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Anthrazit
Anthrazit
«Hier können Sie mich rauslassen», sage ich dem Taxifahrer und blicke auf den grauen Schnee am Straßenrand.
«Dann sind das einmal 35,80», entgegnet er mir und richtet seine Mütze.
35,80 - verflucht - wie weit bin ich gefahren? Woher kam ich eigentlich? Ich erinnere mich nicht. Hoffentlich habe ich genügend Geld dabei. Ich hol’ mein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und entdecke einen 50€ Schein. Glück gehabt.
«Stimmt so.»
Der Taxifahrer schaut mich etwas verblüfft an.
«Danke!»
Kurze Stille; ich mach meine Jacke zu und öffne die Tür. Die großen Schneeflocken fallen ununterbrochen auf die Erde. Ich stapfe durch den knöchelhohen Schnee über eine große leere Fläche, dann sehe ich mein Ziel: ein großer, runder, anthrazitfarbener Turm. Ich blicke in die Luft aber bei dem Schnee ist das Ende des Turmes kaum zu sehen. Ich öffne die riesige Holztür mit einem knarren und betrete den Turm. Warum bin ich hierher gekommen?
Es ist dunkel im Turm, doch von oben dringt etwas Licht auf die Wendeltreppe. Ich gehe langsam auf die Treppe zu und höre plötzlich ein dumpfes Geräusch. Irgendwer schlägt mit Metall auf Metall. Ich blicke die Treppe hinauf aber sehe niemanden. Nur das helle Licht von draußen, dass durch die scheibenlosen Fenster dringt.
Wieder ein Schlag auf Metall.
Ich weiß, dass ich nach oben gehen muss. Ich weiß nicht warum. Wer erwartet mich oben?
Ich beginne den mühseligen Aufstieg, begleitet von dem dumpfen Schlägen. Umso höher ich komme, desto lauter wird auch der heulende Wind. Es riecht nach feuchter Erde und Blut. Immer wieder blicke ich nach oben ins Licht. Ja, ich blicke ins Licht.
Mir fällt wieder ein, warum ich hierher gekommen bin. Ich weiß wer mich oben erwartet. Ich wusste es schon die ganze Zeit, habe es nur verdrängt.
Ich bleibe stehen. Soll ich mich umdrehen und zurück gehen?
Wieder ein Schlag.
Nein, ich werde erwartet. Er ruft mich. Mehr als die Hälfte ist bereits geschafft, ich mache eine kurze Verschnaufpause, eine Zigarette im Sitzen und dann gehe ich weiter. Mit zunehmender Höhe, nimmt auch die Dunkelheit ab. Ich kann meinen Atem sehen. Es ist wirklich schweinekalt. Die letzten Stufen erklimme ich keuchend und betrete die oberste Plattform. Ich bücke mich, um die Schmerzen in meinen Knien zu mildern. Nach ein paar Sekunden richte ich mich auf und blicke mich um. Hier oben ist es eisig kalt, viel kälter als unten im Turm, kälter als auf der Treppe und auch kälter als draußen auf der Straße. Der Wind lässt einem das Gesicht schmerzen und lockt die ersten Tränen aus den Augen. Die Aussicht wäre vermutlich wunderschön aber bei dem Wetter sieht man nur kaltes weiß. Ich blicke weiter und dann sehe ich ihn.
Er steht mit dem Rücken zu mir und hält eine Metallstange (daher also die dumpfen Schläge auf das Geländer) in seiner Hand. Er trägt eine schwarze Jeans und einen schwarzen Kapuzenpulli. Die Kapuze hat er nicht aufgesetzt, sodass man seine Glatze sehen kann.
«ICH WARTE BEREITS SEIT EINER STUNDE HIER AUF DICH…ES IST KALT.»
Er dreht sich zu mir um und ich blicke in ein Gesicht, wenn man dieses etwas so nennen kann. Kein Mund, keine Nase und keine Augen befinden sich in diesem Gesicht, kein einziges Haar, weder Bart noch Augenbrauen. Einfach nur Haut und dennoch kann er sprechen, obwohl nein - er spricht nicht. Die Stimme eben nahm ich nicht mit den Ohren wahr, sondern sie war direkt in meinem Kopf. Eine tiefe, verzerrte, traurige aber dennoch wütende Stimme.
«Tut…tut mir leid. Bei dem Wetter ging es nicht schneller», sagte ich und setzte mich hin, um Schutz vor dem Wind zu haben, bevor ich weiter redete, musterte ich weiterhin die Gestalt
«Ich habe mir dich anders vorgestellt.»
«ICH BIN NICHT DER, DEN DU HIER ERWARTET HAST. ICH BIN SEIN BRUDER.»
«Er hat einen Bruder?»
«SOGAR ZWEI, UM GENAU ZU SEIN.»
«Und…und ihr helft ihm aus?»
«NUR ICH.»
«Wie heißt du?»
«ICH HABE KEINEN NAMEN.»
«Okay, hmm…warum ist er denn nicht hier?»
«UM SOLCHE ANGELEGENHEITEN KÜMMERT ER SICH NICHT.»
«Warum nicht? Etwa, weil es feige ist?»
«ER MAG ES NICHT, WENN JEMAND IHN ZUR ARBEIT ZWINGT», sagt die Gestalt und lässt eine Art Grinsen auf dem mundlosen Gesicht erkennen.
«Ich verstehe. Ich bringe seine Pläne durcheinander.»
«SO IN ETWA. ABER - DA SOWAS ÖFTER VORKOMMT, BIN ICH EBEN DA.»
«Ist noch Zeit für eine letzte Zigarette?»
«KEIN PROBLEM. ABER DANACH GEHT ES LOS.»
Ich stecke mir eine Kippe an und halte der Gestalt die Schachtel hin. Sie blickt mich regungslos an und ich verstehe erst jetzt wie dumm es ist, einem ohne Mund eine Zigarette anzubieten.
«Warum treffen wir uns hier?»
«ICH SUCHE NIE DEN ORT AUS.»
«Ich kann mich nicht erinnern.» Ich ziehe an der Zigarette und puste den blauen Dunst aus. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet hier her gekommen bin. Ich war hier schon einmal, es fühlt sich jedenfalls so an, als ob ich schon einmal in diesem Turm war aber ich weiß nicht einmal mehr, von wo aus ich los gefahren bin. Spielt es denn überhaupt eine Rolle? Nein, nach dieser Zigarette spielt nichts mehr eine Rolle. Der Turm ist letztendlich nur ein Mittel zum Zweck. Zugegeben - es ist etwas theatralisch und dick aufgetragen, ein halb so hohes Gebäude hätte den Zweck auch erfüllt.
«Hast du es eilig?»
«WARUM? WILLST DU NOCH ETWAS DAS WETTER GENIEßEN?»
Diesmal war eindeutig ein Lächeln zu erkennen.
«Du hast ja recht - ich bin nur enttäuscht, dass nicht dein Bruder gekommen ist, weißt du. