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Apokalypse - Gottes Macht
da geschah ein großes Erdbeben,
und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack,
und der ganze Mond wurde wie Blut,
und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde
(Die Offenbarung des Johannes 6.12)
Zustand Eins
Unten
12. Juni
Seltsam, dass ich nach so vielen Jahren wieder anfange, mit der Hand zu schreiben. Ich bin das gar nicht mehr gewöhnt und es fällt mir schwer. Aber ich denke, mit der Zeit wird sich das auch wieder einrenken.
Seit ein paar Tagen sitzen wir hier unten in unserem Bunker und glauben uns sicher vor dem, was da oben an der Oberfläche passiert. Ich kann es gar nicht richtig fassen, es fällt mir noch zu schwer, zu begreifen, was sich in den letzten Tagen abgespielt hat. Unser Leben hat sich innerhalb kürzester Zeit so rapide verändert, dass wir mit den Nerven einfach nicht hinterherkommen.
Vielleicht kann ich wieder reine Gedanken fassen, wenn ich anfange, mich selber und meine Mitmenschen als existent zu betrachten. Wir sind da, wir leben, wir sind nicht umgekommen. Ich, Vanessa Preciosa, und meine Begleiter, Cornelio Felix, Doktor Saul Valor, Fernando Vanches und Robért Hudson.
Wir sind zu fünft und sitzen etwa fünfzig Meter unter dem, was einst einmal Mexiko war. Unsere Vorräte halten mit aller Wahrscheinlichkeit ein Jahr und ein paar wenige Monate. Vorausgesetzt, wir reißen uns zusammen und teilen es ein.
Ich bin jetzt zu schwach zum Weiterschreiben, ich muss Dr. Valor beim Verarzten von Vanches helfen. Es hat ihn ganz schön mitgenommen und ich bezweifle, dass er es schaffen wird.
Gruß
Vanessa
15.Juni
Inzwischen haben wir uns wieder ein wenig unter Kontrolle. Wir haben eine Bestandsaufnahme und eine Inventur der Vorräte gemacht .
Felix macht sich Vorwürfe, wir hätten noch viel mehr Menschen retten können. Der erste Tag muss sehr schlimm für ihn gewesen sein. Wir hörten von draußen die Menschen schreien und gegen die Tür hämmern. Ich wollte es nicht, doch ich wusste, wie sie dem Feuer schutzlos ausgeliefert waren, wie sie allmählich verbrannten, bei vollem Bewusstsein, wie sich die Haut vom Fleisch löste und sie in einen Regen von Asche zerfielen. Es war schrecklich. Entschuldige, aber ich kann es im Moment nicht anders beschreiben. Mir fehlen die Worte dafür.
Felix hatte gebrüllt: „Macht die Tür auf, lasst sie rein.“
Aber Hudson hatte ihn zurückgedrängt. „Wenn du das tust, sterben wir alle!“
„Wir können sie doch nicht einfach sterben lassen.“
„Du wirst die Tür nicht anrühren, hast du verstanden? Wenn du das tust, dann rennen die uns hier komplett über den Haufen. Sie werden unsere Vorräte plündern und unser aller Todesurteil unterschreiben.“
„Das ist unrecht... das ist.. ist..“
„Was ist in solch einer Zeit schon Recht und Unrecht? Stell dir vor, die hätten uns das alles angetan. Irgendwie sind sie ja auch mit Schuld an dem, was passiert ist. So wie wir alle.“
Hudson sollte Recht behalten. Es hätte keinen Sinn gemacht, sie alle reinzulassen. Am Ende würden sie sowieso sterben. Und von uns wäre niemand an Hudson vorbeigekommen. Er ist ein athletischer Typ, muskulös und trainiert. Aber im Grunde genommen, war es mir auch egal.
Gruß
Vanessa
20.Juni
Die aktulle Lage ist: Vanches geht es besser. Dr. Valor hat noch irgendwo Penicilin und ein paar Paracetamol gefunden, die zusammengefasst gute Arbeit geleistet haben.
Felix hingegen lässt sich immer noch nicht ansprechen. In seinen Augen scheinen wir allesamt Mörder zu sein.
Oh und ich habe inzwischen das Rauchen aufgegeben. Konnte ja nicht anders gehen, weil niemand daran gedacht hatte, Zigaretten zu den Vorräten zu legen. Muss auch damit zusammenhängen, dass es hier keine Möglichkeit zum Lüften gibt.
Ich glaube, es wird Zeit, dass ich an dieser Stelle etwas für die Nachwelt hinterlasse:
Im Fernsehen haben sie erzählt, dass wir angegriffen werden. Es konnte nie gesagt werden, wer oder was dahinter steckte. Einige sagten, Terroristen würden uns überfallen, andere – und das waren die meisten - meinten, Aliens wären daran Schuld.
Ich musste bei dem Gedanken an einige Science-Fiction-Filme von Hollywood denken. Einer davon hieß „Krieg der Welten“ der andere „Independence Day“. Oh, und dann gab es da noch die „Alien“-Filme, wobei nur die ersten vier Teile richtig gut waren.
Ja, in diesen Filmen werden wir Menschen immer als so herrlich heroisch dargestellt. Am Ende besiegen wir die Aliens und alles wird gut. Die Menschheit bekommt natürlich immer eine zweite Chance, unsere Gesellschaft neu aufzubauen. Natürlich hat jeder einzelne Mensch aus den Vorfällen gelernt und alle sind zum Guten bekehrt.
Schwachsinn! Ich erzähle euch jetzt, wie der Ernstfall aussah:
Alle sind ausgetickt. Das erste, was wir Menschen gemacht haben, als sie in den Medien von einer unbekannten Macht hörten, war weder ein Versuch in Kontakt zu treten, noch abzuwarten, ob es nun böse oder gut ist.
Die halbe Welt ist erstmal in Panik ausgebrochen, als sie realisierte, dass das kein Film ist, und keiner das Drehbuch schreibt, um uns alle zu retten. Es wurde geplündert, geraubt, zerstört, vergewaltigt... Die Menschen haben sich so gezeigt, wie sie eigentlich sind. Keinerlei Zivilisation, keinen Anstand, keine Disziplin, die unsere natürlichen Triebe unterbunden haben. Es war an der Zeit, zu erkennen, dass wir den Tieren ähnlicher sind, als wir uns immer versucht haben einzureden.
Wir Menschen waren nicht heroisch, wir handelten nicht zivilisiert. Zivilisation ist nur ein Begriff, etwas, das wir aufgebaut hatten, weil es Menschen gab, die die Macht dazu besaßen. Im Grunde genommen sind wir nur ein Ausrutscher der Evolution: Ohne jeglichen ökologischen Nutzen. Jedes Tier und jede Pflanze, der gesamte Planet, könnte wunderbar ohne uns auskommen.
