Was ist neu

Anton W. klaut Klopapier

Mitglied
Beitritt
02.06.2002
Beiträge
118
Zuletzt bearbeitet:

Anton W. klaut Klopapier

Auf einer Kloschüssel sitzend konnte Anton W. am besten nachdenken. Er verstand die Männer nicht, die im Stehen ihr Wasser abschlugen. Im Stehen nachdenken? Das gelang Anton nie, also setzte er sich. Auf einer Kloschüssel sitzend hatte er die besten Ideen: Für den Einrichtung seiner Wohnung, die Gestaltung des Gartens, neue Thesen zur Strafrechtsreform.

Anton W.s Toilette war genial: Hinter der Schüssel türmte sich ein Mahagoni-Spülkasten; die Wand gegenüber war verspiegelt; an der Wand gegenüber der Türe prangte ein Jugendstil-Kerzenleuchter, Anton zündete Kerzen an, wenn er viel Zeit hatte; von der Decke hing ein Lüster; die Wände waren verputzt.
Anton duldete keine Fliesen und kein Waschbecken in seiner Toilette, das Waschbecken hatte er vor der Tür anbringen lassen.
Vor einiger Zeit hatte er noch mit dem Gedanken gespielt Musik in seiner Toilette abzuspielen. Er entschied sich dagegen: „Die besten Ideen habe ich an einem stillen Örtchen", dachte er bei sich.

Kein Hinweisschild gängelte die Männer auf die Brille. Wer sich an diesem Ort nicht setzte, war selber schuld.
Aber soweit er den Zustand seiner Toilette nach Besuchen beurteilen konnte, setzte sich außer seinem Neffen (und den Frauen) niemand auf die Mahagoni-Brille. Er registrierte es resigniert und ließ jährlich die Wände streichen, jedesmal in einer anderen Farbe.

Eines Tages, auf der Schüssel einer öffentlichen Toilette sitzend, sah Anton ein Schild: „Toilettenpapier gibt es im Einzelhandel in der Nähe."
Anton kam ins Grübeln: Klaute tatsächlich jemand Klopapier? Warum? Wie? Wie viel? Andererseits - auf der Toilette ist jeder allein und sicher vor Detektivblicken. Er kann sich für oder gegen das Gebot, man solle nicht stehlen, entscheiden, ohne dass irgendein selbsternannter oder angestellter Tugendwächter den Finger erhob. Das war ja das eigentlich Schöne an der Toilette - der Mensch, (fast) frei in den Ausscheidungen, die an solchen Orten herunterfallen.

Ein Diebstahl von Klopapier konnte nicht schief gehen. Der Besitzer konnte ganze Klopapierrollen wegschließen aber nichts gegen das unberechtigte Abrollen ausrichten.
Anton begann an diesem Tag Klopapier zu klauen. Nie eine ganze Rolle, denn er trug selten große Aktenkoffer mit sich herum. Er war Jackett-Träger: Geldbeutel und Schlüssel in der Brusttasche, ein sauberes Taschentuch in der rechten Tasche und das Handy in der rechten Hosentasche - und würde zu spät zu seinem Prozesstermin im Amtsgericht kommen, wenn er hier sitzen bliebe und weiter grübelte.

Anton W. klaute in öffentlichen Toiletten immer genau 12 Blatt und ließ den Streifen so lange in der linken Jackett-Tasche, bis er unbeobachtet 2 Blatt abreißen konnte, um sich die Nase oder die Schuhe zu polieren.
Um die Tränen seiner Freundin Marlene zu trocknen, bevorzugte er aber weiterhin das bewährte Taschentuch aus seiner rechten Jackett-Tasche. Das schien ihm besser für ihr zartes Gesicht.
Anton machte sich kaum Gedanken darüber, ob und wie er Tränen in Marlenes Gesicht verhindern könnte.

In der Drogerie legte er nur dreilagiges Klopapier in den Einkaufswagen und war außer sich, als er einmal in England rosarotes mit Rosenduft entdeckte, das gut zu seiner gerade aktuellen Wandfarbe passte.
Anton beurteilte Häuser nach der Qualität des Klopapiers. Schulen, Krankenhäuser, die Bundesbahn und das Amtsgericht waren einlagige Institutionen und nicht der Rede wert.
Stilisierte Zeichnungen, Federn oder Gänseblümchen, auf manchem Klopapier ärgerten Anton: Warum kam keiner auf die Idee Comics oder Gesetzestexte zu drucken?
Zu seiner Freundin sagte er einmal: „Das ist ein dreilagiges Restaurant." Marlene aber interessierte sich mehr für das Essen und mochte die Klassifikationen ihres Liebsten nicht übernehmen.

Anton sammelte das geklaute Klopapier in einer Schachtel in der Küche. Wenn zehn Streifen beieinander waren, rollte er sie fein säuberlich, sicherte sie oben mit Gummiband, steckte die Röllchen in ein Jogurt-Glas, streifte die Gummibänder ab und lockerte sie mit einer von Marlenes Stricknadeln so, dass sie das Glas ausfüllten. Mit einem runden, weißen Stoffstück aus feinem Leinen drüber gestülpt, mit einem Gummi befestigt, war das Glas fertig für seinen Aufenthalt im Bücherregal, hinter den juristischen Büchern, unsichtbar für Besucher. Anton hätte niemandem erklären können, was die Gläser bedeuteten, die sich im Lauf der Jahre ansammelten.

