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Anthrazit

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Anthrazit

Der dunkelblau lackierte Bauwagen steckt tief im Morast. Bis zum Unterboden. An der Deichsel hängt ein alter Eicher, Baujahr Ende Sechziger, Anfang Siebziger. Noch kein Allrad und mit nachträglich angeflanschtem Überrollbügel. Aber wo ist der Fahrer? Schon von weitem konnte ich erkennen, dass mir das Gespann auf dem schmalen Feldweg Platz machen wollte. Fendt samt Egge brauchen die ganze Breite des Weges. Unglücklicherweise ist die Ausweichstelle noch nicht abgetrocknet. Ich fahre bis dicht vor den Eicher, halte an, schalte den Motor aus und senke die Egge ab. Niemand zu sehen. Alles ist still hier oben auf dem Weidenbuckel. Vielleicht ist der Fahrer im Wald für eine Pinkelpause. Ohne Hilfe schafft es der Eicher jedenfalls nicht, den Bauwagen aus dem Schlamm zu ziehen. Er würde sich nur tiefer eingraben. Kurzentschlossen steige ich aus.
»Hallo?!«
Der Elektrozaun klackt alle paar Sekunden und das Fleckvieh schaut interessiert was vor sich geht. Etwas knarrt. Ich sehe eine sich öffnende Tür an der zur Weide liegenden Seite des Bauwagens, jemand steigt aus. Latzhose, schwarzes T-Shirt und kurzgeschorene Haare. Der Jemand entpuppt sich als junge Frau. Mein Alter, schätze ich.
»Servus!«, sagt sie, die Hand kurz zum Gruß gehoben. »Hab mich festgefahren. Kannst du mir raushelfen? Ich glaube, der Eicher packt das nicht.« Das hat sie richtig erkannt. Ich kann nur nicken.
»Das mache ich gerne, aber zuerst muss ich einen Acker eggen. Nicht weit von hier. Dauert etwa eine halbe Stunde.« Sie schaut mich an, dann den ganzen Feldweg entlang, nach Westen Richtung Hof und zurück, nach Osten. Nichts. Es wird niemand kommen. Das wird ihr klar.
»Geht das nicht jetzt? Du hast doch dieses Monster. Der müsste das leicht schaffen, oder?« Sie kommt näher. Schritt für Schritt. Fast meine Größe. Eine Kraft drückt mich zurück, wie eine mächtige Bö, aber es ist nur ein Gefühl. Das Gefühl, zurückweichen zu müssen. Vor was?
»Das wird er schaffen, der Fendt, aber schau mal«, ich deute auf die vordere Kupplung. »Die ist auf Straßenebene schon fünfzig Zentimeter höher als deine Deichsel. Und der Bauwagen hängt tief im Schlamm. So hoch bekommen wir die Kupplung nicht. Selbst wenn, würde die Öse verkanten. Das wird nicht klappen.«
»Wie dann?« Sie kratzt sich den Kopf.
»Ich muss erst auf den Acker. Es ist windig, morgen ist er abgetrocknet und wir können säen. Deswegen erledige ich das schnell. Danach bringe ich die Egge zurück und baue die Ackerschiene dran. Damit kommen wir so tief runter. In einer Stunde ist alles erledigt.« Sie zieht die Augenbrauen hoch, presst die Lippen aufeinander und weiß, es gibt jetzt keine andere Möglichkeit.
»Okay. Wo ist dein Acker?« Ich nicke Richtung Bäume.
»Gleich hinter dem Waldstück. Warte hier auf mich, es dauert nicht lange.«
»Kann ich mit? Ich hab das noch nie gesehen.« Sie schaut mich wieder an. Direkt. Mehr als das. In mich hinein. Ich weiß in dieser Sekunde, woher das Gefühl kommt, zurückweichen zu müssen. Es sind ihre Augen, der Blick, das, was sie ausstrahlen. Die Pupillen sind unterscheidungslos schwarz, kein Kern, kein äußerer Ring. Falsch, nicht schwarz, eher ein dunkles Grau. Große, dunkelgraue Teller. Ich strecke die Hand aus, sie greift zu. Sehr kräftig.
»Heinrich.«
»Michaela.«
»Steig ein, Michaela. Du zuerst, sonst musst du über mich drüber klettern.« Im Nu hockt sie auf dem Notplatz schräg hinter mir, den Kopf eingezogen. Ich setze mich, schließe die Tür und drücke den Start-Knopf. »Sorry, die Kabine könnte sauberer sein«, sage ich schulterzuckend. Hydraulikhebel nach oben ziehen, die Egge löst sich vom Boden, der Fendt geht leicht in die Hocke. Von Michaela sehe ich nur das linke Knie.
»Wow«, sagt sie. »Wie groß ist diese Egge?«
»Ausgeklappt ist die Arbeitsbreite elf Meter.« Ich blicke mich um. Alles frei. Es geht los. Eicher und Bauwagen bleiben zurück.

***​

Die Egge ist in der Maschinenhalle abgesetzt. Vierkanthölzer unter die Eckpunkte. Michaela steht auf der Seite und schaut interessiert zu, dann kommt Robert, mein Chef. Er kaut auf einer Möhre, hebt die Hand und geht direkt auf Michaela zu. Sie grüßt ihn zurück und ich runzle die Stirn. Die beiden kennen sich.
»Schon angekommen?«
»Ja, aber ich bin mit dem Bauwagen im Schlamm steckengeblieben. Heinrich hilft mir. Ich hoffe, das ist in Ordnung?«
»Klar, kein Problem.« Robert beißt ein großes Stück ab, kaut, schaut uns an. Ich warte auf eine Erklärung und hebe die Augenbrauen. »Macht Ihr mal«, sagt er. Ein Stück Möhre fällt aus seinem Mund. »Ich hole in der Genossenschaft noch Ersatzschare für die Drillmaschine. Den Platz habe ich saubergemacht. Bleibt erst mal dabei, bis Herbst, oder?« Michaela nickt.
»Bis Herbst. Kurz vor den Herbstferien, denke ich.«
»Alles klar. Dann bis später.« Er hebt die Hand mit der Möhre und geht auf den MB Trac zu. Den Platz saubergemacht … tatsächlich hat er gestern die Betonplatte hinter dem Kleinviehstall mit dem Hochdruckreiniger abgedampft, über was ich nicht weiter nachgedacht habe. Ich hole die Ackerschiene aus dem Regal und hänge sie in die Unterlenker. Michaela lehnt am rechten Hinterrad.
»Sehe ich das richtig, dass wir den Bauwagen auf die Betonplatte hinter dem Stall ziehen?« Michaela grinst.
»Ihr beiden redet offenbar nicht über alles. Ich habe den Platz gemietet. Erst mal bis Herbst. Wasser und Strom liegen dort, hat er gemeint. Toilette und Dusche könnte ich im Gesindehaus benutzen. Gesinde bist du, oder?« Ein Lachanfall lässt mich auf die Knie fallen. Er dauert. Tränen kommen. Ich verschlucke mich und huste. Michaela klopft ein paar Mal meinen Rücken. Es wird besser und ich richte mich auf, atme tief durch. Sie klettert in die Kabine und schaut zum Rückfenster raus. »Fahren wir?« Ich nicke, steige ein und spüre ihre Augen auf meinem Nacken ruhen. Zwei gleichpolige Magnete. So komme ich mir vor neben ihr. Nichts wie raus aus der Maschinenhalle und den Bauwagen auf den Hof gebracht.

»Bist du der Lehrling?«
»Nein, der Geselle«, erwidere ich und öffne die Frontscheibe. Ein warmer Frühlingswind wirbelt Lehm auf. Die Tankuhr zeigt Reserve.
»Wie alt bist du?«
»Zweiundzwanzig.« Für den Bruchteil eines Gedankens hoffe ich, ihr Alter im Gegenzug zu erfahren, aber Eicher und Bauwagen kommen in Sichtweite. Alles ist unverändert. Da es nicht mehr geregnet hat, wird die Schlammkuhle fast abgetrocknet sein, was die Angelegenheit vereinfacht. »Wie alt ist der Bauwagen?«
»Oh, ich weiß nicht. Hab ihn vor knapp zwei Jahren aus einer Insolvenzmasse gekauft für 400 Mark und für 600 Mark renoviert. Hauptsächlich von innen. Dann war mein Geld alle. Warum fragst du?«
»Wegen des Rahmens. Wenn ich mit den 200 PS ziehe, muss der Rahmen das verkraften. Sind da Roststellen, Schwachpunkte, dann kann er brechen.« Sie schweigt einen Augenblick. Denkt sicher an den Unterboden und wie er aussieht.
»In der Tat habe ich einmal drunter gelegen und gedacht, das wäre so weit okay.«
»Warst du nicht beim TÜV?«
»Beim TÜV?« Ein Zögern, dann räuspert sie sich. »Ich fahre ja nur über Feldwege durch die Gegend.«
»Nur über Feldwege?« Ich versuche mir vorzustellen, wie das gehen soll. An irgendeinem Punkt muss man immer offizielle Straßen überqueren oder durch ein Dorf.
»Aber der Eicher hat TÜV und ne grüne Nummer«, sagt sie stolz. Wir sind angekommen und ich antworte nicht mehr. TÜV hin oder her. Mir kann es egal sein. Ich wende den Fendt.
»Na gut, Michaela. Hat der Bauwagen Stützen?«
»Ja, an allen vier Ecken. Sie liegen drin.«
»Bitte steck sie auf, dann häng den Eicher ab, fahr drei oder vier Längen vor und warte.« Um nicht über mich klettern zu müssen, verlässt sie die Kabine durch die hintere Scheibe. Michaela ist ziemlich gelenkig und mir wird ganz anders, denn das ist nicht ungefährlich.
Sie erledigt alles und hat ihren Schlepper zwanzig Meter vorgefahren. Rückwärts setze ich vor die Deichsel des Bauwagens, senke die Ackerschiene ab, fahre noch ein Stück zurück und hebe sie langsam an. Dann steige ich aus, stecke den Bolzen durch die Öse in die Schiene, Sicherungssplint hinein, entferne die Stützen und los geht es. Langsam anheben, zehn, fünfzehn Zentimeter, Allrad einschalten, kleine Untersetzung einlegen und im Standgas anfahren. Alles läuft wie am Schnürchen. Nach einer Minute steht der Bauwagen auf dem geteerten Feldweg. Michaela kommt angerannt, steigt in die Kabine und küsst meine Stirn.

***​

Der Mais ist gesät. Bei erstklassigem Wetter war alles in vier Tagen erledigt und inzwischen weiß ich auch, wie Michaela durch die Gegend zieht. Sie fährt mit dem Eicher Höfe ab und fragt, ob sie eine Zeit lang dort unterkommen kann, einen Platz mieten, gegen kleines Entgelt. Strom und Wasser bezahlt sie auch. Das mit der Toilette klappt nicht immer. Für den Fall hat sie eine Campingtoilette im Wagen. Sie ist ein Jahr älter als ich, seit zwei Jahren unterwegs und gelernte Gold- und Juwelenschmiedin und mit Gelegenheitsarbeiten in dem Metier hält sie sich über Wasser. Für meinen Chef sind es 200 Mark im Monat plus Wasser und Strom, für mich bedeutet es, Toilette und Dusche zu teilen, was nicht wirklich ein Problem ist, denn ab sechs Uhr in der Früh bin ich draußen und vor acht Uhr am Abend komme ich nicht in die Dusche. Es ist das erste Mal, dass ich sehe, wie jemand in einem Bauwagen lebt; abgesehen von der sonntäglichen Löwenzahn-Sendung.

