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Apple Tree

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21.06.2001
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Apple Tree

Die Nadel an der Tankuhr zeigte auf Null. Sie war nicht mehr im roten Bereich und schon gar nicht knapp darüber, sie war eindeutig auf Null. Als Peter es bemerkte, richtete er sich ein wenig erschrocken in seinem Fahrersitz auf, und sah abwechselnd auf die nächtliche Straße und die Tankuhr. Er hatte doch getankt, gut, es war zwar schon ein paar Tage her, aber er war doch nicht sehr viel gefahren. Die Anzeige konnte nicht stimmen. Wie lange war das jetzt her? Wann war es noch mal...? Montag? Ja, Montag muß es gewesen sein, da war er doch nach der Arbeit... es musste Montag gewesen sein. Die paar Tage, das war doch nicht möglich.
Peter klopfte gegen die Anzeige. Die Nadel bewegte sich nicht, lag wie festgeschweißt am unteren Rand des roten Feldes. Die Musik aus dem Autoradio war plötzlich viel zu laut. Genervt stellte er es ab und klopfte wieder gegen die Anzeige. Nichts. Verstört sah er auf die Uhr. Halb eins, tiefste Nacht, er hier allein mitten im Wald und bis nach Hause waren es noch gute zehn Kilometer. Niemals würde er es schafften. Er klopfte gegen die Anzeige. Wieder nichts. Aber er hatte doch getankt. Am Montag. Er war mit seinem Arbeitskollegen noch etwas trinken gewesen, da hatte er doch so beiläufig gesagt: "Muss nachher noch tanken." Er hatte es gesagt, und getan hatte er es auch. Ganz sicher. Es war Montag gewesen, ganz sicher Montag. Er klopfte auf die Anzeige, diesmal fester, viel fester. Nichts. Wie konnte das Scheißding leer sein, es war doch am Montag gewesen, nur ein paar Tage, nur die paar beschissenen Tage. Peter klopfte gegen die Anzeige. Noch länger und fester als zuvor, nichts. Mit einem wütenden Seufzer lehnte er sich zurück. Es konnte nicht sein, er hatte es nicht vergessen. Er war doch danach noch zur Tankstelle gefahren. Ganz sicher. Er wusste doch, was er getan hatte. Er klopfte gegen die Anzeige, schlug dann wütend mit der Hand gegen das Lenkrad und fluchte. Nein, ganz bestimmt hatte er es nicht vergessen. Nichts hatte er vergessen. Da war doch der Tankwart gewesen, der ihn in ein Gespräch verwickeln wollte. Es hatte geregnet. Ja genau, geregnet in Strömen, und der Tankwart hatte sich über darüber beklagt. Also musste es stimmten. Es war Montag gewesen, Montag, als es geregnet hatte. Er klopfte gegen die Anzeige und trat fast gleichzeitig auf die Bremse. Leise fluchend stellte er den Motor ab, stieg aus und schlug die Tür zu.
Die Nacht war schwül. Ab und zu leuchtete der Himmel schwach auf. Wetterleuchten. Irgendwo in der Ferne tobte sich ein Gewitter aus. Mit Sicherheit würde es heute nacht auch hierher kommen. Im Licht der Scheinwerfer tanzten Mücken und manchmal raschelte es in der leeren Finsternis des Waldes. Peter stieg wieder in den Wagen und legte den Kopf auf das Lenkrad. Teilnahmslos lugte er auf die Tankuhr, die sich nun direkt vor seinen Augen befand. Du hast es nicht vergessen, nicht diesmal. Du hast alles richtig gemacht. Die Gedanken kreisten endlos in seinem Kopf. Er spürte wie seine Hand wieder gegen die Anzeige klopfen wollte und zwang sich sie unten zu lassen. Das wird nichts ändern... null, nada, niente. Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch, dass hatte bis jetzt immer geholfen, wenigstens ein bisschen.
In seinen Gedanken war es Mai.
"Apple Tree heißt Apfelbaum und Hill ist der Hügel."
