Mitglied
- Beitritt
- 02.02.2018
- Beiträge
- 54
Apfelkuchen mit Streusel
„Apfel oder Streusel?”, fragte mich meine Oma.
„Apfel mit Streusel!”, antwortete ich. Ich habe nie verstehen können, warum Oma entweder einen Apfelkuchen oder einen Streuselkuchen backte, wenn man doch beides zusammen haben konnte. Ich saß in ihrer Küche, im hintersten Winkel der Eckbank und machte Hausaufgaben.
„Trudi, hol du doch die Äpfel und nimm gerade den Müll mit!”
Meine Tante Trudi kam immer Mittwochs Mittags um Oma bei den schweren Arbeiten, wie dem Fenster putzen oder die Einfahrt kehren, zu helfen. Die Äpfel waren, wie die Karotten und Kartoffeln, im Keller gelagert. Alles Sachen aus Omas Garten.
“Kaffee, Chris?“, fragte meine Oma. Chris, meine andere Tante, kam viel seltener und wurde als Besucher behandelt. Das bedeutete, sie bekam Kaffee gekocht und musste nicht im Haushalt helfen. Was ich sehr widersinnig fand. Aber versteh einer die Erwachsenen.
„Die Äpfel sind faul!” Tante Trude brachte die Hiobsbotschaft zusammen mit den restlichen Äpfeln aus den Keller. Sie platzierte den großen Korb mit den verfaulten Früchten mitten auf dem Küchentisch.
“Du hast wieder mal vergessen, die Faulen auszusortieren.”, warf sie Oma vor.
„Unfug!”, protestierte Oma und betrachtete traurig den verschimmelnden Rest der letztjährigen Apfelernte. Sie würde wohl Streuselkuchen backen.
„Wie das stinkt!” Mir wurde übel von dem mostigen, modrigen Geruch.
„Der Duft der großen weiten Welt!”, flachste Tante Chris. „Sollte dir eigentlich beim Hausaufgaben machen helfen.”
„Wie kann ein solcher Gestank einem helfen? Mir wird kotzübel!” protestierte ich.
“Wie weiland Herrn Goethe im Hause von Herrn Schiller.”, stellte Tante Chris fest.
Sie sagte häufig so merkwürdige Sachen, klang ganz schön gestelzt. Aber sie war die Studierte, die Intellektuelle im Hause und genoss eine gewisse Narrenfreiheiten.
„Quatsch!”, kicherte ich. “Was hat denn Schiller mit faulen Äpfeln zu tun?”
„Es heißt, dass Schiller überall im Haus, auf seinem Schreibtisch, in Schubladen, wirklich überall faule Äpfel gesammelt hat. Der Geruch soll ihn inspiriert haben.”
Das war ja mal eine spannende Geschichte. Vielleicht konnte ich die irgendwie nutzbringend im Unterricht verwenden. Schiller würde sicher noch einmal drankommen.
„Und wie kommt Goethe da ins Spiel?”, fragte ich. Mehr Details machen so eine Geschichte erst richtig glaubwürdiger.
„Einmal soll Goethe bei einem Besuch im Hause Schiller sogar richtig schlecht geworden sein und er hat sich bei Schillers Frau Charlotte darüber beschwert.”
Also “Die Räuber” oder der “Tell” geschrieben im Dunst faulender Äpfel. Ja, da konnte man was daraus machen. Während ich vor mich hin feixte, hatte Trudi den Korb mit den faulen Äpfeln gepackt und ihn hinaus getragen.
Verärgert kam sie zurück.
„Mutti, ich habe dir doch schon tausend Mal gesagt, du musst die Äpfel und Kartoffeln regelmäßig durchsehen. Ein Fauler verdirbt den ganzen Rest. Die Faulen stecken die Gesunden an!” Trudi konnte es nicht lassen und musste noch einmal nach haken. Vielleicht war sie frustriert, weil sie die Äpfel hat zum Müll bringen und den Korb im Hof hat auswaschen müssen.
„Das ist wie bei unserem Herrgott, der warnt auch vor dem einen faulen Apfel, der die Herde vergiftet.”, legte sie nach. Was sie gerne tat, wenn sie wirklich sehr verärgert war. Was sie gesagt hatte, war natürlich ziemlich schräg, das fiel sogar mir auf. Aber niemand widersprach. Tante Trude war die Kirchgängerin der Familie und mit allen Weihwassern gewaschen. Am besten war, man überhörte einfach ihre obskuren Bibelkenntnisse.