Ich stehe im Kälberstall, kontrolliere Augen und Hufe, die Tränke und denke über Michaela nach. Es ist schön, den Bauwagen zu sehen, ihre Stimme zu hören, wenn sie hilft, die Kühe von der Weide zu holen. Etwas daran beruhigt mich, legt ein sanftes Tuch über mein Leben. Nur eine Sache stört mich. Das was Michaela umgibt. Wo sie geht und steht, aus dem Bauwagen steigt und sich streckt, unter der Linde sitzt und die Hunde krault, ist immer eine Wolke. Eine Blase, die sie schützt. Nicht schwarz, ein dunkles Grau, wie das Getriebegehäuse des Fendt. Grauguss. Anthrazit. Scheint die Sonne, dann erreicht nicht alles Licht Michaelas Körper. Ein Teil von ihr liegt immer im Schatten. Die Wolke ist ihr ständiger Begleiter.
»Aua!« Die Kälber fressen meine Gummistiefel an, knabbern ein Loch ins Hosenbein. Dann zwickt es und ich schrecke aus den Gedanken auf, zerschneide die Schnüre der Strohballen und streue ein. Wie verrückt springen die Kleinen auf und ab, boxen gegen meine Hüften oder ihre Kumpel, schnullen am Trinkwassernippel und möchten mich am liebsten umstoßen. »Ich werde der Sache auf den Grund gehen müssen«, kündige ich an und sie stehen für einen Moment still. Dann geht es wieder los. »Tobt ihr euch mal aus.« Ich stelle die Gabel übers Gitter und klettere hinaus. Michaela kommt in diesem Moment durch die Halbtür herein, sieht mich und winkt. Es ist spannend, sie zu beobachten. Jeden Augenblick kann etwas Besonderes passieren, das es auf diesem Planeten bisher noch nicht gab.
»Heinrich, ich hab dich gesucht.«
»Du hast mich gefunden.« Ein schmales Lächeln ist die Reaktion. Und da ist die Farbe ihrer Augen. Anthrazit. Noch nie gesehen an einem Menschen, aber so alt bin ich ja noch nicht. Jedenfalls ist es sehr verwirrend.
»Robert hat gesagt, ihr hättet eine Grube in der Maschinenhalle?«
»Haben wir.«
Sie nickt. »Kannst du mir helfen, den Bauwagen drüber zu fahren? Ich will mal schauen, was Rahmen und Unterboden für Schäden haben. Das mit dem TÜV lässt mir keine Ruhe.«
»Kein Problem. Momentan steht noch der Mähdrescher drüber, aber den kann ich auf seinen Platz fahren. Morgen ist Samstag. Nach dem Mittagessen habe ich Zeit.«
»Hilfst du mir beim Kontrollieren?«
»Aber ja, gerne.«
Dann ist Stille. Schweigen, aber wir sehen uns an. Die Kälber tollen durchs frische Stroh und graben sich Höhlen. Ich muss grinsen.

***​

Mit dem Schlackehammer klopfe ich U-Profile ab. Dreck fällt, dann großblättriger Rost. Offenbar gibt es einen Zwischenboden, der die Schraubenköpfe aufnimmt. Viel übrig ist von ihnen nicht mehr. Ab und zu wurden Bügelschrauben verwendet, aber die Muttern könnten nicht mal die Butter in der Dose halten. Im Nu sind unsere Haare voller Rost.
»Tja ...«
»Was heißt ‚Tja‘?«
»Gib mir mal bitte die Stableuchte.« Michaela hält sie mir vor die Brust. Ich hebe den Kopf vorsichtig über die Achse. »Das Ding ist einfach ungebremst. Unglaublich.« In den Vierkantrahmen der Achse sind Bolzen eingeschweißt, auf denen das Radlager steckt. Ein Sicherungsring verhindert das Abrutschen des Lagers zum Bolzenansatz. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bauwagen jemals die Straße gesehen hat. Der wurde sicher auf einen Lastwagen gehoben und an der Baustelle abgesetzt. Da darf man ihn problemlos hin und her schieben, Vierkanthölzer unter die Räder, fertig. Aber für die Straße oder einen Feldweg ...« Ich schüttle den Kopf. Michaela setzt sich auf die Betonstufen und starrt auf den ölverschmierten Boden. Ich lege den Arm auf die Achse, schalte die Leuchte aus und warte, dass sie etwas sagt. Aber nichts kommt. Das hier ist vielleicht ihr Traum. Ich kenne sie nicht, aber irgendwas muss ich jetzt tun, will ich jetzt tun.
»Ich mach dir einen Vorschlag. Wir verfrachten den Bauwagen zurück auf den Platz. Dann messen wir ihn aus und planen einen neuen Rahmen. Wir haben noch einen alten Krone-Hänger, den keiner braucht. Mit Auflaufbremse. Die ist zugelassen für 3,5 Tonnen. Genug für dein Zuhause. Wir bauen Bremse und Rahmen zusammen, setzen dein Häuschen drauf und deklarieren ihn als landwirtschaftlichen Anhänger bis 20 km/h. Mehr packt der Eicher eh nicht.« Gespannt blicke ich Michaela an. Die steht auf, geht die Stufen hoch und verschwindet.

***​

Den Bauwagen habe ich mit dem Geräteträger auf den Platz gezogen, ihn ausgemessen und bin zu Robert in die Küche, der einen 3-Kilo-Beutel Müsli wenig sanft aufgerissen hat, um eine Zwischenmahlzeit zu löffeln. Er nimmt zwei Handvoll raus, in eine Schüssel und gießt frische Milch drüber. Ich unterbreite meinen Plan. Robert kaut, nickt, kaut. Die paar U-Träger für den Rahmen ... geschenkt, meint er. Krone und Bremsanlage, das würde er mit Michaela besprechen. Aber alles nur in meiner Freizeit. Das wird kein Problem sein. Für die Technikschule brauche ich noch ein Projekt, da kommt mir das gerade recht. Zufrieden gehe ich duschen, dann zum Bauplatz. Michaela ist nicht da. Also hocke ich mich auf einen der alten Steintröge, die niemand kaufen will und nun ein Paradies für Pflanzen und Käfer sind. Es ist still. Der Hof thront auf einer Anhöhe, nach drei Seiten recht steil abfallend in ein wenige Kilometer kurzes Tal, das sich nach Westen öffnet. Ein Eichelhäher schlägt Alarm und vom nördlichen Waldrand am Talgrund löst sich eine Person, klettert über den Weidezaun, weicht auf ihrem Weg nach oben den Kuhfladen aus, steigt erneut über den Zaun und stellt sich vor mich. Etwas außer Atem. Michaela. Den Energieschirm um sich hat sie geschlossen. Die Augen sind wie Abstandshalter.
»Ich habe mit Robert geredet. Er hält meinen Plan für gut und gibt sein Okay. Über die Kosten für Hänger und Bremsanlage müsst ihr euch einigen, aber mit Robert kann man reden. Und ich kann es als Technikprojekt für die Meisterprüfung nutzen.« Ich grinse. »Und du hast einen verkehrssicheren Bauwagen.«
Keine Miene verzieht sie, dreht sich weg und nimmt die zwei Stufen in den Wagen. Die Tür bleibt offen. Ich ertappe mich beim Kopfschütteln und einem großen Seufzer. Schwer einzuschätzen, die Situation, denke ich und stehe auf, gehe zur Tür, klopfe an. »Sieht aber wirklich gemütlich aus.« Das tut es in der Tat. Die Wände bordeauxrot lackiert, eine ausgeklügelte Küchenzeile. Michaela taucht im Türrahmen auf.
»Komm rein und mach bitte die Tür zu.«
»Gerne. Soll ich die Schuhe ausziehen?« Sie sieht an mir runter. Meine weißen Universal. Ausgehschuhe für den Samstag.
»Ja, bitte.« Der Bitte komme ich nach, bin schon drin und sehe mich um. Gar nicht so einfach, einen Sitzplatz zu entdecken. Das Bett an der hinteren Wand, aber auf Kopfhöhe. Drunter eine Art Couch. Im vorderen Teil ein Tisch. Michaela holt unter dem Tisch zwei Campingstühle vor, klappt sie auf und deutet auf einen. Ich setze mich. Viel Platz ist nicht zwischen uns, Knie an Knie. Etwas auf dem schmalen Sims zwischen Tisch und Außenwand lässt mich neugierig werden.

»Möchtest du was trinken?«
»Ja, vielleicht einen Tee?« Das Ding auf dem Sims sieht seltsam aus. Ich hab das schon mal gesehen. Zumindest in einem Buch, einem Fotoband vielleicht.
»Pfefferminz oder Melisse?«
»Pfefferminz ist gut.« Das Ding sieht aus wie mehrfach gefalteter Teer. Oder besser, wie schwarzer, glänzender Blätterteig. Glatte Oberfläche, handtellergroß, leicht gewellt, als wäre es mehrmals warm und wieder kalt geworden. Der Name will mir ums Verrecken nicht einfallen. Ein Stabfeuerzeug klickt, das Gas entflammt. Handelsüblicher Campingkocher, Wasser aus dem Kanister in einem kleinen Stahltopf. Michaela sieht, was ich betrachte, streckt sich über den Tisch und greift nach dem schwarzen Etwas, die Hüfte ganz vor meinem Gesicht. Ich rieche sie. Ein Weizenfeld Ende Juli, roter Mohn, Kornblumen, schwer tragende Ähren, die Kraft von Erde und Sonne in sich. Ein trockenes, hohles Geräusch auf dem Tisch. Da liegt es vor mir. Und es ist wie Michaela. Nichts kann sich ihm nähern. Nicht meine Hand und kaum mein Blick.
»Was ist das?«
»Ein Teil von mir.«
»Ein Teil von dir?« Lieber wiederhole ich die Frage, als etwas vollkommen Bescheuertes zu sagen. Ein Teil von ihr … da fällt mir auf Anhieb nichts Vernünftiges ein. Das Wasser kocht. Sie steht auf, gießt es in zwei Becher und stellt beide auf den Tisch.
»Danke.«
»Eines Morgens bin ich aufgewacht, und es lag auf meiner Brust. Ganz warm, weich fast. Als ich es wegnehmen wollte, steckte noch ein Faden in mir. Ich zog dran und spürte ein Ziehen in der Brust. Der Faden dehnte sich, wurde ganz dünn. Schließlich zog ich das Ende heraus. Es gab eine Art Schmerz hier ...«, sie hält den Finger an ihren Körper, auf Höhe des Herzens. »Oder es war Erlösung. Ich weiß es nicht. Das Loch in der Haut verschwand und aus dem Ding wurde diese harte, schwarze, glänzende Platte.« Sie pustet den Dampf über dem Teebecher beiseite. Ich starre darauf. »Wenn ich daran denke, fällt mir das Wort Anthrazit ein. Es ist mein Anthrazit«, erklärt sie nach einer Atempause. Ich bin völlig ratlos. Ohne Worte. Hilflos. Was kann ich jetzt sagen? Also puste ich solange über den Tee, bis ich denke, ein Schluck kann nicht schaden, verbrenne mir die Lippen und ziehe geräuschvoll Luft ein. Michaelas Zeigefinger berührt meinen Mund, streicht von links nach rechts. Ich bin erstarrt, aber der Schmerz verschwindet. »Klingt alles sehr seltsam, oder?«, sagt sie leise. Unwillkürlich atme ich tief ein und aus. Ich will das Anthrazit in die Hand nehmen, aber es geht nicht. »Seither träume ich jedoch nicht mehr ganz so schlecht«, setzt sie nach, nimmt das, was sie als Anthrazit bezeichnet, in die Hand und hält es mir hin. So nah vor meinem Gesicht, glänzend, fast kann ich darin Teile der gewölbten Decke erkennen, fällt mir das Wort wieder ein. Birkenpech. Aber das ist vom gleichnamigen Baum und stammt nicht aus den Tiefen einer menschlichen Brust. Meine rechte Hand öffnet sich, ohne mein Dazutun. Michaela legt es auf meine rissige, raue Haut. Es ist eiskalt. Wie tagelang in der Kühltruhe gelegen. Irgendwie muss ich der Situation entkommen, denn ich spüre starke Unruhe wachsen.
»Komm, Michaela, ich lade dich auf eine Pizza ein unten im Dorf. Ich hole den zweiten Helm und wir nehmen die Yamaha.« Meine Hand kühlt immer mehr aus. Motorradfahren im Winter kann nicht schlimmer sein.
»Na gut«, erwidert sie und packt ihr Anthrazit weg. »Warum nicht?«

