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Argentinischer Tango
Eisenbeschlagene Türen donnern. Stimmen hallen durch den Korridor und fangen sich in meiner Nische. Eine kleine Nische im Halbdunkel des Trakts, hier bricht das Schweigen der Verschwundenen. Sie liegt in einem der unzähligen unbekannten Kellergewölbe der großen Stadt, am Rio de la Plata.
Blanke Stiefel im zackigen Schritt marschieren den Korridor entlang.
Raúl und Alfonso, beide sehr begabt.
Ihr Gast läuft auf wunden Sohlen.
Raúl klopft meine Schulter, zwängt mich in seine Umarmung, küsst meine Wangen und lobt das Vaterland. Er hält mit ein paar Flaschen des feinen Sauvignon Blanc unter die Nase. Dazu stellt er Rosinenweißbrot und in Olivenöl getränkten Hirtensalat auf meinen kleinen Tisch.
„Die Subversiven sagen, Präsident Videla hat das Spiel verschoben. Ich war im Stadion, mein Freund. Wir haben die Peruaner zurück in ihre Anden geschossen, haben nun Holland im Endspiel!“
Alfonso redet wenig, er führt Befehle aus. Er hat ein junges Mädchen im Schlepp, ihr Schrei nach Freiheit ist schon verstummt.
Lebensenergie, die nur noch kriecht. Wie wohlgeformt ihre Brüste noch sind?
Ich löse das Seil um ihren schmalen Hals und stütze sie, ihre Beine geben nur noch wenig Halt. Sie ist recht hübsch.
Ich wünschte sie würde Nylons tragen, nur für mich. Für einen Moment berühre ich das helle Blau ihrer Augen, dringe ein … doch Vorsicht! Dahinter verbirgt sich der Feind, ein Kommunist. Er tötet.
Ich nehme ihre Hand, fühle das zarte weiche Fleisch, es ist ganz blass. Die Hände einer Märchenprinzessin, … Vorsicht!
Ich streife den Ring von ihrem Finger, Isabel wird er gefallen.
Das Mädchen lässt sich von mir zum Grill führen, bettelt nicht.
Raúl steckt die Kabel, prüft die Elektroden und leert eine Flasche vom blumigen Weißen in schnellen Zügen.
Er sabbert in Begeisterung.
„Ich war im Stadion. Kempes … Tor! Luque … Tor! Immer wieder, bum, bum, bum.“
Die Pflaster, die feine Drähte halten, haften nicht. Der Körper ist feucht, zuviel Adrenalin.
Alfonso besorgt ein Tuch und verwischt die Nässe.
Raúl wartet am Transformator, freudetrunken.
„Ich wette eintausend Pesos, mein Freund. Wir werden Weltmeister und Mario Kempes schiesst mindestens ein Tor!“
Ich halte nicht dagegen. Argentinien wird Weltmeister. Präsident General Videla wird die Tore schießen. Soll ich es ihm erzählen?
Alfonso stellt die Fragen.
Seine Technik ist ausgereift. Er erlernte sein Handwerk in uruguayischen Lagern, damals noch mit der Machete. Heutzutage erlaubt die Zivilisation feinere Methoden.
Mit therapeutischem Geschick, anatomischer Erfahrung und viel Fingerspitzengefühl, verhilft er den Verschwiegenen zur Redseligkeit.
Doch dieser Fisch bleibt stumm!
Alfonso gibt mir ein Zeichen, ein Fingerzeig, das reicht.
Meine Aufgabe ist lächerlich einfach, nur ein kleiner Dreh am Lautstärkeregler.
Im Radio hüpft ein Akkordeon, kratzig und zart. Dazu eine Violine, lebendig ihr Spiel.
Feine Klänge im Dialog. Schmerz und Temperament, so wunderschön.
Tango! Ich liebe den Tango, mag die Melancholie.
Abends führe ich Isabel zu den Rhythmen. Im Kerzenlicht erproben wir neue Figuren. Schnell verliere ich mich im hübschen Dunkel ihrer Augen und wir verfangen uns in Leidenschaft. Isabel!
Ich liebe sie.
Der Transformator surrt, die Lichter unter der gewölbten Decke flackern. Im Schattenspiel, auf weissen Wänden, das Gebärden der Kreatur.
Ein Knall, ganz plötzlich.
Der Grill funkt, als schraubten sich Hunderte von Feuerwerksraketen gleichzeitig in die Lüfte.
Stille!
Raúl grinst verlegen.
Alfonso flucht kurz, löst ihre Riemen und schubst den Körper von der Fläche.
Mit einem tiefen Seufzer, Ausdruck der Verzweiflung, lässt er sich auf den kleinen Hocker fallen. Er reißt er sich ein riesiges Stück Weißbrot aus dem Laib, lässt den Sauvignon durch seine Kehle laufen und starrt auf das verbrannte Fleisch.
„Egal, morgen fliegen wir sie mit den anderen zur Küste.“