- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 23
Aquaphobie
In meinen Studienjahren in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bewohnten mein Bruder und ich eine Souterrainwohnung unweit des Stadtparks. Thomas und ich hatten das Haus geerbt und führten mit Hilfe der Mieteinnahmen ein angenehmes Leben. Im Gegensatz zu mir nahm Thomas sein Studium nicht besonders ernst. Er bevorzugte es stattdessen, durch die Weltgeschichte zu reisen. Ich genoss die Vorteile seiner häufigen Abwesenheit genauso, wie mir die wenigen Monate seiner Anwesenheit behagten.
An dem Tag der Ereignisse, die ich zu schildern versuche, war mein Bruder gerade von einer langen Reise zurückgekommen.
Es war ein drückend heißer Sommertag. Niemand, der nicht unbedingt musste, verließ freiwillig das Haus. Die Straßen wirkten wie ausgestorben. Wir machten uns auf den Weg, ein paar Flaschen Wein zu besorgen, um auf unser Wiedersehen anzustoßen. Auf dem Rückweg gerieten wir in ein heraufziehendes Gewitter und flüchteten in das Haus eines Freundes, gerade noch rechtzeitig, bevor ein Wolkenbruch auf die Stadt niederging, ein nicht enden wollendes Unwetter mit Sturm und Hagel und stundenlangem sintflutartigen Regen.
In der Wohnung unseres Freundes feierten wir, bis wir alle sturzbetrunken waren. Uns wurde angeboten, dort zu übernachten, aber Thomas wurde von einer seltsamen Unruhe erfasst, die er nicht erklären konnte. Er wollte nach Hause. All unsere Versuche, ihn zum Bleiben zu bewegen, schlugen fehl. Schließlich gaben wir auf, weil er eine Beharrlichkeit an den Tag legte, die uns an ihm völlig fremd war.
Der Regen hatte aufgehört. Heruntergefallene Äste und Dachziegel lagen auf überschwemmten Straßen.
Die schwüle Luft lag schwer auf unseren vom Alkohol benebelten Sinnen.
Als wir in unsere Straße einbogen, fiel mir auf, dass die Straßenbeleuchtung ausgefallen war.
Nur ein blasser Mond schien durch die Wolkenfetzen am Himmel.
Unser Haus lag fast völlig im Dunkeln, zusätzlich beschattet von großen Bäumen am Straßenrand.
Die Gartenpforte stand offen. Die Kieselsteine auf dem Weg zum Seiteneingang knirschten unter unseren Füßen. Vor der Tür blieb Thomas stehen und suchte nach seinem Schlüssel. Dann öffnete er und tastete nach dem Lichtschalter. Es klickte. Aber es gab kein Licht.
Vorsichtig trat Thomas durch die Tür auf die erste Stufe der steilen Treppe, die in unsere Wohnung hinab führte. Ein Geländer gab es nicht. Thomas stieg langsam in die Dunkelheit, die ihn verschluckte. Nach drei oder vier Stufen konnte ich ihn nicht mehr sehen.
Ich folgte ihm. Kälte schlug mir entgegen. Und ein unbekannter, beißender Geruch.
Thomas atmete flach. Ich konnte ihn kaum hören, spürte aber, dass er direkt vor mir stand.
Noch eine Stufe. Und noch eine. Dann prallte er zurück, stieß mit seinem Kopf gegen meine Brust. „Was?“, fragte ich atemlos. Aber eine Antwort war nicht erforderlich. Ich hatte das Platschen gehört.
Das Wasser stand knietief in der Wohnung. Ich watete orientierungslos durch die Dunkelheit, stieß gegen Möbelstücke, gegen die Deckenlampe, gegen einen Türrahmen. Trotz der Kälte lief mir der Schweiß von der Stirn und mein Hemd klebte an meinem Rücken.
Hinter mir hörte ich das vertraute Geräusch eines angerissenen Streichholzes, eine kleine Flamme erhellte den Raum. Mein Körper warf einen diffusen Schatten auf die geschlossene Küchentür.
Ich drehte mich um. Mein Bruder stand an dem kleinen Tisch in der Diele und entzündete die Kerzen an einem fünfarmigen Leuchter. Dann hob er den Daumen und grinste mich an.