***​

Eine Vierjahreszeiten, gemischter Salat, großer Eisbecher mit ordentlich Sahne und zwei Cappuccino, das passt alles in Michaela hinein, ohne dass man es ihr anmerkt, ohne ein Puh oder sonstige Völlebeschwerden. Sie ist groß, schlank, sehnige Unterarme, lange Finger, kräftig. Die Haare ähneln dem abgeernteten Weizenfeld. Ist sie schön? Wesentlich schöner, als der erste Blick offenbart. Noch nicht mal der zweite. Aber dann … wenn man näher herankommt an die Stimme, das Lachen, die wenigen Worte, das leicht Zurückhaltende und es schafft, die Anthrazitbarriere zu überwinden, dann ist es wie ein Schritt über den Grat der Nordflanke und man hat ein südliches, lichtdurchflutetes Tal vor sich, voll üppiger Vegetation, Blumenwiesen, mäandernde Bäche, wilde Flussläufe; dann ahnt man, was wirkliche Schönheit ist. Komplex. Und ich lausche verwundert, denn die Atmosphäre hier drin öffnet offenbar Michaelas Schleusen. Sie erzählt und erzählt und ich muss nur essen, trinken, zuhören, nicken.
Mit dem letzten Schluck vom köstlichen Kaffee schweigt sie und schaut mich an, spielt mit dem Messer auf der Tischdecke. Hochkant, hinlegen, hochkant, hinlegen und ich lausche dem Echo ihrer Stimme.
»Du bist sehr schweigsam«, stellt sie fest.
»Ich habe dir zugehört. Das war ziemlich interessant. Ich bin Geselle auf einem Hof, mag meinen Beruf sehr, die Stille, die Tiere, das Wachsen der Frucht auf den Feldern, dass ich es bin, der das Leben in seiner Hand hat und auf Sonne, Wolken und Regen achten muss, damit alles gut endet. Ein Bauer eben.«
»Das klingt einfach.«
»Ist es im Grunde genommen auch. Wenn man es versteht und damit zufrieden ist. Wenn nicht, kann es die Hölle sein.«
»Du hast mich nicht nach meinem Anthrazit gefragt.« Ich atme tief durch.
»Das stimmt. Das liegt daran, dass ich darauf keine Antwort weiß und mir keine Frage einfällt. Es liegt außerhalb meiner Erfahrung. Alle meine Worte dazu wären Blödsinn. Du hast es erlebt und es hat wohl große Bedeutung für dich. Damit kann ich leben.«
»Du denkst nicht, dass ich spinne?«
»Nein, der Gedanke kam mir bisher nicht. Nur eines würde mich interessieren ...« Das Messer bleibt hochkant. Sie fixiert es auf der Decke und wartet. »Wie es ist, in einem Bauwagen zu leben.« Michaela hebt beide Hände, das Messer kippt. Sie streicht die Stoppelhaare nach hinten. Zwecklos bei der Kürze.
»Es ist schwer gewesen, anfangs. Immer braucht es jemand, der dich duldet. Auf Campingplätze gehe ich nicht, zu viele Idioten, zu viel grillen, Fußball und Bierkisten. Das schaff ich nicht ...« Ein Tsunami rollt heran, mitten aus ihren Augen, flutet den Tisch, brandet gegen mich und nimmt mir den Atem. Ich werde von Anthrazit überrollt. Sie spürt meinen Schreck, wie das Entsetzen mich geschüttelt hat und winkt dem Kellner. Wir bezahlen und verlassen die heimelige Atmosphäre.
»Gibt es hier einen Platz, der dir am besten gefällt? Den du besuchst, um abzuschalten?«
»Den gibt es. Aber manche würden einen Besuch dort als morbide bezeichnen.«
Michaela lacht. »Dann wird es mir gefallen.«

***​

Die Anhöhe ist nicht weit entfernt. Wie eine Pudelmütze sitzt obenauf ein Mischwald, wenig mehr als zwei Hektar. Buchen, Erlen, Ahorn, wilde Kirschen und einige Weißtannen. Keine Reihenpflanzung, er ist einfach so gewachsen und niemand hat sich darum gekümmert. Die Bäume haben ihre eigene Kinderstube. Ab und zu holen die Menschen Unterholz raus, um es zu häckseln, für ihre Gemüsebeete, sammeln Maronen, Steinpilze oder Parasolpilze. Meist jedoch ist das Wäldchen verwaist. Michaelas Hände um meine Brust, die Finger ineinander geschlungen, in jeder Kurve klammert sie fester, das ist wie ein warmes Bad nach einem unwirtlich kalten Erntetag im Herbst. Ich genieße es und ertappe mich beim Wunsch, sie möge nicht mehr loslassen. Sie verwirrt mich und ich bin heilfroh, dass sie absteigt, ich den Motor zum Schweigen bringe und die Maschine auf den Seitenständer stelle, mich vergewissernd, dass der Boden nicht nachgibt.
»Sieht aus, wie ein kleines, normales Wäldchen«, sagt sie, setzt den Helm ab und hängt ihn über den linken Außenspiegel.
»Schau mal in den Wald. Versuch mal Reihen in den Bäumen zu erkennen.«
»Reihen?«
»Gleicher Abstand der Bäume in Länge und Breite.« Sie kneift die Augen zusammen. Der Abend nähert sich, wir schauen nach Osten, doch trotz der tiefstehenden Sonne hinter uns, kann man nicht weiter als zehn oder fünfzehn Meter hineinsehen, dann beginnt die Dunkelheit.
»Ich sehe nix. Sieht aber unheimlich aus.«
»Es gibt keine Reihen, keine Pflanzstruktur, das ist ein kleines Urwäldchen und deshalb nicht normal – oder normiert. Wie man will.«
»Also ist er auf sich gestellt?«
»Kann man so sagen. Er ist frei, in dem was er tut. Komm, gehen wir hinein.« Sie zögert. Nach zwei Metern drehe ich mich um. Ein Blitz trifft mich. So was in der Art. Erkenntnis. Ich Idiot. »Okay, Michaela, ich sage dir, was da drin ist und warum ich hierher komme. Es ist ein sehr alter, jüdischer Friedhof. Auf manchen Grabsteinen finden sich nur hebräische Buchstaben, auf anderen Kurrentschrift, meist kann man die Jahreszahlen erkennen. Auf einem der Sandsteine habe ich 1563 entdeckt. Vielleicht gibt es noch ältere, aber viele sind kaputt, mutwillig zerstört oder vom Moos zerfressen. Ich bin gerne hier. Es ist eine seltsame Stille, ich möchte sagen, eine friedliche Stille. Und das Urwäldchen passt dazu. In diesen Bäumen sind die Reste von Menschen. Sie sind vielleicht so was wie dein Anthrazit. Wächst aus deiner Brust und trägt etwas von dir in sich. Du kannst gerne hier auf mich warten. Ich bin bald zurück.«
Sie ist unentschlossen. Ich nicht und gehe hinein. Am Beginn der Dunkelheit stehen die ersten Grabsteine. Kein einziger in der Senkrechten. Nicht wenige liegen auf dem Waldboden, Moos auf ihnen, Bruchstücke verteilt, halb im Laub, Pilze dazwischen, Mistkäfer und Asseln. Rosenfels liegt hier. Eine Amelia. 1856 gestorben. Menachem Mendel links und Moses Levinson rechts. Moses war Schreiner. Sicher ein guter Handwerker, der Stein ist groß und verziert. Ein paar Meter weiter wächst eine Erle aus einem Stein heraus. Vielleicht trägt sie die abgebrochenen Teile in sich und wächst langsam mit ihnen in die Höhe. Bald kommt ein großes Familiengrab, die Umfassung ist gut sichtbar. Zwei mächtige Platten vor einem hellen Sandstein, was hier schon besonders auffällig ist. Aron Lemberger mitsamt Frau und Kindern. 1762 ist Aron gestorben, seine Frau zwei Jahre später. Ich nicke der Platte zu und setze mich. Der Sandstein ist warm. Ameisen haben unweit zwei Straßen angelegt und transportieren allerlei Beute zum Bau. Ein Zweig knackt und Michaela steht drei Meter entfernt.