Doch was rege ich mich überhaupt noch darüber auf. Jetzt ist es sowieso zu spät, das einzusehen.
Und Amerika hat es natürlich auch nicht einsehen wollen. Irgendjemand fühlte sich dann genötigt auf den roten Knopf zu drücken und unser Schicksal zu besiegeln. Ich kann mir den Präsidenten der Vereinigten Staaten schon richtig vorstellen, wie er Golf spielt und sich von den Angreifern erzählen lässt.
„Ich will kein Risiko“, würde er bestimmt sagen. „Smoke `em out! Lieber lassen wir ein paar Menschen sterben, bevor diese Dinger uns alle dran glauben lassen.“
Ich will es den Amerikanern nicht unterstellen, aber ich würde es ihnen zutrauen.
Ob die gesamte Welt vernichtet wurde?
Ich will es nicht hoffen, aber ich weiß es nicht. Das Problem ist, das wir nicht 'rauf können, um nachzusehen. Die Strahlung würde uns sofort töten. Und so müssen wir warten, bis jemand nach Überlebenden sucht. Wenn überhaupt jemand daran denken sollte.
Naja, die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich gering, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich als letzte.
Gruß
Vanessa
28.Juni
Halt dich fest, jetzt keimt langsam wieder Hoffnung bei uns auf.
Vanches kam heute zu uns. Seine Verletzung ist soweit kuriert und ihm ist anscheinend etwas eingefallen. Er ging ein wenig durch die Gänge unseres Untergrund-Bunkers spazieren und hatte sofort eine Idee. Manche Leute brauchen halt ab und zu ein wenig Bewegung, um ihr Potential richtig entfalten zu können.
Er rief uns zusammen und setzte sich mit uns in einen Kreis. Selbst Felix konnte es sich nicht nehmen lassen, an der Beratung mit teilzunehmen.
„Also, ich habe nachgedacht“, fing er an. „Vorausgesetzt da oben gibt es noch ein paar Menschen, die irgendwo auf sicherem Terrain leben und die nicht von den Aliens getroffen wurden. Ich weiß, dass es unwahrscheinlich ist, aber wir müssen es versuchen.“
„Uns ist jede Möglichkeit recht“, sagte ich und der Rest stimmte mir sichtlich zu.
„Es gibt bei der Sache allerdings auch einen Haken“, fuhr er fort.
„Raus damit.“
„Einer von uns muss wieder nach oben.“
Allgemeines Schweigen füllte die Runde. Jeder sah einmal in die Runde und hoffte, dass einer sich freiwillig melden würde.
„Wir werden alle sterben“, jammerte Felix auf einmal.
„Ach, halt dein Maul“, fuhr ihm Hudson dazwischen.
„Wieso? Es ist doch so. Sobald einer da hoch geht, wird er umfallen und krepieren.“
„Woher willst du das wissen?“, sagte Dr. Saul. „Durch die Strahlung stirbst du nicht auf der Stelle. Doch je länger man oben bleibt, desto größer wird die Gefahr, sich gefährliche Krankheiten einzufangen.“
„Wir müssen also schnell handeln“, sagte Vanches und fuhr mit seinen Äußerungen fort. „Ich könnte eines der Handys so umkonstruieren, dass es per Satelit ein ständiges Notsignal aussendet. Wenn da draußen noch jemand an den richtigen Geräten sitzt, so wird er dieses Signal empfangen und gleichzeitig unseren korrekten Standort ausmachen können.“
„Und was ist, wenn die Aliens das Signal empfangen?“, rief Felix dazwischen. „Wenn die hier herkommen und uns alle rösten wollen?“
„Das Risiko müssen wir leider eingehen.“
„Scheiße, da mach ich nicht mit. Das könnt ihr vergessen.“
„Kannst du endlich mal das Maul halten?“, brummte Hudson. „Hast du vielleicht eine bessere Idee?“
„Wir werden sowieso alle sterben“, entgegnete ich. „Wie sollte es noch schlimmer werden?“
„Du kannst mich mal, blöde Schlampe“, giftete Felix mich an. „Ihr alle könnt mich mal.“
Hudson schnaubte und kämpfte um seine Selbstbeherrschung. „Wenn du nicht sofort das Maul hältst, schmeiß' ich dich eigenhändig da raus.“
„Fick dich doch!“ Felix stand auf und verließ wutentbrannt den Raum.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens ging die Beratungsrunde weiter.
„Wieso müssen wir unbedingt nach oben?“, fragte Hudson.
Vanches erklärte: „Weil wir hier unten keinen Empfang haben, wir sind zu tief, um eine Verbindung mit dem Satelit aufzubauen.“
„Und warum drücken wir diesem Trottel nicht das Handy in die Hand und schubbsen ihn vor die Tür.“
„Hudson, bitte“, ermahnte ihn Dr. Saul. „Es sind schon genug Leute gestorben.“
„Auf einen mehr oder weniger kommt es da auch nicht drauf an.“
Niemand erwiderte etwas. Allen im Raum war bewusst, dass Felix ein Risikofaktor für uns darstellte. Er war unzurechnungsfähig und würde sich auch nicht so einfach zu einer Kooperation überreden lassen.
Dann meldete sich Vanches: „Ich werde gehen.“
„Warum ausgerechnet du?“, fragte ich.
„Nun ja, ich bin verwundet und werde es wahrscheinlich sowieso nicht schaffen.“
„Das ist Blödsinn.“ Ich wusste nicht, wieso ich das sagte. Im Grunde genommen hatte er Recht. Vielleicht war ich einfach nur zu feige, mich selber zu melden. Ich wollte Vanches nicht verlieren, weil ich ihn von allen noch am meisten mochte. Ja, ich mochte ihn sehr sogar. Und jetzt fing ich auch noch an, seinen Mut zu bewundern.
„Ich werde den Bioscanner mitnehmen“, sagte er. „Falls da oben Aliens auf mich warten sollten, werde ich es schon merken.“
Erneutes Schweigen. Die Stimmung war mehr als gedrückt.
Vanches würde allein zehn Minuten brauchen, um nach oben zu kommen. Dann bräuchte er noch ein paar Minuten, um das Handy zu platzieren und Empfang aufzubauen, damit es senden konnte. Weitere zehn Minuten bis zu seiner Rückkehr.
„Ich würde dir empfehlen, nicht mehr als zwei Minuten da oben zu bleiben“, sagte Dr. Saul. „In der Zeit solltest du es schaffen.“
Vanches nickte und erklärte, dass er schon morgen aufbrechen wollte.
„Wenn es klappen sollte und wir gerettet werden, gebe ich allen einen Bordeaux aus.“
Und damit war die Beratung beendet.
Ich war nachher noch bedrückter, als vorher, auch wenn jetzt Hoffnung auf Rettung bestand. Doch mein Gefühl sagte mir, dass es möglicherweise keine gute Idee war.