Er reichte mir den Leuchter, nachdem er eine einzelne Kerze herausgenommen hatte, und ging in den hinteren Teil der Wohnung, in dem sich sein Zimmer befand. Ich blieb allein in der Diele und sammelte den Mut zusammen, den ich brauchte, um den Schaden in meinem Zimmer zu begutachten. Ich öffnete die Tür gegen den Widerstand des Wassers und fand, was ich erwartet hatte. Meine Semesterarbeit, die ich am Morgen achtlos auf dem Boden hatte liegen lassen, schwamm als weißer Teppich auf der Wasseroberfläche.
Dann hörte ich ihn rufen. Es klang fremd. Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich mein Bruder war, der mich rief. Ich lauschte. Dann hörte ich es wieder. Thomas rief nach mir. Seine Stimme machte mir Angst. Etwas raschelte, huschte über die Schreibtischplatte. Eine Ratte möglicherweise. Ich stürzte aus dem Zimmer zurück in die Diele.
Ein Luftzug löschte meine Kerzen. Es war wieder dunkel.
Nur am Ende des Flurs fiel ein schwacher Lichtschein aus dem Zimmer und spiegelte sich in dem Wasser, das im Gang stand. Ich machte mich auf den Weg. Mit jedem Schritt wurde es kälter.
Thomas stand mit dem Rücken zum Spiegel, der das Licht einer Sturmlaterne ins Zimmer zurückwarf und es hell erleuchtete.
Vor ihm stand ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid, das schwer vom Wasser an seinem ausgemergelten Körper klebte. Seine verfilzten Haare umrahmten ein tränenverschmiertes Gesicht. Mit bohrenden Augen sah es Thomas an und streckte eine Hand nach ihm aus. Obwohl es seine Lippen nicht bewegte, konnte ich seine Stimme in meinem Kopf hören: „Ich habe auf dich gewartet. Du hast gesagt, du kommst mich holen“, sagte es.
„Es tut mir leid“, antwortete mein Bruder kaum hörbar.
„Wo kommst du her?“, fragte ich. Das Mädchen drehte sich um. „Er hat mich dort eingesperrt. Er hat gesagt, es wäre ein Spiel. Aber er ist nie wieder zurückgekommen.“, flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Das Mädchen zeigte auf ein Loch in der Wand.
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich kannte das Mädchen.
Wir hatten als Kinder zusammen gespielt. In den Ferien, bei den Großeltern.
Den ganzen Sommer waren wir unzertrennlich gewesen.
Dann hatte Thomas diesen schrecklichen Unfall, lag monatelang im Krankenhaus.
Wir haben erst viel später erfahren, dass sie verschwunden war.
Ich wusste nichts von dem Keller.
Ich hätte doch nie…
Wir waren doch Kinder.
Thomas ging auf das Mädchen zu. Er sprach sehr leise, fast beschwörend: „Es tut mir leid! Ich konnte nicht zurückkommen.“
„Du lügst!“, schrie die Stimme des Mädchens.
Die Temperatur sank ins bodenlose.
Auf dem Wasser bildete sich Eis.
Alles war von glitzerndem Reif überzogen.
Das Mädchen wich zurück als schwebte es.
„Warte!“, rief Thomas atemlos. „Warte, Kleines! Es tut mir leid! Ich konnte nicht zurück kommen. Es tut mir leid!“
Er stolperte, fand keinen Halt und fiel.
In der Sekunde, in der das Wasser über ihm zusammenschlug, schloss sich die Eisdecke.
Ich konnte ihn schreien hören. Ich sah seine weit aufgerissenen Augen. Sah seine Fäuste, die gegen das Eis schlugen.
„So hilf ihm doch!“ schrie ich das Mädchen an.
„Ich kann nicht. Mir ist so kalt.“ flüsterte die Stimme in meinem Kopf.
Ich erinnere mich noch, dass ich mit dem Leuchter auf das Eis einschlug, um mich zu befreien.
Sie fanden mich auf der Treppe.
In der Zeitung war zu lesen, dass in dieser Nacht ein betrunkener Student in seiner überfluteten Kellerwohnung ertrunken sei. Desweiteren war zu lesen, dass in der selben Wohnung, wahrscheinlich als Folge des Wassereinbruchs, eine Wand eingestürzt sei, hinter der man die mumifizierte Leiche eines Kindes gefunden habe.
Ein Freund brachte mir die Zeitung in die Klinik, in der ich mich seitdem befinde.
Ich lese sie jeden Tag.