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Anton W. klaut Klopapier
Auf einer Kloschüssel sitzend konnte Anton W. am besten nachdenken. Er verstand die Männer nicht, die im Stehen ihr Wasser abschlugen. Im Stehen nachdenken? Das gelang Anton nie, also setzte er sich. Auf einer Kloschüssel sitzend hatte er die besten Ideen: Für den Einrichtung seiner Wohnung, die Gestaltung des Gartens, neue Thesen zur Strafrechtsreform.
Anton W.s Toilette war genial: Hinter der Schüssel türmte sich ein Mahagoni-Spülkasten; die Wand gegenüber war verspiegelt; an der Wand gegenüber der Türe prangte ein Jugendstil-Kerzenleuchter, Anton zündete Kerzen an, wenn er viel Zeit hatte; von der Decke hing ein Lüster; die Wände waren verputzt.
Anton duldete keine Fliesen und kein Waschbecken in seiner Toilette, das Waschbecken hatte er vor der Tür anbringen lassen.
Vor einiger Zeit hatte er noch mit dem Gedanken gespielt Musik in seiner Toilette abzuspielen. Er entschied sich dagegen: „Die besten Ideen habe ich an einem stillen Örtchen", dachte er bei sich.
Kein Hinweisschild gängelte die Männer auf die Brille. Wer sich an diesem Ort nicht setzte, war selber schuld.
Aber soweit er den Zustand seiner Toilette nach Besuchen beurteilen konnte, setzte sich außer seinem Neffen (und den Frauen) niemand auf die Mahagoni-Brille. Er registrierte es resigniert und ließ jährlich die Wände streichen, jedesmal in einer anderen Farbe.
Eines Tages, auf der Schüssel einer öffentlichen Toilette sitzend, sah Anton ein Schild: „Toilettenpapier gibt es im Einzelhandel in der Nähe."
Anton kam ins Grübeln: Klaute tatsächlich jemand Klopapier? Warum? Wie? Wie viel? Andererseits - auf der Toilette ist jeder allein und sicher vor Detektivblicken. Er kann sich für oder gegen das Gebot, man solle nicht stehlen, entscheiden, ohne dass irgendein selbsternannter oder angestellter Tugendwächter den Finger erhob. Das war ja das eigentlich Schöne an der Toilette - der Mensch, (fast) frei in den Ausscheidungen, die an solchen Orten herunterfallen.
Ein Diebstahl von Klopapier konnte nicht schief gehen. Der Besitzer konnte ganze Klopapierrollen wegschließen aber nichts gegen das unberechtigte Abrollen ausrichten.
Anton begann an diesem Tag Klopapier zu klauen. Nie eine ganze Rolle, denn er trug selten große Aktenkoffer mit sich herum. Er war Jackett-Träger: Geldbeutel und Schlüssel in der Brusttasche, ein sauberes Taschentuch in der rechten Tasche und das Handy in der rechten Hosentasche - und würde zu spät zu seinem Prozesstermin im Amtsgericht kommen, wenn er hier sitzen bliebe und weiter grübelte.
Anton W. klaute in öffentlichen Toiletten immer genau 12 Blatt und ließ den Streifen so lange in der linken Jackett-Tasche, bis er unbeobachtet 2 Blatt abreißen konnte, um sich die Nase oder die Schuhe zu polieren.
Um die Tränen seiner Freundin Marlene zu trocknen, bevorzugte er aber weiterhin das bewährte Taschentuch aus seiner rechten Jackett-Tasche. Das schien ihm besser für ihr zartes Gesicht.
Anton machte sich kaum Gedanken darüber, ob und wie er Tränen in Marlenes Gesicht verhindern könnte.
In der Drogerie legte er nur dreilagiges Klopapier in den Einkaufswagen und war außer sich, als er einmal in England rosarotes mit Rosenduft entdeckte, das gut zu seiner gerade aktuellen Wandfarbe passte.
Anton beurteilte Häuser nach der Qualität des Klopapiers. Schulen, Krankenhäuser, die Bundesbahn und das Amtsgericht waren einlagige Institutionen und nicht der Rede wert.
Stilisierte Zeichnungen, Federn oder Gänseblümchen, auf manchem Klopapier ärgerten Anton: Warum kam keiner auf die Idee Comics oder Gesetzestexte zu drucken?
Zu seiner Freundin sagte er einmal: „Das ist ein dreilagiges Restaurant." Marlene aber interessierte sich mehr für das Essen und mochte die Klassifikationen ihres Liebsten nicht übernehmen.
Anton sammelte das geklaute Klopapier in einer Schachtel in der Küche. Wenn zehn Streifen beieinander waren, rollte er sie fein säuberlich, sicherte sie oben mit Gummiband, steckte die Röllchen in ein Jogurt-Glas, streifte die Gummibänder ab und lockerte sie mit einer von Marlenes Stricknadeln so, dass sie das Glas ausfüllten. Mit einem runden, weißen Stoffstück aus feinem Leinen drüber gestülpt, mit einem Gummi befestigt, war das Glas fertig für seinen Aufenthalt im Bücherregal, hinter den juristischen Büchern, unsichtbar für Besucher. Anton hätte niemandem erklären können, was die Gläser bedeuteten, die sich im Lauf der Jahre ansammelten.
Niemand konnte Anton W. wegen Diebstahls überführen: die Polizei nicht einmal auf frischer Tat. Marlene interessierte sich eh nicht für Gesetzestexte oder das Bücherregal. Niemand war Zeuge wenn er ein Jogurt-Glas füllte oder schöpfte im Supermarkt Verdacht, wenn er wieder kein Leergut einlöste.
Nach dem hundertsten Glas hatte Anton W. genug. Ungefähr 7.000 Blatt Klopapier in drei Jahren! Er war zufrieden und bereit für andere Abenteuer:
Er bemühte sich, Ladendieben das Gefängnis zu ersparen und verurteilte so oft wie möglich mit Bewährungs-, Geldstrafen oder einlagiger Arbeit in Krankenhäusern.
Er starb auf einer öffentlichen Toilette. Seinem Neffen vermachte er die Einrichtung der Toilette, das Bücherregal, alle Bücher und auch den Klopapierschatz.
Dieser verkaufte die juristischen Bücher an ein Antiquariat und grübelte über die Bedeutung von hundert penibel gefüllten Jogurt-Gläsern. Dann verschönerte er sein WC mit den Hinterlassenschaften seines Onkels, baute ein Regal aus weiß lackiertem Holz für die Gläser und befestigte es über dem Mahagoni-Spülkasten.
[ 13.07.2002, 11:42: Beitrag editiert von: Emma ]