Wie wenig man doch vergisst, sogar nach all den vielen Jahren - und gerade jetzt fällt einem so was wieder ein. Peter kicherte.
"Apple Tree, der Apfelbaum. Hill, der Hügel."
Es war im Mai gewesen. Er hatte keine Ahnung warum er das noch wußte, aber es war im Mai gewesen, Ende Mai. Die letzten Tage vor Schulschluss. Draußen war es an diesem Tag so schön, blauer Himmel, einer der ersten heißen Frühsommertage. Vor ihm lag das Vokabelheft. Linke Spalte Englisch, rechte Spalte Deutsch, Trennlinie genau mittig, Überschrift in Farbe, die Buchstaben gerade und ebenmäßig. Er lernte, hatte sich knapp dreißig Wörter bereits fünfmal in Gedanken aufgesagt. Er kannte sie auswendig, schon nach dem dritten Mal hatte er sie alle gewusst, aber er musste weitermachen. Nur zu wissen, war oft zuwenig. Er wollte gerade mit dem sechsten Durchgang beginnen, als er hörte wie unten die Eingangstür geöffnet wurde. Hastig blätterte eine Seite nach vor, deckte nervös die linke Spalte mit einem Blatt Papier ab und begann von vorn. Es dauerte kaum eine Minute bis sein Vater ins Zimmer kam. Alles was ihn davon abhielt, sofort in sein Zimmer zu kommen, war, wenn er den Mantel auszog und die Arbeitstasche in die Ecke stellte. Sein Gesicht war ernst. Ernst war es eigentlich immer, aber an diesem Tag...
"Hausaufgaben gemacht?"
Sein Stimme klang kalt und schneidend, die Frage schien wie ein Befehl, und Peter duckte sich unmerklich in seinen Sessel hinein.
"Ja", antwortete er kleinlaut.
"Gib das heft her!"
Sein Blick war so seltsam leer gewesen an diesem Tag. So, als ob er irgendwo anders wäre. Nur die Kälte in seinen Augen, die war immer noch da.
Es lief gut. Kühl und mechanisch ging sein Vater die Liste der deutschen Wörter durch, und er antwortete genauso mechanisch in Englisch. Etwa nach der Hälfte stellte sich beim sogar so etwas wie Zufriedenheit ein. Fünfmal war doch genug gewesen, er hatte plötzlich das sichere Gefühl auch den Rest zu schafften. Ein Wort nach dem anderen folgte, und seine Antworten kamen prompt und ohne Nachdenken.
"Hügel?"
Peter wollte bereits antworten, doch da war nur mehr das ‚H'. Er wusste nur mehr, die Antwort musste mit ‚H' beginnen. Die verschiedensten Möglichkeiten ratterten durch seinen Kopf. Hilk, Halg.... ohne Ende tauchten unsinnige Wörter auf und verschwanden wieder, aber keines war das Richtige, und das war das einzige, was er wusste. Keines war richtig! Und dann geschah, was er befürchtet hatte. Der abwesende Blick seines Vaters verschwand und wurde mit einem Mal stechend und bedrohlich. Es schien so, als wäre er irgendwie... zurückgekehrt.
"Hügel?" wiederholte er, und seine Stimme war laut und lauernd.
"Hi...Hi...", stammelte Peter.
Sein Herz raste.
"Hill", sagte sein Vater, und es klang nicht wie eine Antwort, sondern wie ein Vorwurf - oder ein Warnung.
Er spürte den lauernden Blick auf seinem Körper und sah bedrückt zu Boden.
"Apfelbaum?"
Und plötzlich war da gar nichts mehr, die Wörter wie weggewischt, eine weiße Wand, wo es vorher noch Muster und Struktur gegeben hatte. Nicht die geringste Spur einer Antwort, nicht einmal eine solche, von der er wusste, dass sie nicht stimmen würde. Peter wagte es nicht seinen Vater anzusehen, starrte weiter wie gebannt zu Boden.
