Anzug
Eigentlich bettreif steigt er von den Schultern des großen Mannes mit Bart und Brille.
Rutscht vielmehr herunter. Zieht sein Sakko glatt, greift die Aktentasche von der linken in die rechte Hand und verabschiedet sich.
Flüchtig, mit schlaffem Arm winkt er ohne hinzusehen. Ein Wegwinken.
Schweiß auf der Oberlippe und an den Schläfen. Die feinen Haare im Nacken kleben an der feuchten Haut.
A.P. Vixtor steht vor der automatischen Drehtür.
Der Standaschenbecher wurde über Nacht aufgesprengt, zerbeult und verrußt.
Die Morgensonne strahlt ihn an. Zigarettenstummel liegen herum.
Am Freitag hätte er es nicht bemerkt oder an irgendeinem anderen Tag. Raucht eh nicht mehr.
Gleich eröffnet sich die Spalte zwischen den beiden Türflügeln, in der er sich bis zum Eingang der Empfangshalle durchschieben lassen wird.
Nur nicht stehenbleiben. Einen Fuß vor den anderen setzen, dann wird es schon gut gehen,
so wie die letzten 10 Jahre.
Seine Atmung ist kurz, wenn überhaupt. Das Herz schlägt so laut in seinem Rippenkasten, man könnte meinen, es durch den Stoff seines Sakkos hämmern zu sehen.
Er betritt den strahlend erleuchteten Empfangsbereich.
Heiße, alte Luft wird unter seinen Füßen zwischen den Schlitzen des Gitters heraufgewirbelt,
Vorbote dunkler Herrschaft. Erstickungsangst.
Die Decken dieser Halle erscheinen so hoch, dass A.P. Vixtor glaubt, sie fänden kein Ende.
Titanische Plastikgrünpflanzen säumen den Eintritt, blind gehorsam und willenlos.
Ein Gefühl unbeschreiblicher Winzigkeit erfüllt seine Brust und sinkt wie Zement in seinen Bauch. Das Herz darüber tobt weiter.
Mit zügigem und festem Schritt geht er die Treppe im linken Flügel hinauf. Kollegen kommen ihm von oben entgegen. Ohne aufzusehen starrt er auf ihre flinken Füße.
Glänzend geputzte Schuhpaare, eigenständig, vom restlichen Körper Getrennte, die die Stufen hinunterzappeln. Aus ihrer Richtung, Stimmen, als hätte er Watte in den Ohren.
In die Augen der einzelnen Kollegen geblickt, erwidert er jeweils die Begrüßungen mit einem Nicken.
A.P. Vixtor ist hier nicht unbeliebt, aber man lässt ihn in Ruhe.
Sein Leben wird von dicht verschweißten Arbeitstagen bestimmt.
In diesem Gewebe verstrickt, bemüht er sich, einwandfrei zu handeln.
Zwangsläufig und notwendig für reibungslose Kontakte. Abstand produzierende Höflichkeit.
Ein Voyeur, den eine merkwürdige Unruhe umtreibt, nach außen verriegelt, schwer zugänglich.
Observierend im Dickicht. Ziel unklar. Beweggründe eigentlich auch.
An den letzten Stufen zur Etage angekommen, erblickt er sie, Stella.
Mit zusammengepressten Lippen geht er zu ihr herüber.
Sie sieht ihn an, sieht nach unten und duckt sich hinter dem Empfangstresen über ihre Unterlagen. Bemüht sich, etwas Vertieftes oder Beschäftigtes darzustellen.
Die dunkelbraunen Haare fallen über ihren blassen Nacken auf die weißen Papierbögen unter ihren von blauen Seilen durchzogenen Händen.
A.P. Vixtor ist verunsichert, seine Augäpfel springen von links nach rechts, flattern in den Augenhöhlen herum. Sie lassen sich einfach nicht beruhigen.
Warum kann er sich nicht zusammenreißen, sich konzentrieren und souverän weitergehen?
Ich hätte es lassen sollen, sie einfach in Ruhe lassen sollen.
Was mache ich denn jetzt?