»Das ist also dein geheimer Ort?«
»Geheim ist er nicht. Die Menschen in der Umgebung wissen, dass der Friedhof hier liegt, aber niemand kümmert sich oder besucht ihn. Ich weiß nicht, vielleicht erinnert er sie an all das Schlechte, was passiert ist.« Sie kommt die paar Schritte zum Grab, setzt sich und das ganz dicht bei mir.
»Entschuldigung.«
»Für was?«
»Na ja, ich kenne dich kaum, du fährst mit mir an einen so abgelegenen und verwaisten Ort, du hast ziemlich Kraft, da dachte ich ...« Sie greift nach einem Zweig, kratzt die Flechte mit dem Daumennagel ab und schreibt etwas in den Boden. Ich kann es nicht entziffern.
»Nein, ich bin es, der sich entschuldigen muss. Mir ist gar nicht in den Sinn gekommen, dass es so wirken könnte. Also Entschuldigung, Michaela.«
»Schon gut.« Sie legt sich zurück, beide Unterarme unter dem Kopf, die Augen in den Wipfel gerichtet. Die Himmelsflecken werden dunkler, die Nacht kommt und das Rascheln vor uns ist vielleicht eine Spitzmaus. »Fühlst du dich hier nicht einsam? Auf dem Hof, so weitab von allem?«
»Nein, gar nicht. Einsam bin ich schon, aber das ist in Ordnung. Ich mag es.«
»Das ist seltsam. Kann man Einsamkeit mögen?«
»Klar. Hier sitzt der Beweis. Und du? Bist du einsam?«
»Ich wurde es. Aber es ist eine Last und ich hasse sie.« Ich denke an den Bauwagen. Platz für eine Person. Durch die Gegend fahren mit einem alten Eicher. Das ist ziemlich einsam.
»So wie es aussieht, suchst du aber die Einsamkeit. Du hast sie quasi in deinem Bauwagen immer dabei, oder?«
»In meinem Herz oder meinem Kopf.«
»Und als das Anthrazit aus dir kam, hat es einen Teil der Einsamkeit mitgenommen?«
»Nein, nur Träume und Erinnerungen. Den schlechten Geschmack im Mund.« Ein enormer Regenwurm beginnt mit den Laubarbeiten. Fressen, verdauen. Tagaus, tagein. Träume und Erinnerungen, hat sie gesagt. Das Birkenpech. Schwarz. In meinen Gedanken formt sich ein Bild und ich kann nichts dagegen tun. Eine Ahnung. Sie ist wie diese natürliche Blase um Michaela. Abschreckend.
»Hast du jemanden, den du liebst?« Die Frage bringt mich aus dem Konzept. Ich muss die Ahnung beiseite schieben.
»Nein. Du hast ja schon gesagt, dass der Hof abseits liegt. Und wenn du jeden Tag zwölf Stunden arbeitest oder noch mehr bei Aussaat und Ernte, dann ist wenig Zeit für eine Beziehung.«
»Und vermisst du Nähe? Jemand, der dich liebt?«
»Manchmal. Aber ich habe keine Panik deswegen.«
Sie seufzt. »Weißt du, Heinrich, ich wünsche mir, dass der Himmel sich zuzieht und es regnet, wenn ich sterbe. Damit jedenfalls einer um mich weint.«
Die Worte treffen mich wie der Schädel des Zuchtbullen. Mehr Wucht ist nicht möglich. Mit dem Rücken krache ich gegen das Stalltor und bleibe benommen liegen, nach Atem ringend, die Hälfte der Rippen geprellt. Ich weiß in diesem Augenblick, dass ich Michaela lieben kann und nicht mehr weit davon entfernt bin, schon auf dem Weg. Erst gehen, bald rennen, ‚Warte auf mich!‘, rufend.
»Zwei, Michaela. Ich werde auch weinen.« Mehr Worte schaffe ich nicht, weil Tränen kommen. Keine Ahnung, woher. Sie richtet sich auf. Ihr Atem ist direkt an meinem Ohr. »Lass uns nach Hause fahren«, sage ich und stehe auf.