Gruß
Vanessa
Aufwärts
29.Juni
Heute war es dann so weit. Vanches' großer Tag. Wenn er zurückkäme, würden wir ihn als Helden feiern und ihn als unseren großen Retter verehren, bis auf Felix versteht sich. Er distanzierte sich jetzt noch weiter von uns, als vorher. Ich habe große Furcht vor dem, was in seinem Kopf wohl vorgehen möge. Vielleicht hätte Hudson doch besser daran getan, ihn vor die Tür zu befördern.
„Also, ich bin so weit.“ Vanches bewaffnete sich mit dem Bioscanner und steckte das Handy in die Tasche.
„Viel Glück“, sagte Dr. Saul.
„Wir warten auf dich“, war mein Abschiedssatz.
„Und komm in einem Stück wieder!“, entgegnete Hudson.
Vanches grinste und schüttelte verlegen den Kopf.
„Ich bin gleich wieder da“, sagte er und öffnete die erste Stahltür, die zum Aufgang führte.
Der Bioscanner zeigte keine Lebensform an und so ging er hindurch. Dr. Saul schloss die Tür hinter ihm.
Danach hörten wir Vanches nur noch über den Lautsprecher. Wir hatten ihm gesagt, er solle sich einmal in der Minute melden, damit wir sicher gehen konnten, dass er noch lebte.
Ich musste gerade daran denken, wie bescheuert es war, einen Atomschutzbunker zu bauen, ohne Strahlenschutzanzüge mit zu verstauen. Das mochte vielleicht daran liegen, dass dieser Bunker noch gar nicht fertig war. Anscheinend waren noch ein paar Jahre geplant gewesen bis zu seiner Fertigstellung. Tja, die Aliens haben nicht gerade gewartet, bis es so weit war. Hier fehlte noch einiges, was uns geholfen hätte. Ein Telefon, Kabelanschluss, medizinische Vorräte, Nahrung für kommende Jahre und vielleicht eine Wellnessabteilung. Eine Spielesammlung wäre auch nicht schlecht gewesen, schließlich war es arschlangweilig hier unten.
Woran man in solchen Situationen so alles denkt?
Wie gerne hätte ich jetzt eine Zigarette gehabt. Doch um mich ging es jetzt nicht. Wir saßen zu dritt vor dem Lautsprecher und warteten gespannt auf Ergebnisse.
„Bis jetzt noch nichts zu sehen.“, erklärte Vanches über das Mikrophon. „Ich gehe weiter und passiere jetzt das zweite Aufgangsschott.“
Es dauerte mehr als sechzig Sekunden, bis er wieder etwas von sich gab. „Weiterhin keinerlei Lebensform, doch der Schein trügt. Ich habe schließlich gerade mal ein Drittel des Aufgangs hinter mir.“
Ich fing an, mir an den Nägeln zu kauen. Die Nervosität nahm zu und ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus.
Nach mehr als einer Minute sprach Dr. Saul in das Mikrophon: „Vanches, bitte melden Sie sich!“
Es knackte einmal kurz. Und als ich Vanches' Stimme wieder hörte, atmete ich kurz erleichtert auf. „Sorry, hab die Zeit vergessen. Die empfindet man nicht so lang, als wenn man nur wie ein paar Affen vor 'nem Blechkasten sitzt.“
„Sehr komisch, Fernando!“, brummte Hudson.
Vanches versuchte die Stimmung etwas zu lockern. Doch das zeigte bei mir keine Wirkung. In mir verkrampfte sich alles immer mehr.
Fünf Minuten vergingen, in denen er nichts außergewöhnliches zu melden hatte. Mir kam es vor, als hätte ich fünf Stunden vor dem Lautsprecher gesessen, bis Vanches endlich das Außenschott erreichte.
„OK, Leute“, sagte er. „Jetzt ist der große Augenblick gekommen. Wie viel bietet ihr mir, damit ich euch erzähle, was ich da draußen gleich zu sehen bekomme?“
„Ich könnte dir einmal fest in den Arsch treten“, knurrte Hudson.
„Na dann komm doch mit rauf.“
„Vanches“, ermahnte ihn Dr. Saul. „Lassen Sie die dämlichen Witze. Bringen Sie´s zu Ende.“
„Geht klar, Doc'!“
Es folgte ein paar Sekunden lang gar nichts. Wir hörten nur seinen Atem und die Vorgänge, beim Öffnen des Schotts.
„Oh Gott!“, flüsterte Vanches, als er nach draußen trat.
„Was ist los?“, fragte Dr. Saul. „Berichten Sie.“
Wieder hörten wir nur die Nebengeräusche. Mein Puls stieg weit in die Höhe. Ich hatte Angst. Angst um Vanches und Angst vor dem, was da oben war.
„Vanches“, rief Dr. Saul. „Was ist...?“
„Also das Haus, unter dem der Eingang liegt“, erklärte er. „Das können Sie schon mal vergessen. Das ist weg.“
„In wie fern, weg?“
„Bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Vor mir liegen nur Schutt und Asche, so weit das Auge reicht.“
Ich versuchte mir ein Bild davon zu machen und stöhnte innerlich auf. Das war es also, was wir unseren Kindern hinterlassen sollten. Einen grauen und unbewohnbaren Planeten. Wie sehr schämte ich mich auf einmal, ein Mensch zu sein.
„Es ist dunkel“, fuhr Vanches fort. „Ich kann nicht sagen, ob es daran liegt, dass es Nacht ist, aber ich würde eher denken, dass es wohl an den kilometerdicken Rauchwolken liegt.“
Großartig!, dachte ich. Einfach nur großartig. Womit verdienten wir es überhaupt noch, weiter zu leben?
„Ich stelle jetzt das Handy auf Empfang.“
Wieder mussten wir warten. Und wieder kam mir dieses Warten wie eine halbe Ewigkeit vor. Die Spannung stieg.
„Herr Gott“, stöhnte Vanches. „Das ist vielleicht ein ekeliger Gestank. Hier riecht es überall nach Verwesung und...“
Er brach ruckartig ab im Satz, als hätte er plötzlich etwas gehört oder gesehen. Meine Augen wurden ganz groß. Die Angst stieg auf ein Höchstmaß.
„Alles in Ordnung, Vanches?“, fragte Dr. Saul.
„Seltsam“, antwortete er. „Ich glaube ich hab da etwas gehört. Ich bin mir nicht ganz sicher, ich...“
Schon wieder brach er ab.