Die Ohrfeige riss ihn von seinem Sessel, schleuderte ihn zur Seite und er landete neben dem Bett. Geschockt starrte er an die Decke und griff mit einer Hand an seine rechte Wange. Im nächsten Moment wurde er hochgerissen, und für einen kurzen Augenblick sah er tief in diese wutentbrannten Augen, die sich direkt vor ihm befanden. Der zweite Schlag traf ihn auf die linke Wange, härter noch als der erste. Er fiel zurück aufs Bett, wo er zitternd versuchte sich von ihm wegzudrehen und seinen Kopf mit den Händen zu bedecken. Fast beiläufig nahm er die Schritte wahr, die sich von ihm entfernten und das Geräusch der Tür, als sie geschlossen wurde. Erst als sich er sich sicher war, das sein Vater nach unten gegangen war, begann er zu weinen.
"Apfelbaum und Hügel, Apfelbaum und Hügel..."
Peter kicherte, als er die Worte leise vor sich hinmurmelte. Vor ihm leuchteten die Anzeigen des Armaturenbretts. Das Verlangen sinnlos gegen die Tankuhr zu klopfen war völlig verschwunden. Wenigstens etwas Gutes heute, dachte Peter. Mit dem Handrücken wischte er sich eine Träne von der Wange. Aus den Augenwinkeln bemerkte er den fahlen Lichtstreifen, der langsam über das Armaturenbrett wanderte. In der nächsten Sekunde wurde es hell. Erschrocken richtete sich Peter auf und sah in den Rückspiegel. Ein Auto näherte sich. Die gleißenden Scheinwerfer schienen den ganzen Rückspiegel auszufüllen. Geblendet schloss Peter die Augen, aber das Licht blieb, flutete in merkwürdigen Spiralen durch seinen Kopf und änderte dabei ständig die Farbe. Hastig drehte er den Wagenschlüssel, und sah durch die Heckscheibe nach hinten. Das andere Auto war keine hundert Meter mehr von ihm entfernt - und es wurde langsamer. Der Motor hustete. Ein zweiter Versuch, keine fünfzig Meter mehr. Der Motor ächzte kläglich.
"Bitte!!", flehte Peter. "Bitte, nur mehr die paar Kilometer. BITTE!"
Verzweifelt schluchzend drehte er den Schlüssel immer wieder, aber mit jedem Mal wurde das Stottern des Motors ein wenig kraftloser. Das andere Auto hatte hinter ihm gehalten. Peter gab seine sinnlosen Versuche auf, hielt für einen kurzen Moment inne, holte tief Luft und stieg dann aus.
"Hallo!" rief er seinem Vater zu, der gerade die Wagentür hinter sich schloss.
"Hallo. Was ist denn los? Warum stehst du da?"
Unauffällig tastete Peter an seine rechte Hosentasche und fühlte voller Zufriedenheit das Messer durch den Stoff. Er trug es seit zwei Monaten heimlich bei sich, seit er immer wieder diese Männer sah, die ihn beobachteten. Morgens, wenn er zur Arbeit fuhr, beim Einkaufen, wenn er mit dem Hund spazieren ging - sie waren überall, es waren immer andere, und sie beobachteten ihn.
"Kein Benzin mehr", sagte Peter knapp.
"Kein Benzin mehr?" wiederholte sein Vater überrascht. "Ist ja eine schöne Scheiße, hier draussen, mitten in der Nacht."
"Ja, kann man so sagen. Fährst du mich nach Hause?"
"Ja, komm steig ein!"
Sein Vater machte eine einladende Handbewegung. Peter ging auf ihn zu und seine rechte Hand wanderte in die Hosentasche, und die Finger schlossen sich fest um den Messergriff.
"Hast du zuhause einen Reservekanister oder so was?" fragte sein Vater. Peter stand jetzt neben ihm.
"Du kannst den Wagen nicht die ganze Nacht hier so stehen lassen."
Peter antwortete nichts, sondern zog blitzartig das Messer aus der Tasche, drückte auf den kleinen Knopf und ließ die Klinge hervorspringen. Er hatte diese Bewegung einstudiert. Wenn seine Frau nicht da war, hatte er alleine vor dem Spiegel gestanden und diesen Ablauf immer wieder wiederholt. Du musst vorbereitet sein, hatte er sich nach jedem Versuch gesagt. Und jetzt war er vorbereitet.
