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Archimbaldo
Die umwerfende Kate mit Slawengesicht und Flachshaar und noch einigen Vorzügen, für deren Aufzählung hier der Platz fehlt, habe ich vor zwei Jahren bei einer Tischfußballmeisterschaft kennen gelernt und bin ihr von Tag an verfallen, mit Haut und Haaren, mit allen Gefühlen und meinem bisschen Verstand. Ich bin irr und wirr im Kopf vor Glück, befinde mich also in - für total Verliebte - völliger Normalität und bin sogar noch teilweise bei Sinnen! Und teilweise nicht: Ich habe keinen Schimmer, auf welche Weise wir hier gelandet sind. Immer nur Kate habe ich angeschaut, immer nur Kate. Flugpläne, Rolltreppen, Gates, Tickets, das alles konnte meine Aufmerksamkeit nicht fesseln – das konnte nur Kate.
Wir sind im Süden. Soviel Sonne über Meer und Strand und Land! Heiß ist es, zum Verrücktwerden heiß.
Wir fahren von den schön modellierten Hügeln zum Meer. Die geballte Hitze der Stadt mit ihren Wärmespeichern aus Mauerwerk bleibt zurück. Ob dieser gleißende Streifen weit vor uns schon das Meer oder immer noch Sand ist, werden wir herausfinden, doch es werden noch viele Meilen sein. Es kommt eine leichte Brise auf, wir können wieder atmen.
Wir rasen nicht. Diese schöne Zeit wollen wir ausgiebig und genussvoll erleben. Alles ist perfekt. Wir lieben uns. Dieses Licht, dieses funkelnde Wasser symbolisieren das Leben. Das Leben, wie wir es uns vorstellen.
Palmen strecken sich dem Licht entgegen, weit über die Grenze zwischen Goldsand und Türkiswasser. Es liegen Muscheln herum, wie sie ein crèateur de porcelain nicht verwegener hätte entwerfen können. Weiß schimmernd oder rosamilchig wie Mondstein - unschuldig, doch aus welchen Gründen auch immer vom Meer ausgespien. Andere mit Scharten und Narben erzählen von der Heftigkeit der Kämpfe unter der Meeresoberfläche. Und hölzerne Schiffsteile berichten von anderen schlimmen Geschehnissen.
Wir können nicht genug bekommen vom Seidensand und vom so ganz anderen Wasser, das uns glitzernd und schwerelos aufnimmt, als ob wir immer schon dazu gehörten.
Wir schnorcheln auf verschlungenen Wegen um mächtige Hirnkorallen, halbrund mit magischer Aura, erinnernd an archaische Rechenmaschinen mit tausend Windungen, Speichern und Geheimnissen. Naturwunder, die uns glauben machen wollen, tatsächlich denken und rechnen zu können.
Wir passieren Hirschhornkorallen, die aussehen wie übereinander gestapelte Jagdtrophäen, erblicken psychedelische Fische und Seeanemonen, die uns mit ihren wedelnden Tentakeln grüßen und willkommen heißen. Das Zauberwasser hält uns in der Schwebe, wir können nicht sinken. Was wir sehen, ist unglaublich schön. Die Farben der Tropen – schrill, verschwenderisch und schreiend bunt wie die Hütten der Armen oder die Cocktails der Reichen. Abenteuerliche Zusammenstellungen aus signalroter Grenadine, giftgrüner Menta, Zitronengelb und blauem Curaçao.
Dann aber verlangt unsere gesalzene Haut nach Süßwasser, unsere Kehle auch.
Der Magen morst Hunger und wir fahren zurück - zu den erquickenden Duschen und klimatisierten Restaurants.
Eine abrupte Vollbremsung. Der Wagen schlingert, kommt aber im lockeren Sand sofort zum Stehen.
Hunde - verwilderte Hunde – ein ganzes Rudel. Eine echte Notgemeinschaft!
Geschätzte zwei Dutzend in allen erdenklichen Größen und Farben, mit spitzen, runden und dreieckigen Köpfen. Zweien von ihnen fehlt eine Pfote, andere haben lediglich noch ein Ohr.
Und es gibt den Anführer mit nur einem erkennbar funktionierenden Auge. Das ist ein Typ, den man unter Tausenden wiedererkennen würde. Kurzes helles Fell mit schwarzen Schriftzeichen, groß und stämmig, kampferprobt.
