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Anton W. fährt nach Radolfzell
Anton W. kam aus dem Urlaub: Eine Woche Erholung in einer Hütte in Bayern: Eine Woche ohne Radio, Fernseher und Zeitung - eine Woche lang wandern, kochen, essen, schlafen. Diese Auszeit gönnte sich der gewissenhafte Amtsrichter einmal im Jahr und er fühlte sich wie eine neu formatierte Festplatte. Mit seinem Rucksack auf dem Buckel, stieg Anton in München in den Zug, er wollte nach Hause, nach Radolfzell: Heute Abend würde er wieder bei seiner Freundin Marlene sein. Er freute sich sehr auf sie, er wollte nett sein und ihr öfter erzählen, was er dachte. Die Luft roch nach kaltem Regen, aber das Wetter war ihm egal.
Im Zug richtete er sich auf seine Weise ein: Er saß bei den Nichtrauchern, nie am Eingang; Jackett und Rucksack kamen auf den Nebenplatz, sodass sich da zuletzt jemand hinsetzte; auf die kleine Ablage platzierte er das Logikrätselheft, ebenso eine Flasche Apfelsaft, getrocknete Pflaumen und zwei Laugenbrezeln. Mehr würde er bis zur Ankunft in Radolfzell, seiner Heimatstadt am Bodensee nicht brauchen. Marlene erreichte er über sein Handy: Sie würde ihn vom Bahnhof abholen und dann mit in seine Wohnung gehen.
„Sie ist ein gutes Mädchen", dachte er und morgen würde er wieder am Amtsgericht amtsrichten.
Zwei Stunden später hatten sich die erwarteten Regentropfen in dicke Schneeflocken verwandelt. Anton W. war es ungemütlich und er zog sein Jackett an. Die Rätsel im Heft verlangten seine volle Aufmerksamkeit.
„Der Schöpfer des Werkes Venus wurde entweder ein Jahr früher oder ein Jahr später geboren als Martin, der in einem früheren Jahr verstarb als der 1511 geborene Künstler, jedoch zwei Jahre später als Schollgauer." Er liebte diese Sätze, sprach sie leise vor sich hin, formte sie mit seinen Lippen nach oder schüttelte den Kopf. Martin war also nicht der Schöpfer des Werkes Venus, starb nicht 1511, sondern früher und hieß mit Nachnamen nicht Schollgauer. Anton musste zuerst herausfinden, wann Schollgauer gestorben war.
Er war mit seinen Rätselkünsten sehr zufrieden, im Lauf der Jahre fühlte er sich darin wie ein Meister, auch diesmal würde er sich am Preisausschreiben beteiligen. Er benutzte keine Digitalkamera, die dieses Mal zu gewinnen war, aber vielleicht würde sich Marlene darüber freuen.
„Die Heizung geht nicht." sagte er, als der Schaffner die Fahrkarte kontrollierte.
Die Heizung funktioniere sehr wohl, bekam Anton W. als Antwort und den guten Rat, er solle sich der Jahreszeit entsprechend anziehen.
Vor Lindau war es im Zug kalt geworden. Draußen schneite es so, als würden Milliarden weißer Korken auf die Erde prallen. Anton W. sah in die weiße Landschaft. „Die Skifahrer werden sich freuen", dachte er, „aber die Heizung sollte funktionieren!" Zum Schaffner sage er, dass er wüsste, wie es sich in einem beheizten Zug anfühle und er könne ihm ruhig glauben, wenn er zum zweiten Mal bemerke, dass die Heizung in diesem Abteil nicht heize. Der Schaffner hatte es aber sehr eilig und war weiter gestürmt, bevor er diesem nörgelnden Fahrgast eine unfreundliche Antwort geben konnte. Der Zug fuhr mit einer Stunde Verspätung in den Bahnhof Lindau ein. „Seltsam", dachte Anton, auf dem Bahnsteig stand eine Abteilung des Roten Kreuzes: Die Helferinnen schöpften dampfende Suppe in Teller und Menschen in langen Wintermänteln standen Schlange. „Bei solchen Ereignissen, wenn es Ereignisse sind, gibt es fette Erbsensuppe", dachte Anton und holte sich keinen Teller in den Zug. Der Aufenthalt im Bahnhof verzögerte sich um eine weitere Stunde. Viele Menschen stiegen zu, Anton gab den Nebenplatz auf.
„Ich komme wie immer zu spät Liebling", säuselte er in sein Handy „es ist so kalt hier, schalte bitte das Radio ein, ich rufe dich an, wenn ich die Ankunftszeit weiß, dann kannst du mir die Nachrichten erzählen." Marlene war daran gewöhnt, dass ihr Liebster zu spät, oder gar nicht kam. Sie würde Anton sicher erst morgen treffen.
„Sie ist ein gutes Mädchen", dachte Anton W. und hielt die Ellenbogen dicht am Körper um dem Nachbarn nicht zu nahe zu kommen.