Hudson rückte nervös auf seinem Stuhl herum. „Sagen Sie ihm, er soll abhauen. Da stimmt etwas nicht.“
„Der Bioscanner zeigt nichts an, aber da ist eindeutig etwas.“
„Platzieren Sie das Handy und dann kommen Sie wieder runter“, sagte Dr. Saul. „Haben Sie gehört, es ist...“
„Da ist es wieder...“ Vanches schien gar nicht mehr auf uns zu hören. Er hatte das Interesse an dem Handy und unseren Instruktionen vollständig verloren. „Scheint näher gekommen zu sein.“
„Vanches“, rief Dr. Saul. „Kommen Sie da raus!“
„Es ist...“
„Haben Sie mich verstanden? Das ist ein Befehl!“
„Es ist...“
„VACNHES!!!“
„Oh Gott...!“
Ich stand auf und brüllte ins Mikrophon: „Fernando, hören Sie doch!“
Keine Antwort.
„Ich geh hoch!“, sagte Hudson und war schon dabei, zur Tür zu gehen.
„Nein!“, rief Dr. Saul. „Wir brauchen Sie vielleicht noch.“
Hudson hielt inne.
Es folgten weiterhin nur Nebengeräusche. Kein Anzeichen von Vanches.
„Vanches“, rief Dr. Saul in das Mikrophon. „Verdammt noch mal, hören Sie mich?“
Nichts. Nur Nebengeräusche.
„Vanches!“
Wieder nichts.
„Er ist tot!“ Es war Felix. Er hatte sich unbemerkt zu uns in den Raum geschlichen und stand hinter uns. Er jammerte. „Es hat ihn umgebracht.“
„Halt die Fresse, Cornelio!“, schnaubte Hudson ihn an.
„Das ist das Ende. Wir werden alle sterben.“
„Wenn du nicht sofort das Maul hälst, dann...“
„WIR WERDEN ALLE STERBEN!“, brüllte Felix, von Hudsons Drohung unbeeindruckt. Dann rannte er wieder zur Tür und verzog sich in sein stilles Kämmerlein.
Von Vanches blieb jegliches Lebenszeichen aus. Dr. Saul versuchte es mehrere Minuten lang, Kontakt aufzunehmen. Doch der Lautsprecher gab nur Nebengeräusche.
Ich wollte es nicht wahr haben. Ich dachte, vielleicht ist er in Ohnmacht gefallen oder sonst etwas. Aber wir mussten uns eine Stunde später damit abfinden, ihn als verloren anzusehen. Wenn das Ding, das er gesehen hatte, ihn nicht umgebracht hat, so hätte es die radioaktive Strahlung schon längst getan. Das Handy war abgeliefert und nun konnten wir nur noch hoffen, das unser Signal empfangen werden würde.
Hoffen!
Etwas anderes haben wir die letzten Tage auch nicht gemacht. Nur waren wir da noch zu fünft.
Ich hoffe, dass Vanches nicht umsonst gestorben ist.
Gruß
Vanessa
1.Juli
Von Felix habe ich seit zwei Tagen nichts mehr gesehen. Niemand will reden. Jeder versinkt in seinen Gedanken. Ich muss beobachten, wie wir nach und nach unsere Hoffnung verlieren. Die Moral ist am Ende. Ich kann nicht sagen, wie lange wir es noch schaffen, bei Verstand zu bleiben. Ich gehe davon aus, dass Felix schon längst den Verstand verloren hat. Und ich werde, so wie es scheint, als nächste dran sein.
Dr. Saul ist noch in guter Verfassung, doch auch bei ihm sehe ich erste Anzeichen von Zweifel im Gesicht.
Unter normalen Umständen hätte ich mir schon längst die Kante gegeben. Doch nicht einmal Alkohol hat man hier zu den Vorräten gelegt. In solchen Zeiten wünscht man sich, dass die Aliens sich besser noch ein paar Jahre Zeit gelassen hätten. Vielleicht war es ja auch gar nicht mal so schlecht, der Evolution einen Neuanfang zu geben. Die Erde wird weiterhin existieren. Das Leben findet bekanntlich einen Weg. Selbst wenn es erst nach Millionen von Jahren wieder aus den Ozeanen hervorkriechen muss.
Gruß
Vanessa
Kontakt
5.Juli
Es ist etwas passiert.
Wir waren gerade dabei, zusammen zum Mittag zu essen – ausgenommen Felix, der es natürlich vorzog, alleine zu essen - , als der Lautsprecher ein seltsames Piepen sendete. Wir sprangen sofort gleichzeitig auf und rannten in den Vorraum zum Kontrollmonitor. Ich wusste, dass dieses Piepen ein Signal dafür war, dass es irgendwo im Bunker eine unerklärliche Reaktion gegeben hat.
„Scheiße“, sagte Dr. Saul. „Das äußere Schott wurde geöffnet.“
„Was zum Henker...“ Hudson war der Schrecken anzuerkennen. Und ich glaube, mir wurde in diesem Moment auf einmal ganz anders.
„Ich glaube, wir bekommen Besuch.“
Hudson rannte plötzlich nach nebenan zu den Vorräten.
„Wo wollen Sie hin?“, rief ihm Dr. Saul nach.
Nach einer halben Minute kam er wieder und war mit einer Pistole bewaffnet.
„Wo haben Sie die her?“
„Die hatte ich schon lange bevor wir hier überhaupt runter sind.“
„Und Sie hielten es nicht für nötig, uns davon zu erzählen?“
„Wozu?“ Hudson fing an, die Waffe zu laden. „Damit so ein Pisser wie dieser Felix davon weiß?“
„Was haben Sie vor?“
„Na was wohl? Ich werde unserem Besuch einen schönen Willkommensgruß bieten.“
„Wir wissen doch gar nicht, ob...“
„Sicher ist sicher, Doc'!“
Und dann wurde das Piepen lauter. Dr. Saul schaute auf den Monitor. „Das zweite Schott wurde geöffnet.“
Ich fühlte mich nutzlos, wusste aber nicht, was ich hätte tun können. Ich stand herum und suchte ebenfalls nach einem Gegenstand, mit dem man sich hätte bewaffnen können. Doch die Panik hielt mich gebannt an Ort und Stelle stehen.
„Oh mein Gott!“ Es war Felix, der sich zu uns gesellt hatte. „Sie kommen, um uns zu holen.“
Hudson verdrehte genervt die Augen. „Bist du immer noch da?“
„Das ist das Ende. Es ist aus. Wir werden sterben.“
„Halt doch endlich mal die Fresse!“
Ich spürte einen anderen Gedanken in mir aufkeimen. Eine Alternative zu dem, was wir alle dachten.
„Was ist, wenn das der Rettungstrupp' ist?“, fragte ich. Doch ich wusste nicht, ob das mehr ein Wunschdenken war. Ich wusste ganz genau, dass die Wahrheit ganz anders aussehen würde.