Seinem linken Auge ist etwas Böses widerfahren. Der Blick ist deshalb unstet und wirkt heimtückisch. Der wilde Haufen umlagert uns, beäugt uns.
Erschreckend mager sind sie, fast durchstechen die Rippen das Fell. Seltsame Gedanken kommen auf. Ob sie in schlimmster Not...?
Tage später folgen wir unserer Gier nach den schönsten Muscheln, die das Meer je freigegeben hat – und hol’s der Teufel – die Hundemeute ist wieder auf Tournee!
Der Anführer hingegen, der Chefpirat, ist nicht präsent. Merkwürdig. Doch nicht merkwürdig genug, als dass wir uns viele Gedanken machten. Wir finden unsere Guggenheimmuscheln und Daliexemplare, schnüren den Beutel zu und überlegen, ob das schon genug Dekoration für eine karibische Cocktailbar wäre, die wir in naher Zukunft eröffnen könnten.
Wir fahren eine Ehrenrunde über den Endlosstrand.
Im heißen Sand nehmen wir ein lebloses Bündel wahr.
Es ist der Pirat, der Chef, der große Zampano! Dieser Preisboxer liegt jetzt danieder und macht gerade seinen letzten Schnaufer. Wir halten und nähern uns vorsichtig. Das gesunde Auge ist halbgeschlossen, die Atmung flach und viel zu schnell. Entsetzlich abgemagert ist der arme Kerl. Gegen die Fliegen um sein Maul herum kann er sich nicht mehr wehren. Er wird sich auch seiner schönsten Triumphe nicht mehr erinnern können - Siege über andere Bandenchefs, Nebenbuhler, Rivalen. Blutige Siege, der Beute wegen. Und an den seltenen Tagen, an denen der Magen nicht knurrte, auch nur des Ruhmes und der Selbstbestätigung wegen. Sein Rudel sollte wissen, dass er der Massimo ist.
Doch das war einmal. Weinen ist hier angesagt beim Anblick dieser jämmerlichen Kreatur. Noch ein paar Minuten und er hat’s hinter sich. Schaum hat er vorm Maul. Dort erkenne ich die Ursache des Debakels: Ein breiter Knochen sitzt in seiner oberen Zahnreihe quer, unabänderlich, festgebissen. Er hat resigniert.
Der Tod wird gnädigerweise alles ungeschehen machen, die Aufritte auf zahllosen willigen, zur Paarung bereiten Hündinnen, die Erinnerung an fette Mahlzeiten, als er alles in sich hineinschlang, weil er der Alpha war.
Und jetzt stirbt er.
Mit einem herumliegenden Stück Holz breche ich ihm diesen vermaledeiten Knochen aus seinem Menschenfressergebiss.
Die Zeit scheint für einen Augenblick stillzustehen. Er kann es nicht glauben und ich auch nicht. Unsere Blicke treffen sich - aber keineswegs böse oder lauernd. Erstaunlich offen schauen wir uns an, beinahe interessiert.
Das brauchte dann schon seine Zeit, bis er wieder auf den Beinen war, ohne zu wanken und zu schaukeln. Gleich nach seiner Befreiung vom fast tödlichen Knochen flößten wir ihm Wasser ein, danach etwas aus unserer Kühlbox, doch das erbrach er wieder. Und so fingen wir mit Babykost und Breichen wieder ganz von vorne an. Am vierten Tag fraß er aus eigener Kraft und mit neuem Appetit. Bis dahin war es uns auch gelungen, sein Piratenjackett zu entfilzen und durch Striegeln und Bürsten zu neuem Glanz zu bringen. Glücklicherweise konnte ein guter Tierarzt das Problem mit dem verletzten Auge lösen.
Und jetzt schaut er ganz passabel aus - der ‚Herr Archimbaldo’.
Keine Ahnung, warum ich ihn so nenne, aber mein Bauch weiß es. Ich achte ihn halt, denn als Chef dieser bunten Truppe hat er Ordentliches geleistet. Da war professionelles Management gefragt, Übersicht und Kraft.
Wenn wir nach der Hitze des Tages unseren Abendspaziergang machen und er uns stolz und gravitätisch begleitet, dann erkenne ich seine Würde, seinen Adel. Wir gehen diese großartige Allee entlang. Unter den hundertjährigen Platanen nimmt alles eine feierliche, intensive und sinnliche Bedeutung an. Auf dieser Bühne zeigen wir der Welt, was Stil bedeutet. Und wir hoffen natürlich, dass wir ein wenig bewundert werden.