Über seiner linken Schläfe seilt sich ein erster Schweißtropfen ab.
Er beendet diesen schnürenden Vorgang und tritt reflexhaft an den Tresen anstatt vorbeizugehen.
„Hallo Stella.“
Stella schaut hoch, tut so, als hätte sie es nicht kommen sehen. „Hallo.“
„Liegt etwas in meinem Fach?“, fragt er. Wissend, dass da nichts ist.
„Nein“, sie sieht nach hinten zur Ablage, dreht sich dann wieder zu ihm.
„Gähnende Leere“, lächelt sie.
Die erreicht ihn nicht ohne Beigeschmack, diese Bemerkung.
Er versucht in ihren Augen zu lesen wie es jetzt weitergehen könnte, doch sie sieht nach unten. Wieder sehr beschäftigt.
Wochenlang hatte er sich darauf vorbereitet. Sich gedanklich in die Begegnung mit ihr hineingeträumt.
Dann, vor dem letzten Wochenende, hatte A.P. Vixtor Stella zum Essen eingeladen. Von sich selbst überrascht hatte er sie einfach gefragt.
Und, ganz unglaublich, sie sagte zu, gab sich geschmeichelt, wollte sich aber nochmal melden.
Kein Auge hatte er die letzten zwei Tage und Nächte zumachen können.
„Ich habe es am Wochenende nicht geschafft. Letzte Woche war sehr anstrengend und ich hatte einfach viel zu tun“, schiebt sie ungefragt und geradlinig über den Tresen.
In der Hoffnung, dass es ausreicht und dass sich die Situation auflöst.
Er spürt deutlich, dass es eine Ausrede ist, eine Flucht. Es fühlt sich scheußlich an.
Ein Gefühl, unzerlegbar und unzumutbar. Er hasst es, sich aufzudrängen.
Warum sagt sie ihm nicht wie es ist? Warum lässt sie ihn stattdessen warten?
„Ach, ich hatte auch zu tun, ist nicht so tragisch“, hört er sich sagen.
A.P. Vixtor nimmt seine Tasche in die Hand, nickt Stella freundlich besiegelnd zu
und klopft mit der flachen Hand auf den Tresen.
„Bis später dann“, er dreht sich um und geht den Flur entlang.
Sein fliegender Schritt auf dem frisch verlegten Teppich klingt überhaupt nicht. Nichts. Kein Ton.
Er schaut zu seinen Füßen, fragt sich, ob er noch Bodenkontakt hat, versucht, sich zu konzentrieren. Doch vor seinen Augen dreht sich alles, die Luft bleibt ihm weg.
Wenn er noch Lust zu Atmen hätte, würde ihn jetzt eine Atemnot befallen.
Etwas kraucht seinen Nacken herauf.
Und es ergießt sich über die Haarwurzeln in seinen Kopf: „Tsss...Wie lächerlich. Wie lächerlich, du bist.“
Mit stramm gespanntem Körper, geht er zwischen den Schreibtischen der Kollegen hindurch zu seinem Platz in diesem Großraum.
Er zieht den Stuhl unter der Tischkante hervor, stellt die Tasche auf den Boden und lässt das ganze Gewicht in den Stuhl sinken.
Sein Blick liegt auf der Schreibtischunterlage, bleibt dort haften.
Die Suppe, die sich indes in seinem Körper zusammenbraut, wird dicker und dicker.
Er schaltet den Computer ein und starrt in die Gegend.
Der Lüfter springt an und das auftretende Rauschen breitet sich aus, entfernt sich, oder er sich von ihm.
A.P. Vixtor verliert den Fokus.
Die Summe allen Übels der letzten Tage oder Jahre
und das Summen aller Geräte in diesem Großraumbüro entfalten ihre volle Wirkung.
Feuchter Nebel von Kaffe und Parfum, der aus den Menschen emporsteigt, dicht und osmotisch, emulgiert mit diesem Übel.
Der Monitor schwillt an und die Tasten mit den sich darauf befindlichen Buchstaben schwimmen fettaugengleich auf der schwarzen, verkabelten Fläche. Mikrostruktur.