***​

Der Kerl regt mich auf. Sucht und sucht, dabei ist eine Gelenkwelle kein Streichholz. So etwas verliert oder verlegt man nicht. Zumal nicht eine so große. An der Wand des Schraubenregals ein Pirelli-Kalender mit einer jungen Frau. Bei weitem nicht so schön wie Michaela. Bei weitem. Langweilige Augen, vom Friseur auf Standard getrimmte Haare. Schminke über schmalen Lippen. Warum sehe ich Michaelas Gesicht auf dem Kopf des ZG-Verkäufers? Es hat mich erwischt. Wie Nelson die Spanische Flotte vor Trafalgar. In Linie und volle Breitseite.
»Tut mir leid«, sagt er. »Vielleicht hat der Lehrling sie anstelle einer anderen ausgegeben.«
»Wir wollen morgen Heu einfahren. Da führt kein Weg dran vorbei. Das Wetter wartet nicht auf uns. Rufen Sie bei anderen Genossenschaften an, irgendwo wird sich ja eine große Gelenkwelle auftreiben lassen. Soll der Lehrling sich ins Auto setzen und das Ding besorgen.«
»Ja«, sagt er und nickt eifrig. »Das ist natürlich eine Möglichkeit ...«
»Die einzige«, verbessere ich. »Wenn mein Chef erfährt, dass unsere im Nirwana ist, kommt er persönlich. Und Sie wissen ja, dass seine Geduld Grenzen hat.«
»Oh ja«, muss er bestätigen und ruft den Lehrling. »Thomas, ruf bei den Kollegen in der Umgebung an! Wir brauchen eine Walterscheid W2100, einen Meter vierzig mit Kardan-Vollschutz. Sofort! Komm nicht wieder, bis du eine hast!«
Michaela! Da ist Michaela! Hinten im Lager. Nein, nur eine Angestellte. Ich muss unbedingt raus hier. »Ich verlasse mich auf Sie! Rufen Sie an und nach Feierabend einfach direkt auf den Hof bringen.«
»Ist gut«, bringt er leise raus. Sein Tag ist gelaufen. Ich renne fast aus dem Verkaufsraum. Gestern habe ich vergeblich nach Michaela gesucht. Dabei hatte ich mir vorgenommen, sie einzuladen zu einer Rundfahrt mit der Enduro. Vielleicht Kloster Maulbronn, abends ins Kino, was man eben so an einem Sonntag macht. Aber nichts. Bauwagen abgeschlossen, der Eicher und sie irgendwo unterwegs. Ich war nervös wie vor der Geburt zweier Kälber mit Steißlage. Und die Nacht habe ich am Fenster verbracht, Blick auf den alten Stall. Am liebsten hätte ich geklopft. Um 3:28 Uhr war ich fast so weit. Immer wieder bin ich eingenickt und habe wirres Zeug geträumt. Von Ahnungen, einsamen Friedhöfen und Gräbern, in denen ich liege, um nie mehr die Sonne zu sehen.

Gut, dass ich mit dem MB Trac hier bin, unser schnellster Schlepper, erlaubte 40 km/h, aber da geht mehr. Ich hole alles aus den 180 PS raus. Im zweiten Gang anfahren, den Vordermann anhupen, wenn er nicht schnell genug von der Stelle kommt. In Rekordzeit bin ich daheim, fahre um den Stall und sehe den leeren Platz. Den Schlepper würge ich ab, steige aus und renne zur Maschinenhalle. Über der Grube steht nichts. Wieder raus auf den Hof. Gepflastert mit Grauwacke, mindestens hundert Jahre auf dem Buckel, so alt, wie ich mich jetzt fühle. Robert kommt aus der Milchküche, winkt mir zu. Wir gehen aufeinander zu und er greift in die Brusttasche der Latzhose. Das Anthrazit. Birkenpech. Michaelas Träume und Erinnerungen.
»Sie ist vor ner Stunde weg. Muss woanders hin, hat sie gesagt. Ich soll dir aber das hier geben. Du wüsstest Bescheid.« Er kräuselt die Stirn. Ich nehme das Ding. Es ist weder warm noch kalt, etwas ganz Normales, wie ein Stück Holz. Da ist nichts mehr drin, wenn überhaupt je etwas drin war. Wenn es nicht einfach nur ein Stück Birkenpech oder Bitumen ist und die ganze Geschichte nur Blödsinn. Robert räuspert sich. »Sie hat noch was gesagt, also, ja, ich soll es nicht vergessen ...«
»Was?«
»Sie könnte dich lieben.«

 

Hallo @Morphin,

das Ende habe ich kommen sehen, das zentrale Symbol des Textes ist für mich nämlich der Bauwagen, nicht das Anthrazit. Was es mit Letzterem auf sich hat, habe ich auch ehrlich gesagt beim ersten Mal lesen gar nicht verstanden. Es kommt mir so ein bisschen hineingedrückt vor, ihre Augen sind anthrazit, eine Nebenfigur sagt was mit Anthrazit, sie hat das Anthrazit aus ihrer Brust im Bauwagen liegen – hm. Bei so offensichtlicher Zeichensprache, bei der ich nicht ganz mitkomme, google ich den Begriff, und dann halt immer so „Ah, bei den Watussis steht der Frosch für Trauer …“ Für Anthrazit habe ich nichts gefunden, was mir weitergeholfen hätte.

Da finde ich den Bauwagen simpler und deshalb besser. Das ist eine eher natürliche Metapher, eine klassische, man kann sie sehen oder ignorieren, das Anthrazit ist so: Schau her, das bedeutet was!

Der Punkt ist ja, steht im Text, Michaela ist die Sorte Mensch, der niemanden an sich heranlässt. Soziale Verbindungen intensivieren sich durch die Länge des Kontaktes, also zwanzig Jahre in der selben Straße wohnen zum Beispiel. Das ist ein örtliches Ding (Ende der Siebziger gewesen, mit den heutigen Kommunikationsmöglichkeiten könnte man das Thema glaube ich noch mal anders angehen). Da entscheidet sie sich bewusst für ein Leben, das sie jederzeit an einen anderen Ort verlegen kann. So kann sie zwischenmenschliche Knoten lösen, bevor sie zu festgezogen sind. Genau das passiert am Ende.