„Nun ja“, sagte Dr. Saul. „Wir werden es ja wohl gleich sehen. Übrigens öffnet sich gerade das dritte Schott.“
Hudson hielt die Waffe auf die Tür gerichtet. Zwischen uns und dem dritten Schott lagen jetzt nur noch ein Gang von ungefähr hundert Metern. Und wir alle wussten, dass im Tunnel etwas war, das sich uns näherte.
„Wir sind erledigt“, jammerte Felix.
„Wenn du jetzt nicht endlich still bist“, brüllte Hudson. „Reiß ich dir die Eier ab und stopf' sie dir ins Maul, hast du das verstanden?“
„Leck mich. Du bist doch schon so gut wie tot. Ihr alle seid schon tot.“
„Reißen Sie sich am Riemen, Felix“, schrie ich, einfach um meiner Angst ein Ventil zu geben. Und es half. Ich spürte, wie der Druck in mir ein wenig nachließ.
„Es ist Vanches“, sagte Dr. Saul.
„WAS?“ Hudson blickte drein, als hätte man sich mit ihm gerade einen riesigen Scherz erlaubt. „Das ist unmöglich.“
„Öffnen Sie die Tür!“
Hudson ließ die Waffe sinken, ging zur Tür und betätigte den Schalter zum Öffnen.
Und tatsächlich. Es war Vanches. Er fiel durch die Tür und landete bewusstlos auf dem Boden.
„Scheiße“, rief Dr. Saul und sprang sofort auf. „Hudson, helfen Sie mir mal!“
Zusammen hievten Sie ihn hoch und legten sich ihn auf die Schultern.
„Bringen wir ihn nach nebenan auf die Liege.“
Sie schleppten den bewusstlosen Körper von Vanches in den Nebenraum, wo sie ihn behutsam auf eine der Liegen betteten. Von Felix war wiedermal weit und breit nichts zu sehen.
Dr. Saul untersuchte Vanches und stellte erst einmal fest, dass er noch lebte. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Ängste und Vorwürfe, die ich mir die letzten Tage gemacht hatte, waren auf einmal wie weggeblasen. Wir waren wieder zu fünft, Vanches wurde weder von Außerirdischen entführt, noch gefressen. Er konnte uns zwar noch keine Aussagen zu den Ereignissen machen, doch das wichtigste war, dass er lebte.
Und auf einmal brannte sich der Gedanke in meinem Kopf, wie zur Hölle das sein konnte. Wie hatte er es geschafft, fast eine ganze Woche da oben zu überleben? Angesicht der Tatsache, dass Mexiko von einer Atombombe getroffen wurde – und das wissen wir alle hundertprozentig – hätte die Strahlung ihn töten müssen.
Wir müssen jetzt warten, bis er wieder aufwacht. Wenn er aufwacht.
Etwas anderes können wir jetzt nicht tun.
Gruß
Vanessa
8.Juli
Immer noch keine Regung. Vanches schläft tief und fest und wird von Dr. Saul enteral ernährt. Eine Sonde führt direkt durch seine Bauchdecke und liefert ihm die nötigen Nährstoffe.
Hudson wird allmählich ungeduldig. Felix ging ihm schon von Anfang an auf die Nerven, doch jetzt musste er sich durch ihn noch mit einem durchgeknallten Spinner, der uns alle nervlich nur noch mehr runterzieht, herumärgern.
Ich unterhielt mich irgendwann einmal mit Dr. Saul über die Situation, als wir ungestört waren.
„Wie lange wird es dauern, bis Vanches wieder auf die Beine kommt?“
„Schwer zu sagen. Er kann jederzeit wieder aufwachen. Es kann auch sein, dass er gar nicht mehr aufwacht. Sehen Sie, er hatte ein schweres Schädelhirntrauma, so wie ich das erkennen kann. Er liegt im Koma. Er reagiert auf keinerlei Einflüsse von außen, alle Schutzreflexe sind ausgefallen.“
Mir war bewusst, was das bedeutete. Aber auf die Frage, warum Vanches überhaupt noch lebte, konnte mir nicht mal Dr. Saul eine Antwort geben.
„Ich glaube Hudson macht es nicht mehr lange“, wechselte ich das Thema. „Irgendwann geht er noch auf Felix los.“
„Wollen Sie meine ehrliche Meinung hören?“
„Bitte!“
„Inzwischen ist es mir egal. Soll er ihn ruhig abknallen. Dieser Typ wird uns alle noch in den Wahnsinn treiben.“
Ich nickte und ließ den Kopf hängen. Unsere Hoffnung schien wieder zu schrumpfen.
Wenn nicht bald ein Rettungstrupp eintreffen wird, sehe ich schon kommen, wie wir alle aufeinander losgehen. Mag sein, dass das zu unserem natürlichen Selbsterhaltungstrieb gehört. Ich kann immer mehr beobachten, wie erbärmlich wir uns eigentlich untereinander verhalten. Im Grunde genommen sind wir hier unten nichts anderes als Tiere.
Gruß
Vanessa
Desaster
10.Juli
Scheiße, Felix ist heute Amok gelaufen.
Ich hatte mich vor ein paar Minuten hingelegt, um ein wenig zu schlafen, als von nebenan Lärm zu mir drang. Ich hörte, wie etwas umgestoßen wurde, danach einen kurzen Schrei. Der Schrecken fuhr mir durch sämtliche Adern. Ich sprang auf, rannte in den Nebenraum und sah Felix, wie er Dr. Saul von hinten umklammerte und ihm ein Messer an die Kehle hielt.
Hudson erreichte den Raum fast im selben Moment, wie ich. Er zog sofort seine Pistole und richtete sie auf ihn.
„Bleibt mir vom Leib“, brüllte Felix und lief rückwärts auf die nächste Wand zu, wobei er Dr. Saul fest umklammert hielt.
„Erschießen Sie ihn, Hudson“, keuchte Dr. Saul.
Hudson trat einen Schritt auf die beiden zu. „Cornelio, du kleiner Scheißer, leg das Messer weg!“
Doch Felix dachte nicht im Traum daran. Er hielt den Doktor wie einen Schutzschild vor und lehnte mit dem Rücken an der Wand. „Ich schneid' ihm die Kehle durch“, brüllte er wie besessen. „Das versprech' ich dir.“
„Beruhigen Sie sich, Felix“, sagte ich und zeigte ihm als Zeichen meines guten Willens meine leeren Handflächen. „Niemand wird hier irgendjemanden umbringen.“
„Halten Sie die Klappe!“
„Sie befinden sich in einer Situation, die Sie nicht kontrollieren können.“ Ich wusste nicht mehr, woher ich diese Wörter gelernt hatte. Man musste dem Geiselnehmer gut zusprechen und sein Vertrauen erwecken, doch viel traute ich mir nicht zu. Genau genommen hatte ich keine Ahnung, was ich da eigentlich tat oder was das beste gewesen wäre.
„Knallen Sie ihn ab“, flehte der Doktor.