Peter stieß seinem Vater das Messer in den Bauch. Mit starren großen Augen und einem seltsamen Keuchen sackte sein Vater auf die Knie. Peter zog das Messer wieder heraus. Sein Vater starrte auf seinen Bauch und begann zu laut zu winseln, so als wollte er etwas sagen, aber die Worte waren nicht zu verstehen. Mit einem gezielten Tritt gegen die Brust schleuderte ihn Peter nach hinten, dann kniete er sich neben ihn und stach erneut zu. Und noch einmal. Sein Vater schrie, aber das Schreien wurde nur zu einem lauten Röcheln. Seine Augen starrten Peter entsetzt an. Peter rannte zum Auto seines Vaters, öffnete die Beifahrertür und warf das Messer auf den Rücksitz. Dann lief er zurück, packte seinen Vater unter den Armen, schleifte ihn zum Auto und packte den röchelnden Körper auf den Beifahrersitz. Er warf die Wagentür zu und ging zu seinem Wagen, wo er den Kofferraum öffnete. Er nahm den vollen Benzinkanister heraus, ging damit zurück zum Auto seines vaters und packte den Kanister auf den Rücksitz. Dann setzte er sich ans Steuer. Sein Vater hing gekrümmt im Beifahrersitz, ein riesiger roter Fleck breitete sich auf dem weißen Hemd aus. Peter sah ihn an und grinste:
"Siehst du, ich weiß, dass ich Montag noch getankt habe."
Sein Vater begann wieder auf diese seltsame Art zu winseln, und Peter glaubte seinen Namen heraushören zu können. Er achtete nicht darauf, sondern fuhr los, wendete den Wagen und bog nach hundert Metern in den kleinen Feldweg ein, an dem er jeden Tag vorbeikam, wenn er zu seiner Arbeit fuhr. Nach einem halben Kilometer erreichte er die kleine Lichtung. Peter stoppte den Wagen und stellte den Motor aus. Sein Vater starrte ihn noch immer an, die Augen waren aber nicht mehr groß und voller Entsetzten, sondern wirkten leer und zusammengekniffen. Er atmete schwer. Seine rechte Hand schwankte auf und ab, als wollte er sie ausstrecken, ohne jedoch genug Kraft dafür zu haben. Peter stieg aus, holte den Kanister vom Rücksitz und begann damit, Benzin über das innere des Wagens auszugießen, über den Fahrersitz, Rücksitz, seinen Vater. Als er damit fertig war, machte er an der Außenseite weiter und goss noch ein wenig über das Dach und die Windschutzscheibe. Als der Kanister zur Hälfte geleert war, hörte er auf und stellte ihn, etwas entfernt vom Wagen ab, und holte das Feuerzeug aus seiner linken Hosentasche. Für einen Moment hielt er inne. Es war dunkel, Stille ringsum, nur das friedliche Zirpen der Grillen erfüllte die von Benzingeruch geschwängerte Luft. Obwohl Peter vor Anstrengung schwer atmete und ihm Schweißperlen von der Stirn liefen, fühlte er sich plötzlich vollkommen ruhig. Eine tiefe Zufriedenheit, die ihn immer ergriff, wenn er erreicht hatte, was er wollte, und ihn für kurze Zeit die quälenden, endlos kreisenden Gedanken vergessen ließ. Er entzündete das Feuerzeug und hielt die Flamme an die nassgetränkte Windschutzscheibe. Eine riesige Flamme schlug hoch, fraß sich nach vorne, nach hinten, über das ganze Auto. Peter machte kehrt, schnappte sich im Wegrennen noch den Benzinkanister und lief weiter. Irgendwann blieb er stehen und sah zurück. Die Lichtung war in ein fahles, flackerndes Licht getaucht. Die Flammen schlugen am Auto hoch und formten über dem Wagendach eine zuckende Spitze. Das Feuer hatte das Wageninnere noch nicht erfasst, aber das Licht zeigte seinen Vater. Er hatte den Kopf hochgereckt und starrte Peter mit leeren Augen an, seine rechte hand tastete orientierungslos an der Fensterscheibe der Beifahrertür entlang, auf der verzweifelten Suche nach dem Türgriff. Dann zogen plötzlich Rauchschwaden ins Wageninnere und sein Vater verschwand hinter einem weißgrauen Nebel. Peter wandte sich ab und lief zurück auf die Straße.