Warum macht sie das? Manche Menschen sind eben so und wer weiß. Möglicherweise ist mal was passiert. Da hier könnte eine Andeutung sein:

du fährst mit mir an einen so abgelegenen und verwaisten Ort, du hast ziemlich Kraft, da dachte ich
Allerdings wäre sie dann wohl schon bei der Pizza raus gewesen.

Beide sind einsam, der Prot mehr so aus einer rein pragmatischen Denke heraus – muss halt arbeiten –, bei der Michaela geht die Motivation tiefer. Ich vermute ein Trauma, eine möglicherweise auch körperliche aber vor allem seelische Verletzung, die sie zu dem Schluss hat kommen lassen, allein am besten klarzukommen. Und weil Einsamkeit bei ihr mehr ein Wunsch von innen heraus ist, als dass sie ihr von äußeren Umständen oder Notwendigkeiten wie Arbeiten gehen aufgezwungen würde, ist sie auch diejenige, die die Annäherung abbricht, bevor mehr passieren kann. Das ist echt traurig aber dann auch schön, ich hab das gern gelesen.


Kleinere Sachen:

Mir waren die Fachbegriffe am Anfang bisschen viel. Klar, die Figur denkt in Aufhängungen und Achslagen, das gibt schon Sinn, aber stellenweise hatte ich wirklich null Bild vor Augen, wusste nur, irgendwas muss mit dem Bauwagen gemacht werden. Vielleicht gibt es einen Mittelweg.

Wegen des Rahmens. / In der Tat habe ich einmal drunter gelegen
Die Dialoge schwanken immer so ein bisschen zwischen Realismus und hey, es ist Literatur.

Eine Blase, die sie schützt. Nicht schwarz, ein dunkles Grau, wie das Getriebegehäuse des Fendt. Grauguss. Anthrazit. Scheint die Sonne, dann erreicht nicht alles Licht Michaelas Körper. Ein Teil von ihr liegt immer im Schatten. Die Wolke ist ihr ständiger Begleiter.
Auch dass er sowas denkt, die Metapher des Textes quasi für sich formuliert. Ach so, Ich-Erzähler. Keine Ahnung. Mir würde der Bauwagen immer noch reichen.

Den jüdischen Friedhof fand ich ganz cool, wo könnten Menschen, die lieber für sich sind, besser flanieren als auf einem verlassenen Friedhof? Den Hinweis mit den Leuten, die nicht hingehen, ich pack das jetzt mal so platt, weil sie an Auschwitz erinnert werden, würde ich noch mal überdenken. Es hat ein bisschen was von komm, irgendwas mit NS muss noch rein, wenigstens was Kurzes. Aber es ist ein jüdischer Friedhof und in den Jahrzehnten nach den Nazis gehen die Leute da nicht so gern hin, das ist doch ziemlich selbsterklärend.

Der Elektrozaun klackt alle paar Sekunden und das Fleckvieh schaut interessiert was vor sich geht.
Der Elektrozaun klackt alle paar Sekunden und das Fleckvieh schaut interessiert, was vor sich geht.

Gesinde bist du, oder?« Ein Lachanfall lässt mich auf die Knie fallen.
Das finde ich irgendwie ein bisschen überreagiert.


Viele Grüße
JC

 

Hallo @Morphin ,
für mich einer Deiner besten Texte. Erinnert mich sehr an meine eigene Lehrlingszeit, zwar nicht bei einem Privatbauern, aber in einer Produktionsgenossenschaft bei Stralsund, wo wir hundertfünfzig landwirtschaftliche Eleven waren.

Auch die Szene im Stall kam mir bekannt vor. Als Schülerin musste ich die letzten beiden Schuljahre auf der zehnklassigen Oberschule jeden zweite Woche einen Tag in einem Kälberstall bei uns im Dorf arbeiten. Das nannte sich Produktive Arbeit. Damals habe ich mir noch keinerlei Gedanken über Tierwohl gemacht, und das Ehepaar, mit dem ich zusammen gearbeitet haben, und auf dessen Hof der Stall war, erst recht nicht.

Das mit der Gelenkwelle sagt mir auch etwas. War das die Antriebswelle zwischen Mähwerk und Motor? Die mussten wir auf den jeweiligen Mähdrescher-, Schwadmäher-, und Häckslerlehrgängen bei der Prüfung befestigen, was gar nicht immer so einfach war. Diese Zugmaschine, die die Frau fährt, sagt mir nichts. So etwas gab es bei uns in Mecklenburg nicht, sondern wohl nur bei Euch im Westen. Das kann ihr noch auf die Füße fallen, dass ihr Hänger keine Bremsen hat.
So was wie sie hat meine Freundin mal gemacht nach einer Krise. Sie hat mit ihrem Bauwagen auf einem Obstbauernhof in Werder bei einem lesbischen Pärchen gestanden, hatte Bienenkästen und hat sich um die Enten gekümmert. Alle haben mit dem Kopf geschüttelt. Die Bienen haben sie übrigens so gestochen, dass sie wie eine Chinesin aussah.

Die Szene auf dem jüdischen Friedhof hast Du sehr anschaulich geschildert. Vielleicht könntest Du noch dazuschreiben, wo das war. Ich nehme mal an, ihn gibt es wirklich. Ich war früher sehr oft auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee unterwegs, ein mehrere Hektar großes Gelände. Eine verwunschene Naturoase, so ähnlich wie Du den Friedhof bei Euch beschreibst.

Und stell Dir vor, ich war dort immer allein, da ja dort zu DDR-Zeiten natürlich keiner Grabpflege betrieb. Die Verwandten waren ja entweder deportiert oder ins Ausland geflüchtet.

Letztens habe ich mal an einer Führung teilgenommen. Da ging es ja zu wie im Taubenschlag. Das liegt daran, dass jetzt viele russische Auswanderer dort liegen. Die haben natürlich Verwandte.
Aus diesem Wachs bin ich auch nicht so richtig schlau geworden.
Gruß FK

 
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