Apfelkuchen
Apfelkuchen,
kleines Stückchen Apfelkuchen, das sie mir reichten auf dem Flug von Amsterdam nach Havanna.
Erinnerst du dich, Apfelkuchen?
Es geschah irgendwo zwischen Irland und Grönland, 9800 Meter über dem Atlantischen Ozean, dass wir uns begegneten.
Du kamst mit deinen Freunden, Apfelkuchen:
dem kleinen gemischten Salat,
dem Vollkornbrötchen mit Butter,
dem Hühnerklein mit Reis
und dem Döschen Heineken.
Doch ich hatte nur Augen für dich, Apfelkuchen.
Nicht mal die Sitcom im Bordkino
(english with dutch subtitles)
konnte mich von dir ablenken.
Die Sonne strahlte uns beide an, weißt du noch?
Wir flogen westwärts - immer: westwärts, und hatten die Sonne in Flugrichtung links von uns. Ich spürte sie auf meiner linken Wange, und du auf deinem Streuselbelag. Sol lucet omnibus, Apfelkuchen. Sogar im Flugzeug, jaja....
Diese großgewachsene, blonde Stewardess, wie hieß sie doch gleich – Greetje? Swaantje? Mintje? – brachte dich zu mir.
Ich erinnere mich noch genau, Apfelkuchen, dass sie mich mit entzückendem holländischen Akzent fragte, was ich gerne hätte: Tee? Kaffee? Fellatio?
Ein Scherz, Apfelkuchen, nur ein kleiner Scherz.
Sie hat mir keine sexuelle Handlung angeboten.
Das ist den Stewardessen dieser Welt vermutlich vertraglich verboten, Apfelkuchen.
Außerdem, mein Freund: Ich war auch ohne Sex ein glücklicher Mensch in dem Moment. Ich hatte dich, was brauchte ich da Austausch von Körperflüssigkeiten?
Du lagst vor mir, auf dem Klapptischchen, in einer unscheinbaren, weißen Plastikschüssel. Weißt du eigentlich, Apfelkuchen, an was mich diese Schüssel erinnerte?
Nein. Das kannst du nicht wissen. Woher auch.
Ich sag’s dir:
Die Schüssel, in der du lagst, erinnerte mich von der Form (nicht aber von der Größe!) her an die Nierenschale, in die Frau Dr. B. im Oktober ’98 den Weisheitszahn legte, den sie mir extrahiert hatte.
Das sah nicht schön aus, Apfelkuchen, dieser blutige Zahn in der unschuldig-weißen Nierenschale!
Welch schönes Bild dagegen botest du in deinem weißen Bett.
Für dich endete der Flug südwestlich von Island, als wir in schwere Turbulenzen gerieten. Mich überkam bei der schlimmen Schüttelei, der wir beide, du und ich, Apfelkuchen, plötzlich ausgesetzt waren, das dringende Bedürfnis, meinen Magen zu beschäftigen und ihn so aus seiner übelkeitserregenden Zwangshaltung zu befreien.
Da musstest du dran glauben, Apfelkuchen.
Gemeinsam mit deinen Freunden:
dem Vollkornbrötchen,
dem Hühnerklein mit Reis und
dem gemischten Salat.
Ach ja: Und das Heineken -
das musste auch dran glauben!
Viel Zeit ist seitdem vergangen.
Sehr viel Zeit.
Ich hab Abstand zu dir gewonnen, Apfelkuchen, zu dir und der Situation in der wir uns befanden.
Ich bin charakterlich sehr gereift in der Zeit, seit damals. Und so finde ich jetzt die Kraft und den Mut, dir etwas zu sagen, was zu sagen ich mich damals nicht traute.
Es bedrückt mich, dass ich schwieg, als ich hätte sprechen sollen, weil ich Rücksicht auf deine Gefühle nahm, weil ich dich nicht kränken, nicht verletzen wollte, Apfelkuchen.
Nimm es mir nicht übel, alter Freund:
du schmecktest echt beschissen!