Dann bemühte er sich um das nächste Logikrätsel: Frau Reinhardt reiste nach Brinteln. Ihr Zug fuhr irgendwann nach dem ab, auf den Frau Artinger wartete und direkt vor dem des Fahrgastes, der sich die Wartezeit mit einem Roman verkürzte. Anton würde jetzt lieber bei Frau Reinhardt und Frau Artinger in einem warmen Wartesaal sitzen und dort das Rätsel lösen - hier konnte er sich nicht mehr auf darauf konzentrieren: Er steckte das Heft in seinen Rucksack.
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Alle im Wagon redeten nun über die Heizung. Handys dudelten, Fahrgäste sprachen - aber nicht miteinander. Seit der Abfahrt waren sechs Stunden vergangen und sie tuckerten weiter nach Westen. Das Geräusch des Zuges glich einem mühsamen Ächzen, als ob die Zugmaschine mit schwerer Ladung eine Steigung zu bewältigen hätte. An den nächsten Haltestellen stiegen so viele Menschen zu, dass die Fahrgäste beschlossen, von nun an ihren Wagon gegen neu Zusteigende zu verteidigen. Marlene rief an und Anton W. erfuhr von außergewöhnlichen Schneefällen im Bodensee-Gebiet, in zwei Stunden seien drei Meter Schnee gefallen, die Temperatur würde weiter fallen und dass Fahrzeuge diesen Raum weiträumig umfahren sollten. Es bestünde keine Gefahr für die Bevölkerung, die Behörden hätten die Lage unter Kontrolle. „Hol’ mich besser nicht vom Bahnhof ab. Wir treffen uns morgen Abend wie immer im Café Fehlurteil. Du bist ein gutes Mädchen! Tschüss!"
Anton W. nahm seinen Rucksack und ging auf die Toilette. Sie stank, wie Zugtoiletten stinken: nach Urin und Maschinenöl. Er würde alle artistischen Fähigkeiten einsetzen müssen, um sich umzuziehen. Er legte den Klodeckel auf die Schüssel und stellte sich darauf: So würde er nicht in Socken in die Soße auf dem Fußboden treten. In seinem Rucksack waren warme Unterhosen, Unterhemden, Wollpullover, Socken, ein Anorak; die Ausrüstung für die Woche auf der Hütte würde noch einmal zum Einsatz kommen; Anton zog alles an, was in Hose und Anorak passte und dachte an den Schaffner, der sicher keine warme Wäsche in seiner Aktentasche dabei hatte. Er, Anton W., verfügte sogar über Handschuhe, Schal und Mütze.
Der Zug pflügte oberhalb des Bodensees. Anton wusste, dass der See in Sichtweite sein musste, aber die Schneewälle entlang der Gleise waren so hoch wie der Zug. Manchmal sah er einen gewaltigen Schneehaufen und vermutete darunter ein Haus. Es hatte aufgehört zu schneien und Anton kam es vor, als ob es kälter würde. Die Mitreisenden fragten, ob in den Koffern und Rucksäcken im Gepäcknetz warme Kleider wären? Anton und einige andere Reisende verteilten die vorhandenen Kleidungsstücke.
Anton hatte die Aufgaben in seinem Logikrätselheft vergessen, diese Situation erforderte seine volle Aufmerksamkeit. Handys piepten, Gerüchte um Erfrorene und Verschüttete waberten durch den Zug. Im Bodenseegebiet sei der Ausnahmezustand ausgerufen worden, man evakuiere die Bevölkerung mit Hubschraubern. Alle Räumfahrzeuge aus dem Schwarzwald und dem Allgäu seinen auf dem Weg zum Bodensee. Anton rief beim Amtsgerichtspräsidenten an, der sich auf Mallorca vergnügte und nicht daran interessiert war, am Montag zu arbeiten, er gab Anton W. weitere Tage Urlaub. Der penible Amtsrichter überlegte kurz, ob die nächsten Tage von seinem Urlaubsanspruch abgezogen oder ob bei Katastrophen andere Regelungen gelten würden.
In Lindau sei ein Schneepflug vor den Zug gekoppelt worden, berichtete der Schaffner und schüttelte den Kopf, als Anton mit dem Fahrschein wedelte und mit aufgesetzter Amtsrichtermine eine intakte Heizung einforderte. Der Schaffner hatte in den Jahren bei der Deutschen Bundesbahn viel gesehen: Während er langsam bis zehn zählte und die Deckenbeleuchtung erforschte (sie funktionierte einwandfrei), ließ er Anton W. Zeit, um weitere gerichtsverwertbare, juristisch einwandfreie Sätze an das Publikum zu richten, das jeden einzelnen Satz begierig aufsog und in den nächsten Stunden die eine oder andere Redewendung wiederholte. Dann atmete der Schaffner aus und ging weiter. Er trug nie lange Unterhosen. „Dieses Wochenendticketpack soll froh sein, wenn die Beleuchtung funktioniert", dachte er, während er an sich dachte. Im Cockpit gab es Kaffee aus der Thermoskanne, die hatte eine Rotkreuzhelferin in Lindau gebracht. Im Cockpit war auch mehr Platz, er würde sich in den nächsten Stunden nicht mit Passagieren beschäftigen. Fahrkartenkontrolle? Er würde sich nur noch um sich selbst kümmern, vielleicht bei einer Schachpartie mit dem Zugführer?