Als Peter in die Garageneinfahrt bog, brannte im Haus kein Licht mehr. Elisabeth schien bereits zu schlafen, sie schlief immer schon, wenn er so spät in der Nacht erst von seinem "Herrenabend" heimkam. Früher, als sie noch frisch verheiratet waren, hatte sie meistens auf ihn gewartet. Damals hatte er das süß gefunden.
Peter stellte den Motor ab, stieg aus und schloss die Tür ab. Das kribbelige Gefühl in seinen Händen war plötzlich wieder da, wie er genervt feststellte. Er schloss wieder auf, und wieder zu. Dann noch einmal, und noch einmal, solange bis er nicht mehr mitzählte, sondern nur mehr darauf wartete, dass das zwanghafte Kribbeln in seinen Händen aufhören würde. Er sah dabei die Straße entlang. Ein Haus reihte sich ans andere, Zaun an Zaun, reihenweise gepflegte Vorgärten. Nur im Haus von Anna und Alex brannte noch Licht. Alex war Elisabeths Bruder. Seine Frau war vor drei Jahren, als Alex ihnen mitteilte, dass sie bald Nachbarn sein würden, vor Freude außer sich gewesen, obwohl sie es natürlich nicht so gezeigt hatte. Sie hatte sich immer gut mit ihrem Bruder verstanden, und seit dem Tod ihrer Eltern vor einem Jahr war ihr Verhältnis inniger denn je.
Das Kribblen verschwand allmählich wieder, das tat es immer, manchmal dauerte es länger, manchmal nicht so lange. Vier oder fünfmal vielleicht noch. Peter blickte an sich herunter. Im fahlen Schein der Straßenlaternen sah er die dunkeln Blutflecken an seiner Hose und seinem Hemd. Er musste sich darum kümmern. Noch einmal, das letzte Mal. Endlich war abgeschlossen. Er ging zum Haus, über den selbstangelegten Steinweg, für den er damals eine ganze Urlaubswoche geopfert hatte. Heiß war es in diesem Sommer gewesen, und Vieles noch anders. Das Kribbeln kam damals noch nicht so häufig, und irgendwie kam ihm die Vorstellung, dass es einmal eine Zeit vor dem Kribbeln gab, sogar schon abwegig und unwahr vor. Im Vorbeigehen hob er den Spielzeugbagger seines kleinen Sohnes auf und stellte ihn neben die Tür.
Im Haus war alles ruhig, nur vom Wohnzimmer hörte man das Ticken der großen Uhr. Er warf die Wagenschlüssel auf das kleine Kästchen neben der Eingangstür. Jetzt musste er sich endlich darum kümmern. Er zog Hemd und Hose aus und rollte beides zu einem kleinen Bündel zusammen. Nur in Unterhosen und Socken schlich er lautlos zur Tür am Ende des Flures, die in die Garage führte. Dort schaltete er das Licht an, ging zu dem großen Werkzeugschrank und zog seitlich die unterste Lade hervor, mit einem kleinen Trick hebelte er die Sperre aus und konnte die Lade ganz herausziehen. Vor ein paar Monaten hatte er daran gearbeitet, während seine Frau eines ihrer geliebten Fernseh-Herz-Schmerz-Movies im Wohnzimmer ansah. Hatte eine zweite Rückwand in die Lade eingesetzt und dadurch ein zusätzliches Fach entstehen lassen. Die Sicherheitssperre stoppte die Lade vor der zweiten Rückwand, wenn man sie nicht ganz herauszog blieb das geheime Fach versteckt.
Peter stopfte die blutbefleckte Kleidung in das Fach und setzte die Lade wieder ein. Und er überprüfte noch, ob man auch wirklich nichts sah, wenn man bis zum Anschlag herauszog. Nach fünfzehn Versuchen waren seine Hände endlich zufriedengestellt. Er verließ die Garage wieder und ging rauf in den ersten Stock, um sich zu duschen.

