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Aprikose Erna will nicht alleine sein
Vor langer Zeit stand in einem Obstgarten ein Aprikosenbaum, der viele Früchte trug. Eine davon hieß Erna. Sie war kleiner als ihr Schwestern und wuchs weit oben an einem Zweig, liebte die Sonne, ließ sich vom Wind schaukeln und trank den Regen, der in den heißen Sommermonaten selten war.
»Mama, erzähl uns eine Geschichte!«, bat Erna den Aprikosenbaum. Und Mama erzählte vom Wind, vom Regen, von Vögeln und von dem Land hinter dem nächsten Hügel.
Eines Tages kam der Bauer in den Garten, auf dem Kopf trug er einen Strohhut gegen die Sonne. Er breitete ein Netz aus und rüttelte am Baum.
»Ich fliege!«, rief Erna, als sie mit vielen anderen herunter ins Netz fiel. Auf dem Bauernhof nahm sie der Bauer mit seinen von der Feldarbeit rauen Fingern aus dem Netz und wusch sie in klarem Wasser. Gemeinsam mit ihren Schwestern reiste sie in in einer Obstkiste in einen großen Supermarkt. Wie viele Leute es dort gab! Alle kauften etwas, schoben schwere Einkaufswägen vor sich her. Und Erna wünschte sich, dass sie bei einer Familie landete, bei kleinen Kindern und vielleicht gab dort sogar einen Hund.
Nach und nach wurden alle ihre Schwestern in Einkaufskörbe gelegt - nur sie alleine blieb übrig.
»Bin ich zu klein?«, fragte sie sich traurig. Eine Schwester nach der anderen verabschiedete sich von ihr und wünschte ihr viel Glück.
Dann, es war schon spät am Abend, kam ein Kind vorbei, ein kleines Mädchen mit einer roten Haarspange. Das Mädchen sah Erna und rief seiner Mutter zu: »Mama, Mama, ich will eine Aprikose haben!«
Die Mutter hatte wenig Zeit, und weil das Mädchen mit der Haarspange so quängelte, kaufte sie Erna. Wie glücklich die kleine Aprikose war! Das war es, was sie sich gewünscht hatte.
Im Einkaufskorb ging es nach Hause, und dort legte sie die Mutter in einen Obstkorb zusammen mit einer Orange und einer Banane. Jeden Tag wartete die Aprikose nun darauf, dass das Mädchen zu ihr kommen würde. Aber das geschah nicht. »Sicher wird sie mich morgen herausnehmen!«, dachte sie. Doch irgendwann bemerkte sie ein Kitzeln im Rücken.
»Du schimmelst!«, sagte die krumme Banane.
»Tu ich überhaupt nicht!«, antwortete Erna. Aber sicher war sie sich nicht.
Ein paar Tage später ging das Mädchen mit der roten Spange in die Küche, lächelte, und nahm Erna aus dem Korb. Aber als sie sie umdrehte, verzog sie das Gesicht. »Mama, Mama, komm schnell!«
Als Mama kam, nahm sie Erna mit spitzen Fingern in die Hand. »Die ist verschimmelt, tut mir leid. Wir kaufen eine neue, ja?« Das Mädchen nickte traurig und ging dann aus der Küche.
Aber wie traurig erst Erna war! Die Mutter warf sie in den Müll. Da lag sie nun, neben einem verschimmelten, sauren Apfel und den Kartoffelschalen vom Mittagessen. Und weinte, und weinte. Das war nicht, was sie wollte.
Später wurde sie in einem großen Müllwagen, in dem es ganz furchtbar stank, davongefahren und auf eine Müllkippe geschüttet.
»Das ist also das Ende«, dachte Erna. Das Kitzeln an ihrem Rücken war immer stärker geworden und sie bemerkte nun selbst, dass sie schimmelte. Dabei wollte sie doch bei der Familie bleiben. Schließlich schloss sie die Augen und weinte.
Später flog eine Krähe vorbei und pickte sie vom Müllhaufen auf. Trug sie hoch in den Himmel, und die Aussicht da oben wäre atemberaubend gewesen, wenn Erna sich nicht zu sehr gefürchtet hätte, um das zu bemerken. Doch dann kam ein Bussard und die Krähe bekam Angst vor dem großen Vogel und ließ Erna fallen. Und Erna fiel! Sie spürte die kalte Luft an sich vorbeiziehen und die Baumkronen des Waldes kamen schnell näher. Plötzlich streifte sie schon die Blätter der Bäume und hüpfte von Ast zu Ast. Schließlich landete sie weich in einem Kissen aus Moos auf einer kleinen Lichtung. Und dort lag sie nun, war traurig und alleine. Jetzt, so dachte sie, war wirklich alles vorbei. Am Abend wurde es dunkel und kalt. Erna machte die Augen zu und weinte. Nach einer Weile fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Viele Tage vergingen. Und aus Tagen wurden Monate, mit dem Herbst kam der Regen und bald der erste Schnee.
Erna war nun keine Aprikose mehr, nur noch der harte, bittere Kern war übrig geblieben. Immernoch schlief sie tief und fest und träumte von von ihren Schwestern und dem Mädchen mit der roten Haarspange.
Aber als im Frühling der Schnee schmolz und die ersten Sonnenstrahlen auf ihr kitzelten, erwachte sie und spürte etwas, ganz tief. Sie wusste nicht, was das bedeutete. Doch nach ein paar Tagen knackte die Schale und ein kleines Blatt reckte sich der Sonne entgegen. Feine Wurzeln drückten sich tief in die weiche Erde hinein und gaben ihr Halt.
Die Jahre vergingen und bald war aus Erna ein stattliches, kleines Aprikosenbäumchen geworden. Aus ihren kleinen Blüten wuchsen Aprikosen und es war niemals still um sie.
»Mama«, riefen die kleinen Früchte. »Erzähl uns eine Geschichte!« Und Erna erzählte vom Wind, vom Regen, von Vögeln und von dem Garten hinter dem nächsten Hügel.