ist dir hier gelungen.
Besonders gut tritt die Grausamkeit und Gleichgültigkeit der beiden Folterknechte durch den Wechsel, mit dem du uns einmal das gequälte Mädchen und dann wieder die Gespräche und Gedanken der beiden Folterer betrachten läßt, zutage. So dicht beieinander - das Fußballspiel und der Grill, die tangotanzende Freundin und das verkohlte Fleisch.

Sehr gelungen! :)

Liebe Grüße
Barbara

 

Hei Barbara, vielen dank. Deine Worte sind dann letztendlich auch die Worte, die mich weiterschreiben lassen.

Anscheinend hast du es genauso empfunden, wie ich es vermitteln wollte.

Liebe Grüsse Stefan

 

Hallo Archetyp,

in kurzen Sätzen, wie Schlaglichter, kristallisiert durch stetige Steigerung ein Bild von Alltag und Gewalt, Gewalt als Alltag.
„Präsident General Videla wird die Tore schießen“ - ein treffendes Bild für absurden Allmachtsansprüche von Diktatoren, die sich immer am Rand der Lächerlichkeit bewegen...
Hat mir gefallen.

Müßte es nicht bei „hier bricht das Schweigen der Verschwundenen“ `hier wird das Schweigen der Verschwundenen gebrochen´ heißen?

Vielleicht willst Du noch in folgendes ändern:

Sie liegt in einem der unzählbaren, unbekannten Kellergewölben der Stadt - Plural wegen „ der unzählig“ (unzähligen).
Er reißt sich ...


Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Hei Wolto, richtig. Diktaturen geben sich, wenn es nicht so ernst wäre, immer der Lächerlichkeit preis. Diktatoren sind Karikaturen.

Schön, dass es gefallen hat. Werde eine Sache verbessern, danke!

Liebe grüsse Stefan

 

Lieber Arche!

Der Satz ist noch immer falsch, richtig heißt er: "Sie liegt in einem der unzähligen unbekannten Kellergewölbe der Stadt" - wobei ich "unzähligen" und "unbekannten" hintereinander nicht so gut finde, drum hab ich in meinem ersten Vorschlag "vielen" verwendet, was Dich vielleicht ein bisschen irritiert hat...? ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

"Der Satz ist noch immer falsch" - "der" andere auch...

Alles Gute,

Arche -

tschüß... Woltochinon

 

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