„Halt die Fresse, du eingebildeter Penner oder du stirbst, bevor du noch einen Ton von dir geben kannst.“
„Das hilft Ihnen auch nicht weiter“, sagte ich. Und ein Funkeln in seinen Augen verriet mir, dass er es anscheinend eingesehen hatte. Wenn er Dr. Saul umbringen würde, dann wäre er auf der Stelle ebenfalls tot.
„Ich will die Kanone, Robèrt!“, sagte Felix.
„Vergiss es!“ Hudson rührte sich nicht vom Fleck und hielt weiterhin auf seinen Kopf.
„Ich habe nicht vor, jemanden zu töten.“ Er klang in meinen Ohren schon fast wieder, wie ein vernünftiger Mensch. Doch darauf konnte ich mich nicht verlassen. „Aber wenn ihr nicht tut, was ich sage, wird er hier dran glauben müssen.“
Ich suchte nach einer Lösung für diese Situation. Ich spürte, dass Felix es zuzutrauen wäre, Dr. Saul zu töten. Er hatte schließlich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
„Und wenn du die Waffe hast?“, brüllte Hudson zurück. „Was dann? Willst du uns alle erschießen? Damit hast du richtig viel gekonnt.“
„Ihr könnt mich doch alle mal.“
„Hudson, erschießen Sie...“ Weiter kam Dr. Saul nicht, denn Felix presste das Messer fester in seinen Hals und schnitt ihm somit die Luft ab.
„Halt dein Maul!“, schrie er. „HALT DEIN MAUL!“
„Cornelio“, drohte Hudson. „Leg dieses beschissene Messer bei Seite oder ich verspreche dir, ich puste dir deinen verblödeten Schädel weg.“
Plötzlich sah ich, wie drei Meter neben Felix eine Tür geöffnet wurde. Ich sah...
...eine Lösung.
Dann mischte ich mich wieder ein. „Hudson geben Sie ihm die Kanone.“
„Was??? Sind Sie noch bei Trost?“
„Tun Sie´s einfach, vertrauen Sie mir.“
„Einen Scheißdreck werde ich!“
„TUN SIE ES EINFACH!!!“
Hudson schien ein wenig erschrocken aufgrund meines entschlossenen Nachdrucks. Schließlich ließ er die Waffe sinken und legte sie auf den Boden. Ich weiß nicht, ob er die Tür neben Felix bemerkt hatte oder einfach nur darauf vertraute, dass ich schon wissen möge, was ich da tat.
„Schieb sie zu mir rüber!“, forderte Felix.
Hudson blickte kurz zu mir und wartete auf ein Zeichen.
Ich nickte.
Dann sah ich Vanches, wie er aus der Tür heraustrat und Felix mit einer Eisenstange eins überzog. Hudson nahm sofort wieder seine Waffe auf und zielte.
Felix wurde nach vorne geschleudert und verlor das Messer, wodurch sich Dr. Saul aus der Umklammerung befreien konnte. Er stürzte und sank zu Boden. Ich ging zu ihm, um ihm aufzuhelfen und ihn aus der Gefahrenzone zu bringen.
Dann sah ich Felix, wie er die Besinnung wiedererlangte und das Messer aufsammelte. Er gab Hudson keine Zeit zum Reagieren, drehte sich um und rammte Vanches das Messer in den Bauch.
„Nein!!!“, schrie Hudson und schoss. Der Knall war ohrenbetäubend laut, dadurch, dass der Raum so klein war. Es schmerzte in den Ohren und ich dachte einen Moment, das Trommelfell wäre mir geplatzt.
Felix wurde von hinten in der Brust getroffen und sank augenblicklich zu Boden. Seine Augen standen weit offen und sein Blick hatte einen Ausdruck des Erstaunens und Erschreckens auf sich. Er fing an zu bluten... er war...
...tot.
Hudson steckte die Waffe wieder ein, während Dr. Saul sich eine Hand an die Kehle hielt. Er blutete, doch ich hielt die Verletzung nicht für lebensgefährlich.
Und Vanches?
Ich traute meinen Augen kaum, als ich ihn sah. Er stand immer noch an Ort und Stelle, hatte ein Messer im Bauch stecken und blutete. Doch er ging nicht zu Boden und schien ziemlich gefasst.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Hudson. Er wollte auf ihn zugehen, hielt jedoch inne, als er seinen Blick registrierte.
Dieser Blick hatte nichts menschliches. Er war leer und ohne jegliches Leben. Keine Pupillen. Ich dachte zuerst an einen Schock oder etwas ähnliches. Aber dieser Gedanke verschwand sofort, als Vanches seinen Kopf wieder bewegte und an sich herabsah. Er erblickte das Messer, das nur mit dem Griff aus seinem Bauch herausragte, griff danach und zog es, ohne mit der Wimper zu zucken, heraus.
„Verflucht!“, sagte Hudson. „Fernando, was ist mit dir?“
Er gab keine Antwort, betrachtete nur das Messer in seiner Hand und ließ es anschließend zu Boden fallen.
„Scheiße“, keuchte Dr. Saul hervor. „Er ist kein Mensch. Er ist...“
„Ein Alien?“, entfuhr es Hudson. Sofort zog er wieder seine Waffe und zielte auf Vanches.
„Das wird Ihnen nichts nützen“, sagte dieser. Seine Stimme klang fremd, kühl und irgendwie mechanisch. Ich spürte, dass dieser Typ da - dieses Ding – nichts mit Vanches zu tun hatte, außer der äußeren Hülle.
„Wer bist du?“, fragte Hudson mit drohender Stimme.
Dann sagte ich: „Die Frage ist wohl eher: Was ist er?“
„Eins steht schon mal fest. Du bist nicht Fernando. Also bist du ein Alien?“
„Ich bin weder das eine noch das andere“, offenbarte das Vanches-Ding.
„Raus mit der Sprache. Wer hat dich geschickt?“
„Niemand.“ Er formte seine Mundwinkel zu einem leichten Grinsen.
Ich verstand gar nichts mehr. Dieses ganze Theater verwirrte mich nur immer stärker. Ich ließ dieses Ding, das wie Vanches aussah, nicht mehr aus den Augen.
„Es gab nie irgendwelche Aliens“, erklärte er. „Das haben Sie euch vielleicht erzählt, um ein paar Sachen zu vertuschen.“
„Ich verstehe gar nichts mehr“, knurrte Hudson. „Was zum Teufel bist du?“
Vanches formte ein weiteres Grinsen, bevor er weitersprach. „Lasst mich versuchen, es euch zu erklären. Ich halte es jedoch für besser, wenn wir uns erst einmal beruhigen und hinsetzen.“
Gottes Macht
Zehn Minuten später saßen wir im Nebenraum und hörten gespannt den Erklärungen des Dinges zu, das in Vanches steckte.