"Hey, kleine Maus, schläfst du schon?"
Elisabeth hatte Peter den Rücken zugewandt. Friedlich atmend lag sie unter der Decke, und Peter, der hinter ihr kniete, lächelte. Sie sah immer so niedlich aus, wenn sie so dalag. Er rüttelte ein wenig an ihrer Schulter.
"Schläfst du schon?"
"Ja", murmelte sie.
Er küsste sie auf die Wange, legte sich dicht neben sie und schlang seine Arme um ihren Körper. Sie lachte kurz.
"Hallo, mein geliebter Göttergatte. Warum denn so anschmiegsam?"
Er küsste ihren Nacken, ihren Hals.
"Warum denn nicht?" hauchte er ihr ins Ohr.
"Ist da jemand ein bisschen geil?"
"Vielleicht", hauchte er und schob eine Hand unter ihr Nachthemd. "Vielleicht bin ich aber auch gar nicht dein Göttergatte."
"So? Wer bist du dann?"
"Vielleicht bin ich ja ein verrückter Einbrecher, der wehrlose Frauen überfällt!"
Seine Hand strich über ihre Brust, und er drängte sich noch näher an sie.
"Du bist ein Idiot", lachte sie und dann lachten sie beide.
Als das Telefon klingelte wurde ihre fröhliche Stimmung jäh unterbrochen. Elisabeth tastete nach der Nachttischlampe und schaltete das Licht ein. Das Lachen war aus ihrem Gesicht verschwunden.
"Wer ruft denn jetzt noch an? So spät nachts?"
"Keine Ahnung..."
Elisabeth sprang aus dem Bett und lief die Treppe runter in den Flur, wo das Telefon stand. Peter streckte sich auf dem Bett aus und musste an jene Nacht vor knapp zwei Jahren denken, als der Anruf kam, dass Elisabeths Eltern diesen schweren Unfall gehabt hatten. Damals war es drei Uhr morgens gewesen...
Peter konnte nicht genau verstehen, mit wem oder worüber seine Frau am Telefon sprach, und irgendwie wollte er es auch gar nicht. Er rollte sich auf die Seite und starrte auf die rot leuchtenden Zahlen des Radioweckers. Irgendwie war das gute Gefühl von vorhin wieder weg. Das herrlich befreite Gefühl, als er den restlichen Benzin im Kanister in den Tank gefüllt hatte, die Fröhlichkeit, die ihn danach auf der Heimfahrt überkommen und ihn dazu gebracht hatte, während der ganzen Fahrt über laut vor sich hinzupfeifen. Und das wunderbare Gefühl Macht über sich zu haben, als er die Kleidung in seinem Geheimfach versteckte. Alles war plötzlich wie verflogen. Er hatte Angst...irgendetwas war passiert....
Bevor Peter seine Gedanken noch weiterdenken konnte, stand Elisabeth wieder im Zimmer. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie das Telefonat beendet hatte. Er versuchte etwas aus ihrem Gesicht zu lesen. Sie sah seltsam verstört aus.
"Was ist denn? Wer war es?" fragte er.
Elisabeth antwortete nicht sofort, sondern ging nachdenklich um das Bett herum und setzte sich dann auf die Bettkante.
"Es war Anna. Sie hat so seltsam geklungen...."
"Was ist denn?"
"Alex hat sie vor einer dreiviertel Stunde vom Auto aus angerufen. Er war gerade ein paar Kilometer von hier, im Wald. Sie haben kurz miteinander geredet. Alex hat dann das Gespräch ziemlich schnell beendet, hat noch irgendetwas von einem Unfall und einem Auto, das am Straßenrand steht erzählt und dann aufgelegt. Seitdem hat sich nichts mehr von ihm gehört. Jetzt macht sie sich Sorgen..."
Sie hielt kurz inne, und plötzlich schien ihr etwas eingefallen zu sein. Sie sah ihn fragend an.
"Du bist doch dieselbe Strecke gefahren. Hast du nichts von einem Unfall gesehen?"
"Nein", sagte Peter, und versuchte seine Stimme normal klingen zu lassen. "Ich habe nichts von einem Unfall gesehen."
Ich habe nichts von einem Unfall gesehen, hallten die Worte in seinem Kopf nach, die für ihn mit einem Mal so lächerlich wirkten. Er hatte etwas ganz Anderes gesehen, etwas völlig Anderes, aber wie sollte er es erklären....wie konnte er erklären, dass er vielleicht etwas Falsches gesehen hatte.
Peter hatte plötzlich das Bedürfnis bei seinem Vater anzurufen. Und er war sich mit grausamer Gewissheit bewusst, dass sein Vater auch abheben würde.