„A.P., hast du kurz Zeit?“, dröhnt es von der Seite oder von irgendwo her.
Zwei Hände legen einen Stapel Papiermappen vor seinen Augen ab.
„Ich bin gestern mit den Kollegen nochmal drüber gegangen, wir waren in der Eckkneipe, Dieter war auch da, ja, und...eigentlich sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das Projekt von uns nicht finanziert werden sollte, unter den Voraussetzungen, die.…“, der Kollege schaut zu A.P. Vixtor.
„...unter den Voraussetzungen, mmmhh ….“ Pause.
„Hallo? Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?“
„Ja. Sicher, ich habe gehört... Ich...Ich gehe nur eben was trinken. Fühle mich nicht so gut heute.“
A.P. steht auf und lässt den Kollegen erstaunt zurück.
Am anderen Ende des Raumes kann er es schon stehen sehen. Ein riesiges Plastikfass, bis zum Bersten voll mit Wasser.
Er muss schnell gehen, vorbei an Monika, an Gerd, an Veronique, an all den Kollegen und all den Geräten.
Monika drischt in die Tasten. Kaum auszuhalten. Bestialisch, wie sie das macht. Als würden die Anschläge auf seine Schädeldecke schmettern.
Gerd lehnt im Bürostuhl, den Telefonhörer zwischen Schulter und Kopf geklemmt. Die geringelte Schnur umspielt den Nabel seines Wanstes.
Gerds fleischige Finger der rechten Hand knistern ein silbriges Bonbonpapier, während er mit der anderen Hand den ausgepackten Kaubonbon zu seinem geöffneten Mund führt.
Verliert starrt er den Klumpen dabei an.
Das Größenverhältnis von Bonbon zu Mundhöhle ist sehr unterschiedlich. Ein Leierschlund.
Gerade angekommen, auf der Höhe von Veroniques Schreibtisch, passiert es.
Zuerst kommt Schwarz, dann so ein Weiß. Erst kalt, dann heiß.
Alles ergibt sich, alles löst sich auf.
A.P. Vixtor löst sich auf.
Endlich ist Ruhe. Endlich.
Ihr könnt mich alle mal.
Er driftet im Raum. Auf dem Tümpel friedlicher Genugtuung.
Und in seiner Bewusstlosigkeit treibend schießt er Pfeile ans Ufer. Unantastbar.
Nebel hat sich gelegt und Stille kehrt ein, mächtig und schön.
„A.P.?“ Pause. „A.P.!“
Eine Stimme schneidet ihm die Aussicht ab.
Sein Kopf wiegt schwer wie Granit.
Veronique hat ihn in die Schocklage gebracht und unter seine Beine einen Karton Kopierpapier geschoben.
Eine zarte und warme Hand streicht über seine Stirn, dazu erreicht ihn eine Brise. Frisch und würzig wie ein blühendes Kornfeld am Morgen.
Der Duft kommt ihm bekannt vor. Es ist ihr Shampoo.
Und ihm wird klar, es kann nicht anders sein, es sind ihre Oberschenkel auf denen sein Kopf liegt,
es ist ihr Schoß.
Hier bleibe ich liegen. So lange es geht, beschließt A.P. Vixtor.
Stella fühlt sich großartig an und vertraut. In der Vorstellung spürt er ihre Lippen an seinen.
Wärmer und wärmer wird es auf seiner Stirn unter ihrer immer noch daliegenden Hand.
Er hebt die Lider und blickt durch dunkles,
herabfallendes Haar in die Augen von Gerd.
A.P. Vixtor hatte es sich anders vorgestellt. Im Schoß von Stella.
Es ist schwierig, seinen Kopf dort zu lassen wo er jetzt ist.
„Hallo. Geht`s besser? Bleib ruhig noch etwas liegen.“
„Danke, es geht schon.“
Er rafft sich auf, geht zurück zu seinem Platz, obwohl auch die Kollegen davon abraten. Die gesamte Etage steht versammelt und starrt ihn an. Man lässt ihn, aber er spürt, dass geredet wird.