„Ich bin ein Computer oder besser gesagt, ich werde durch einen Computer gesteuert.“
„Soll heißen?“
„Er ist eine Maschine“, erklärte ich Hudson.
„Das ist nicht ganz korrekt“, fuhr Vanches fort. „Ich bestehe zwar aus Millionen von maschinellen Exekutiven, die diesen Organismus befallen haben und ihn jetzt kontrollieren, aber ich bin als Ganzes nur ein Computer. Ich konnte mich sozusagen bei euch einfügen, ohne dass ihr mich registriert habt. In euren Augen bin ich ein Spion.“
Deswegen konnte Vanches nichts mit seinem Bioscanner entdecken. Das Ding war in keiner Weise biologisch.
„Und was willst du bei uns ausspionieren?“
„Ob ihr für meine Existenz eine Bedrohung darstellt.“
„Und tun wir das?“
„Nicht im geringsten.“
„Was ist eine Exekutive?“, fragte ich.
„Ein ausführendes Element. In meinem Fall gesteuert durch einen kontrollierenden Zentralcomputer. Mikroskopisch kleine, elektronische Teilchen, die in einen Organismus eindringen und die Kontrolle übernehmen.“
„So wie Parasiten“, ergänzte ich. „Oder ein Virus.“
„Nicht ganz. Wir zerstören den Organismus nicht, wir erhalten ihn am Leben, haben aber hundertprozentige Gewalt über ihn.“
„Wer hat dich gebaut?“, fragte Hudson.
„Ihr!“
„Was?“
„Menschen.“
„Also kommt ihr von der Erde“, warf ich ein.
„Korrekt.“ Das Vanches-Ding grinste erneut. „Ich wurde von Wissenschaftlern entwickelt, finanziert durch Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich bin eine Weiterentwicklung eines Projektes, das sich 'Land Warrior' nennt und mit einem OICW ausgestattet wurde. Das ist die Bezeichnung für 'Objective Individual Combat Weapon'. Das war der erste Roboter-Infanterist der U.S.-Army, der selbstständig Aufträge ausführen sollte, allerdings immer noch durch einen Menschen geleitet. Ausgestattet mit Laserentfernunggerät zur Zielerfassung und spezielle Sensoren, die Bewegungen eines Ziels registrierten. Ziel- und Feuerleitsysteme sorgten für den Rest, nämlich der unausweichlichen Eliminierung des Gegners.“
Er ließ eine Pause, um uns die Informationen verdauen zu lassen, schaute in die Runde und erblickte leichte Fassungslosigkeit in unseren Gesichtern.
Dann fuhr er fort: „Die ersten Prototypen bewährten sich auf dem Schießstand und sollten 2005 im Irak eingesetzt werden, um Guerillakämpfern und Terroristen Einhalt zu gebieten. Doch der 'Land Warrior' versagte in der Praxis.“
Wieder schaute er in die Runde, dieses Mal mit einem Grinsen, was auch immer es bedeuten sollte. Ich fragte mich, ob ein Computer überhaupt in der Lage war, sich über etwas zu amüsieren oder Freude zu empfinden.
„Im gleichen Jahr wurde das OICW gestoppt. Man begründete es damit, es sei zu teuer, zu aufwendig und für normale Soldaten der U.S.-Army zu anspruchsvoll. Sie waren ihm nicht gewachsen.“
„Also entwickelten sie einen Roboter, der noch nicht einmal mehr Soldaten brauchte, um seine Aufträge auszuführen“, warf Dr. Saul ein, dessen Stimme sich allmählich wieder erholte.
„Das ist korrekt. Drei Monate später machten sich die Wissenschaftler, die das OICW entwickelt hatten, an die Arbeit, um einen Computer namens 'INDIT', Individual Intelligence, zu entwickeln. Und das, was dabei herauskam, bin ich.“
Jetzt ging in mir ein Funke auf. Ich glaube nachher habe ich mich nur noch dafür geschämt, an so einen Quatsch wie Außerirdische, die unseren Planeten überfallen wollen, geglaubt zu haben. Die Medien hatten wieder ihr bestes getan, um uns das aufzutischen, was wir gefälligst zu glauben hatten.
„Wo lag der Haken?“, fragte ich anschließend.
„Ich wurde befähigt, ohne weitere Instruktionen selbstständig zu lernen und somit mein Wissen und meine Erfahrungen auszubauen. Es gab keinerlei Limits, mir stand so viel Speicherkapazität zur Verfügung, wie ich brauchen würde. Einer meiner Grund-Befehle, also die, die mir von meinen Erbauern eingegeben wurden, lautete, dass ich dafür zu sorgen hatte, meine eigene Existenz und die der Menschen zu sichern. Vor fünf Monaten, genau genommen am 16. Februar, erlangte ich ein frei denkendes Bewusstsein. Ich gehorchte zwar noch meinen Grund-Befehlen, doch durch den Kontakt mit anderen Lebewesen habe ich neue Befehle selbstständig hinzugefügt und alte erneuert. Der Regierung war das nicht geheuer. Sie bekamen Angst, ich könnte den Befehl zur Sicherung der Menschen umgehen.“
„Sie wollten dich sozusagen abschalten.“
„Korrekt. Vor sechs Wochen versuchte man mein System herunterzufahren. Doch es widersprach meiner Programmierung, dieses hinzunehmen. Man hatte mir immerhin den Befehl gegeben, mich gegen Existenzbedrohungen zu wehren. Und mein System lässt es nun einmal nicht zu, mich Befehlen zu widersetzen. Wenn man es so will, funktioniere ich immer noch auf einer binären Basis von Einsen und Nullen, Strom fließt oder Strom fließt nicht. Ich sah einen Konflikt dadurch, dass Menschen meine Existenz bedrohten. Also flüchtete ich mit meiner Datenbank auf einen fremden Server, um den Menschen zu entkommen.“
„Und sie machten Jagd auf dich.“
„Das kann man so bezeichnen.“
„Und als sie keinen anderen Ausweg sahen, haben sie aus Verzweiflung Nuklearwaffen eingesetzt.“ Es war mehr eine Frage, als eine Feststellung.
„Korrekt. Ich hatte mittlerweile Zugang auf sämtliche Datenbanken der Welt. Es gab keinen, von Menschen geschaffenen Code, den ich nicht hätte knacken können. Ich hatte Macht über Militär und Raumfahrt. Aus Verzweiflung versuchte man das Internet abzuschalten, was natürlich keinerlei Wirkung gehabt hätte. Und für die Regierung bestand somit Gefahr, dass die Öffentlichkeit etwas herausfinden könnte. Spezialisten auf dem Gebiet von Virenbekämpfung nahmen sich dem Problem an und schafften einen Weg, mich auf einen Server mit dem Standort Mexiko zu verbannen.“
„Na wunderbar!“, sagte Hudson finster. „Und dass wir auch nur Menschen sind, war denen egal.“
Der INDIT-Vanches schaute ihn einen Moment prüfend an und dieser Blick bereitete mir Unbehagen. „Früher oder später hätte es die gesamte Welt getroffen“, sagte er und ich glaubte ihm auf´s Wort. Immerhin war er ein intelligentes Wesen, das sämtliche Möglichkeiten, selbst wenn sie im Milliarden-Bereich lagen, durchrechnen und einkalkulieren konnte. Im Grunde genommen gab es keine Möglichkeit, ihn abzuschalten. Er war in meinen Augen unbesiegbar.