[Beitrag editiert von: Martin am 25.02.2002 um 06:39]

 

Aber vielleicht könntest du ja "Apple Tree" lesen.
Gesagt, getan. ;)

Hi Martin,

gefällt mir im Grunde ganz gut, ist recht flüssig zu lesen. Der Inhalt wirkt aber eine Spur zu konstruiert auf mich, weil ich's doch recht seltsam finde, dass Peter scheinbar aus dem Nichts heraus seinen Vater absticht, einfach so und ihn dabei auch noch mit seinem Schwager verwechselt.

Mit diesem Absatz

Unauffällig tastete Peter an seine rechte Hosentasche und fühlte voller Zufriedenheit das Messer durch den Stoff. Er trug es seit zwei Monaten heimlich bei sich, seit er immer wieder diese Männer sah, die ihn beobachteten. Morgens, wenn er zur Arbeit fuhr, beim Einkaufen, wenn er mit dem Hund spazieren ging - sie waren überall, es waren immer andere, und sie beobachteten ihn.
deutest du seinen Wahn, sich aus seinen Kindheitserinnerungen heraus, ständig krankhaft unter Beobachtung zu fühlen, zwar an, aber trotzdem kommt die Aktion irgendwie zu unvermittelt und krass daher.
Ich verstehe die Intention, dass Peter jemand sein soll, der unter den strengen Augen seines Vaters immer versucht war, alles richtig zu machen und dennoch ständig das Gefühl hat, zu versagen (was ihn offensichtlich bis ins Erwachsenenalter verfolgt).

Allerdings gibts auch ein Detail, das ich überhaupt nicht nachvollziehen kann: War diese Aktion geplant? Wieso hatte er plötzlich doch einen vollen Benzinkanister im Kofferraum? Dass sie geplant war, kann ich mir nicht vorstellen, dafür wär die ganze Sache zu unlogisch aufgebaut. Wenn sie aber nicht geplant ist, warum läuft er so zielstrebig zu seinem Kofferraum? Fällt ihm das auf einmal ein? Einfach so? Kommt seltsam rüber.

Grüße
Visualizer

 

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