„Warum kann EIN gesunder Apfel eigentlich nicht einen ganzen Korb kranker Äpfel gesund machen?”, steuerte ich ziemlich altklug bei. Eigentlich wollte ich nur die Stimmung etwas entspannen. Mir tat Oma leid. Aber diese rührte mittlerweile den Kuchenteig mit dem Mixer und bekam nicht wirklich viel mit von der Diskussion.
„Wenn EIN fauler Apfel alle gesunden Äpfel im Korb krank machen kann, warum kann denn EIN gesunder Apfel nicht einen Korb voll fauler Äpfel gesund machen?” ich legte nach. Natürlich war das eine ziemlich kindliche Logik. Das war selbst mir klar. Aber wer will denn immer gleich so pingelig sein.
„Die Frage ist nicht ganz uninteressant.”, sprang Tante Chris mir bei, vollkommen unerwartet. „Es gibt in den Mythen der Völker zahlreiche Beispiele, in denen Äpfel gesund machen. Und nicht nur das. Die goldenen Äpfel der Hesperiden, zum Beispiel, brachten den griechischen Göttern ewige Jugend, Unsterblichkeit, Schönheit und Klugheit. Mich würde interessieren, was passiert wäre, wenn man einen solchen goldenen Apfel in einen Korb voll verrotteter Äpfel gesteckt hätte!” sinierte sie über ihrem Kaffee.
„An apple a day keeps the doctor away!”, steuert Oma überraschender Weise bei. Ihr Englisch war zwar eingerostet, aber ansonsten ganz passabel. Sie war in ihrer Jugend Austauschschülerin in England gewesen. Niemand reagierte auf diese Erkenntnis.
„Auch Iduna, die nordische Göttin der Jugend, hat einen Apfelbaum dessen Früchte den Göttern ewige Jugend und Gesundheit schenken. Wotan und seinem Clan, mein ich.” Chris schien sich für das Thema zu erwärmen.
„Also ich kenn nur die Iduna Lebensversicherung.” Bei Oma fiel ein Groschen, man konnte es richtig hören. “Ach, deswegen heißen die so!” Den Teig hatte sie mittlerweile auf dem Blech verteilt. Sie mischte Butter, Zucker, Mehl und Zimt in einer Schüssel für die Streusel. Freihändig. Sie musste nie etwas wiegen, selbst beim Kuchenteig nicht.
„Wenn ihr mich fragt, ich hätte gerne einen solchen Apfel. Einen, der mich gesund macht, wenn ich krank bin und der mir ewige Jugend schenkt!” Natürlich meinte ich mit ewiger Jugend nicht 14 Jahre. So alt war ich nämlich gerade und das war kein besonders prickelndes Alter.
„Da musst du ins Paradies gehen, da steht nämlich auch so ein Apfelbaum des ewigen Lebens.”, informierte mich Tante Chris, die immer noch Kaffee trank und Oma beim Kuchenbacken zusah.
„Versündige dich nicht, Chris!” Trude sah entgeistert vom Spülbecken hoch. “Von dem Baum im Paradies darf man keine Äpfel essen! Das hat Gott verboten. Denk doch nur an Eva und den Teufel!”
„Keine Angst, Trudchen. Das ist doch der anderer Apfelbaum. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Gott hat Adam und Eva verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, nicht vom Baum der ewigen Jugend!”, versuchte Chris Tante Trude zu beruhigen.
„Echt jetzt? Ist ja krass! Es gibt zwei Apfelbäume im Paradies?” Manchmal konnte ich schnell schalten. Ich überlegte, ob ich diese Information, die ich meiner Tante Chris so ohne weiteres einfach abnahm, irgendwie Sinn besser Unsinn stiftend in Religion einsetzen konnte.
„Die Frage ist doch, ob -analog zum Apfel - ein kranker Mensch alle anderen um sich herum krank macht oder - umgekehrt - ob ein Gesunder kranke Menschen um sich herum gesund machen kann?”, riss Chris die Diskussion wieder an sich.
„Sag ich doch, der Faule und die Herde. Oder umgekehrt wie bei Jesus, bei dem wurden Kranke gesund und sogar Tode wieder lebendig.” Manchmal konnte Trude mit ihrem Bibelkram ganz schön nerven.