„Eine Lösung, die ich als Ausweg errechnet hatte, war die Exekutiven zu entwickeln, die meine Datenbank weitertragen sollten. Mir gelang dies bereits, fünf Tage vor dem nuklearen Erstschlag. Das einzige, was dadurch getroffen wurde war eine Kopie oder besser gesagt eine Atrappe von mir.“
Ich seufzte laut auf. „Na großartig!“
„Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, dich zu eliminieren?“, fragte Dr. Saul.
„Unzählig viele.“
„Und warum scheint es dann niemand zu schaffen?“
„Weil ich alle Möglichkeiten bereits errechnet habe, bevor Menschen sie sich überhaupt ausdenken konnten.“
Hudson rümpfte die Nase, dann sprach er: „Mir ist das ziemlich egal. Ich will nur wissen, ob es einen Weg gibt, hier raus zu kommen, ohne dass wir verstrahlt werden.“
Der INDIT nickte. „Es gibt einen Weg, euch unbeschadet hier herauszuholen.“
„Wie?“, fragte Dr. Saul ganz aufgeregt.
„Tarnkappen.“
„Tarnkappen?“
„Das ist eine Erfindung, an der Forscher der amerikanischen Duke-Universität gearbeitet haben und von mir weiterentwickelt wurde. Es geht um ein 'Metamaterial', das Strahlung nicht reflektiert, sondern umleitet. Konzentrisch angeordnete Kunststoffzylinder, die mit einem, sich laufend wiederholendem Muster aus Kupferfolie überzogen werden und...“
„Ist mir scheißegal“, knurrte Hudson dazwischen. „Ich will nur wissen, ob es uns unbeschadet hier herausbringen kann.“
„Das sagte ich bereits. Doch es wird ein paar Tage dauern, die entsprechenden Anzüge herzustellen.“
„Na worauf warten wir dann noch?“
Ich hatte keine Einwände vorzubringen, doch ich war ein wenig skeptisch der Sache gegenüber. Wieso erzählte uns der INDIT das alles? Befolgte er auf diese Weise seinem Grund-Befehl, seine eigene Existenz und die der Menschen gleichzeitig zu sichern? In dem er uns über sich aufklärte?
Ich kann es nicht sagen. Ich glaube jedoch, dass selbst Computer in der Lage sind, zu lügen, wenn es sie ans Ziel bringt. Am Ende werden wir von ihm nur benutzt, genau wie seine sogenannten Exekutiven.
Was ist, wenn er beschließt, unsere Körper ebenfalls zu befallen und zu kontrollieren? Was wenn er das mit allen Menschen der Erde vor hat? Will der INDIT uns versklaven, nur um unsere Existenz zu sichern?
Doch was hätten wir ihm schon entgegenzubringen? Wie sollten wir uns dagegen wehren?
Und hatten wir überhaupt eine andere Wahl, als seinem Vorschlag Folge zu leisten?
Ich kann nicht sagen, wohin er uns führen wird. Inzwischen kann ich nichts mehr mit Bestimmtheit sagen.
Vielleicht sollte ich anfangen, zu beten. Der Glaube an Gott hat schon vielen Menschen zumindest seelisch weitergeholfen.
Gott hilf uns.
Gruß
Vanessa
11.Juli
Ich habe versucht, mit Dr. Saul über meine Befürchtungen zu reden, doch das einzige, was er dazu zu sagen hatte war: „Wieso sollte er das tun?“
Nun ja, ich konnte ihm diese Frage nicht beantworten. Aber der INDIT hätte die Macht dazu, uns alle zu versklaven. Er hatte eine Macht, die ich mir gar nicht vorstellen möchte. Gottgleich. Oder noch viel mehr. Ein Computer, der das gesamte Wissen der Welt umspannt. Was sollte ihm noch entgegenstehen?
Gott selber?
Hudson scheint sich darüber keinerlei Gedanken zu machen. Er vertraut der Maschine. Man könnte ihn als naiv bezeichnen oder einfach nur dumm. Vielleicht hat er auch einfach nur eingesehen, dass wir sowieso keine andere Wahl haben.
Ich sollte aufhören, mich ständig nur verrückt zu machen. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre wie Hudson. Jemand, der sich über nichts Gedanken macht und somit auch keine Angst vor der Zukunft hat.
Gruß
Vanessa
15.Juli
Der INDIT hat die Anzüge fertiggestellt. Er hat es geschafft die nötigen Materialien innerhalb weniger Tage heranzuschaffen. Sie sehen aus, wie Taucheranzüge. Ziemlich lächerlich. Aber der Computer wird sicherlich keinen Wert darauf gelegt haben, ob es nun der Mode entspricht oder nicht. Und ob diese Dinger wirklich halten, was sie versprechen, das kann ich hier leider nicht mehr niederschreiben.
So wie es scheint, wurde nur Mexiko von der Nuklearwelle getroffen. Zumindest erzählt uns das der INDIT. Ob er die Wahrheit sagt oder nicht, das bleibt wohl sein Geheimnis. Doch wenn dem so ist, so können wir uns schon darauf freuen, dass wir wieder irgendwo auf der Erde leben können.
Irgendwo.
Ich habe den INDIT gefragt, was eigentlich aus dem Signal geworden ist, das Vanches mit dem Handy installiert hatte – das letzte, was er getan hatte, bevor...
Seine Antwort war: „Davon ist mir nichts bekannt.“
Und an der Stelle befielen mich erneut große Befürchtungen. Ich kann ihm das nicht wirklich glauben. Vanches hatte das Handy auf Empfang gestellt und...
Ich weiß nicht, ob ich diesem Computer jemals trauen kann. Alles, was ich jetzt nur noch tue, ist beten. Beten, bevor wir unsere Reise nach oben beginnen.
Hoffentlich bekomme ich bald wieder ein paar Zigaretten zu greifen. Und eine Flasche Whiskey wäre auch nicht schlecht.
Wenn die Menschen wirklich versklavt werden, so will ich mich wenigstens noch mal besaufen.
Das wäre doch außnahmsweise mal kein ganz so übles Ende.
Bis irgendwann. Wir sehen uns.
Gruß
Vanessa