Anton W., mit dem Fahrschein in der Hand, folgte dem Schaffner, gab es aber bald auf, weil Reisende (Flüchtlinge) den Gang blockierten. Er ging zurück zu seinem Platz, auf dem ein etwa fünfjähriges Mädchen kreischte. Es kam durchs Fenster geflogen, das ein Fahrgast geöffnet hatte um im Bahnhof Salem nach draußen zu sehen. Der Fahrgast duckte sich und das Kind knallte auf den Boden bevor es sich auf den einzigen freien Platz schleppte.
Anton konnte weinende Frauen nicht ertragen, sie heulten zuhauf bei ihm im Gerichtssaal: Mütter, Frauen, Zeuginnen, Angeklagte. Er benahm sich gegenüber dem Mädchen so, wie er es bei Marlene gelernt hatte. Er nahm sie in seine Arme, zückte das Taschentuch, das er immer frisch in seiner rechten Jackett-Tasche bereit hielt und murmelte sinnlose Sätze wie: „Ist ja nicht so schlimm! Alles wird gut! Warum weinst du denn? Tut dir was weh?" Dann steckte er ihr die letzten getrockneten Pflaumen in den Mund. Heulende Frauen können nichts sagen, das war schon mal ein Vorteil, und wenn sie etwas runterschlucken, hören sie sogar auf zu heulen.
Das Mädchen hieß Dora, soviel hatte Anton dann herausgefunden und Doras rechter Arm tat sehr weh. Wahrscheinlich war er gebrochen. Im Wagon war kein Arzt, nicht einmal eine Krankenschwester. Anton hielt Dora vorsichtig auf seinem Schoß und sie wärmten sich gegenseitig.
Der Zug hielt zwischen Salem und Radolfzell. Das Klingeln der Handys ließ nach. Die Leute draußen wussten, dass ungefähr eine halbe Million Menschen aus unerträglichen Situationen zu befreien waren; die Leute im Katastrophengebiet wussten, dass ungefähr eine halbe Million Menschen aus unerträglichen Situationen zu befreien waren. „Alles eine Frage der Zeit und des Durchhaltens", dachte Anton W. Die Lebensmittel - aufgegessen, die Wasserleitungen der Toiletten und das Kondenswasser an den Scheiben - eingefroren.
Zwei Mädchen sangen „Floret Silva" und dachten dabei an den Frühling, andere beteten oder übten Yoga. Dann war es still und dunkel. Dora zitterte laut, Anton öffnete seinen Anorak und schloss sie darin ein, sie zitterte weiter, dann fiel sie in Ohnmacht. Kurz bevor Anton eindämmerte, flüsterte er: „Die Heizung geht nicht, das können Sie mir glauben!"
Anton W., Dora und die anderen sind in dieser Nacht nicht gestorben.
Den verantwortlichen Oberamtsrat bei der Bundesbahn überfiel die Erkenntnis, dass es nicht so gut für seine Kariere war, wenn er einen voll besetzten Zug in der Schneewüste nördlich des Bodensees aufgab. Er saß an seinem Schreibtisch und telefonierte (als „Retter vom Bodensee" bekam er das Bundesverdienstkreuz und die Honoratioren, die ihn feierten, fragten den Retter nicht, warum er den Zug mit Pflug in die Schneewüste nördlich des Bodensees fahren ließ).
Zuerst erreichte ein Hubschrauber den Zug, lud eine Mannschaft des Roten Kreuzes aus und nahm die ersten Passagiere mit. Die Helferinnen verteilten mit Feuereifer handgestrickte Pulswärmer, Wärmflaschen, Wadenwickel, Wolldecken, fette Erbsensuppe und legten die Reihenfolge fest, in der die Fahrgäste ausgeflogen wurden.
Der „Retter vom Bodensee" telefonierte so penetrant, bis die Bundeswehrführung einen Panzer schickte. Dieser brach mit Höllengeräuschen durch die Schneewälle und erreichte den Zug, als die Hälfte der Passagiere schon evakuiert war. Anton und Dora sahen zu, wie der Panzer sich mit dem gleichen Getöse wieder in der weißen Landschaft verlor.
Beide waren gestärkt durch fette Erbsensuppe und Dora wollte sich nicht mehr von Anton trennen, er hielt sie in seinem Anorak im Arm und nannte sie „meine kleine Wärmflasche". Er achtete darauf, ihren rechten Arm nicht zu berühren; so warteten sie gemeinsam auf einen Platz im Hubschrauber.
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