Der Kollege mit den Papiermappen auf seinem Schreibtisch kommt zu ihm. „Willst du nicht lieber nach Hause gehen, dich ausruhen?“, und legt ihm dabei seine Hand auf die Schulter.
„Dann bist du morgen bestimmt wieder auf dem Damm. Wir können das hier auf morgen verschieben.“
A.P. Vixtor überlegt kurz und stimmt zu. Ist wahrscheinlich eine gute Idee. Der Kollege nimmt die Mappen und geht.
A.P. Vixtor will hier raus.
Er nimmt seine Tasche, schaltet den Computer aus und meldet sich telefonisch beim Vorgesetzten ab. Der wusste natürlich schon alles.
Er wolle ihn eigentlich nochmal sehen, aber meint auch, dass es besser wäre, wenn A.P. Vixtor sich jetzt erholen würde. „Kommen sie morgen wieder, Vixtor, dann sieht die Welt schon anders aus.“
Das ist es, was nicht eintreten wird.
Ihm fällt ein, bevor er das Büro verlässt und alles ausschaltet, dass er gleich bei Stella vorbeikommen wird, wie jeden Tag. Er sieht auf die Uhr über der Tür. Sie müsste eigentlich noch am Tresen sein.
Warum sie wohl nicht da war, als er am Boden lag?
Er hätte sie sehen müssen.
Das Büro ist auf einmal wie ausgestorben. Er erinnert sich. Letzte Woche wurde diese Versammlung angekündigt, er sollte auch kommen.
Dankenswerterweise, darf er gehen.
Jetzt könnte er Stella einfach fragen. Ein neuer Versuch.
Schwamm drüber, der Moment zählt. Das kurze Koma hat ihm neue Kraft verliehen.
Je länger er darüber nachdenkt, desto intensiver spürt er, dass es richtig ist. Entschlossen geht er zu ihrem Platz.
Aber der Tresen ist leer. Nur ein Schild liegt da.
*Wenden Sie sich bitte an die Information in der Empfangshalle. Vielen Dank.*
Sie ist auch hingegangen. Ausgerechnet heute.
Das kam nicht oft vor. Er erinnert sich gern daran. In den wenigen Versammlungen, zu denen sie auch eingeladen war, suchte er sich immer einen Platz in ihrer Nähe. Da konnte er Stella dann genau betrachten. Ihre Gesten studieren.
Ihren gedankenverlorenen, tiefgehenden Blick, dessen Grund er unbedingt kennenlernen möchte.
Zu gern wäre er jetzt dabei.
Stattdessen geht er die Treppe hinunter über die er zuvor kam.
Stufen, eine wie die andere, so wie Stufen eben aussehen.
Er denkt nichts mehr, will nichts mehr, geht einfach nur.
Zwischen den Plastikpflanzen hindurch in die Drehtür auf die Straße.
Ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit rast am Gebäude vorbei und überfährt fast ein kleines Mädchen mit Dackel.
Ein anderer Kleinwagen bleibt direkt vor seinen Füßen im Halteverbot stehen.
A.P. Vixtor überquert die Straße und schaut dabei flüchtig durch die Scheiben auf die Sitze.
Sieht nicht viel, nur Undeutliches. Einige unkenntliche Gestalten zappeln darin.
Er geht vorbei, Richtung Stadtsee.
Hinter seinem Rücken werden die Türen des Kleinwagens aufgerissen. Drei maskierte Typen, schwarz gekleidet, springen heraus und pressen sich durch die Drehtür in die Empfangshalle.
Normalerweise holt ihn Karl hier ab. Sie kommen zusammen, sie gehen zusammen, seit Jahren.
Beide haben denselben Weg.
Karl geht im Moment keiner Arbeit nach. Weiß das Leben zu genießen.
Der Laden, in dem er morgens seinen ersten Kaffe trinkt, liegt nur eine Straße weiter.
Der Mensch braucht seine Routine, sagt er immer.
A.P. Vixtor schlendert in den angebrochenen Tag.
Vielleicht zu Karl, vielleicht nach Hause.
Egal.
Er wird nie erfahren, wie sich ihr Schoß anfühlt.