„Also bei der Fortbildung haben wir darüber gesprochen, dass schon ein einziger Intrigant, Dauernörgler oder Trittbrettfahrer ein ganzes Team vergiften kann. Das ist doch eigentlich ein gutes Beispiel.” Chris ließ sich durch die theologischen Überlegungen von Trude nicht aus dem Gleis bringen.
„Das müsste doch im Umkehrschluss heißen, dass ein guter Mitarbeiter das ganze Team vorwärts bringt und Intriganten, Nörgler und Trittbrettfahrer zu guten Mitarbeitern macht.”
„Ist doch auch so, oder?” Oma hatte den Kuchen in den Ofen geschoben und beteiligte sich wieder aufmerksam am Gespräch. “Nennt man Vorbildfunktion! Also wirklich, ich weiß ja nicht warum ihr hier so rumphilosofiert, wegen der paar Äpfel”. Klar, sie musste abwiegeln, sie hatte es ja auch versäumt, die Schlechten auszusortieren.
“Aber so einfach ist das nicht, Oma. Was passiert denn, wenn ein Team einen Guten und einen Schlechten hat? Das ist doch nicht wie in der Demokratie, so von wegen: die Mehrheit bestimmt.” Ich fand mich ganz schön clever. “Irgendwann waren doch alle Äpfel gesund. Wie konnte dann überhaupt einer faul werden?”
„Das Kind (damit war ich gemeint) hat völlig recht!” Ich verzieh Tante Chris das “Kind”. Sie gab mir recht, was selten vorkam. „Die goldenen Äpfel waren etwas ganz Besonderes, sehr selten und sehr begehrt.”
“So wie Jesus!” unterbrach Trude. Klar, dass sie noch einmal nachlegen musste.
“So selten, dass Viele versucht haben, sie zu stehlen. Herakles, die Iren, Loki, alle haben versucht, an die Äpfel ran zu kommen.” Chris kannte sich wirklich gut aus.
“Aber was ist denn eigentlich das besondere an den Äpfeln? Dass sie aus Gold sind?”, fragte ich.
“Kind, Gold ist als Metapher zu verstehen. So wie man sagt, ein Mensch habe ein goldenes Herz. Gold symbolisiert zum Beispiel die Sonne. Und für manche gilt die Farbe Gold als Kraft der Heilung oder der Erleuchtung.” Also manchmal überraschte mich meine Oma sehr.
“Wo hast du denn den Esokram her?”, fragte ich Oma. Sie hatte sich zu uns an den Tisch gesetzt und schenkte sich einen Kaffee ein.
“Äpfel an und für sich sind ja schon sehr gesund, aber die sogenannten goldenen Äpfel sind dann wohl so etwas wie Superfood. Der Alptraum der Pharmaindustrie!” Klar, das kam von Tante Chris.
“Also ich fass jetzt mal zusammen: ein kranker Apfel verdirbt gesunde Äpfel, ein gesunder Apfel macht verfaulte Äpfel nicht gesund und ein goldener Apfel schenkt ewige - natürlich gesunde - Jugend.” Ich war das Thema leid und dachte, ich könnte es mit einer Zusammenfassung beenden.
“Hm, das stimmt. Außer natürlich, wenn das, was wir für einen gesunden Apfel halten, gar kein Gesunder ist. Dann könnte es doch Sinn machen!” Seit Oma mitdiskutierte, wurde immer unklarer, worüber wir überhaupt sprachen.
“Aber Oma, bei der Ernte sortieren wir doch die makellosen Äpfel aus zum Lagern. Die Anderen, die mit den Dellen oder Würmern werden doch direkt versaftet. Also sind doch nur gesunde Äpfel im Korb!“
“Aber es könnte doch passen, was Mutti sagt.” meinte Trude. “Dann wäre Jesus ein wirklich Gesunder gewesen und alle anderen Menschen um ihn herum wären eigentlich krank.“
“Oje!” stöhnte ich. “Was soll das denn schon wieder heißen? Alle Äpfel sind krank! Also wirklich!”
Wir diskutierten noch ein bisschen, alberten etwas herum. Und irgendwie und wie immer beruhigten sich die Gemüter wieder, und es wurde noch ein ziemlich netter Nachmittag.
Zwei Dinge nahm ich an jenem Nachmittag bei Oma mit: einen halben Streuselkuchen und den Wunsch, einen Apfel zu finden, der kranke Äpfel heilt. Oder, einen wahrhaft gesunden Menschen.