Niemand konnte Anton W. wegen Diebstahls überführen: die Polizei nicht einmal auf frischer Tat. Marlene interessierte sich eh nicht für Gesetzestexte oder das Bücherregal. Niemand war Zeuge wenn er ein Jogurt-Glas füllte oder schöpfte im Supermarkt Verdacht, wenn er wieder kein Leergut einlöste.

Nach dem hundertsten Glas hatte Anton W. genug. Ungefähr 7.000 Blatt Klopapier in drei Jahren! Er war zufrieden und bereit für andere Abenteuer:
Er bemühte sich, Ladendieben das Gefängnis zu ersparen und verurteilte so oft wie möglich mit Bewährungs-, Geldstrafen oder einlagiger Arbeit in Krankenhäusern.
Er starb auf einer öffentlichen Toilette. Seinem Neffen vermachte er die Einrichtung der Toilette, das Bücherregal, alle Bücher und auch den Klopapierschatz.
Dieser verkaufte die juristischen Bücher an ein Antiquariat und grübelte über die Bedeutung von hundert penibel gefüllten Jogurt-Gläsern. Dann verschönerte er sein WC mit den Hinterlassenschaften seines Onkels, baute ein Regal aus weiß lackiertem Holz für die Gläser und befestigte es über dem Mahagoni-Spülkasten.

[ 13.07.2002, 11:42: Beitrag editiert von: Emma ]

 

Hmm, ein Klopapiersammler, also? Wirklich eine interessante Einrichtungsidee. Ob zwölf Blatt Klopapier wirklich ein Klau sind? Mutiger Anton! Traust dir was! Irgendwie gefiel mir die Geschichte, auch wenn erst der Neffe etwas mit dem geklauten Klopapier anzufangen wusste.

Wäre interessant zu wissen, welches Verhältnis Anton zu Lebzeiten zu seinem Neffen hatte.

Eine wirlkich interessante EInrichtungsidee! Mal sehen, ob ich da nicht irgendwo zwölf Blatt Klopapier herkriege, Joghurtgläser könnten auch kein Problem sein.....

Liebe Grüße
Babs

 

@mrchance
Wenn Amtsrichter auf öffentlichen Toiletten sitzen , unberechtigt Klopapier abrollen und dieses stehlen, rüttelt das an den Grundlagen der christlich-abendländischen Kultur. Die Geschichte könnte insofern auch in der Horror-Schublade stehen, so ist das nun mal mit Schubladen.
@Barbara
Du brauchst Geduld, um ein Yogurt-Glas mit 10x10 Blatt Klopapier zu füllen. Ich habe vor ein paar Wochen 10 Blatt Cinemaxx-Papier gerade aufgerollt und dann beschlossen, die Idee nicht zu verwirklichen.

 

Also, du hast es selbst ausprobiert? Na gut, dann lass ich's lieber. Obwohl, die Idee an und für sich....

Liebe Grüße
Babs

 

:lol: Coole Geschichte. Ist mal was ausgefallenes und außerdem gut zu lesen.

Die Pointe mit dem Richter ist klasse.

:rotfl: :rotfl:

SUPER!

Und das alles aus dem alten Geschlechterkampf um die Toilette abgeleitet... :D

 

hallo emma, die idee an sich gefällt mir. allerdings hat deine story in "humor" wirklich nichts zu suchen, denn bestenfalls ein schmunzeln ist drin. (frag mich jetzt bitte nicht, wohin du sie verschieben willst - ich weiß es auch nicht!). Was mich zum schunzeln gebracht hat ist:
"
und ein Maler strich die Wände einmal pro Jahr in einer neuen Farbe." ---vielleicht hätte er gelb nehmen sollen und hätte dann nur alle zwei jahre streichen müssen??

auch die klassierung von hotels/restaurants/öffentlichen gebäuden nach der anzahl der lagen des klopapiers finde ich originell. gruß ernst.

 

Danke! Lob tut gut. Das Sortierspiel mit den Schubladen können wir mit Anton W. nicht zu Ende spielen. George Harrison hat es einfacher gehabt: "Ich bin ein ordentlicher Mensch, Socken kommen bei mir in die Sockenschublade und Dope in die Dopeschachtel." (The Beatles - Anthology)
Grüße von Emma

 

Anton W.s Einteilung verschiedener Lokalitäten gefällt mir besonders gut. Allerdings drängt sich mir die Frage auf, ob einlagige Arbeit in Krankenhäusern nicht in Anton W.s Einschätzung eine härtere Strafe bedeutet, als das sicher auch einlagige Gefängnis, indem der Delinquent aber immerhin Hand an sich selbst und nicht an andere legen muß.
Gruß Alonsky

 

Hallo Emma,

Anton W.s Toilette war genial

Das mag schon sein, aber so genial wie deine Geschichte sicher nicht ...
Wunderbar amüsant ... schräge Idee und echt lesenswert! :D
Hab ein paar Sachen rausgefischt, die mir besonders gut gefallen haben:

Anton duldete keine Kacheln und kein Waschbecken in seiner Toilette.
Wer klaut Klopapier? Warum? Wie? Wie viel?
oder einlagiger Arbeit in Krankenhäusern

Mach mich mal auf die Suche nach weiteren Geschichten von dir ...

Grüße!

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom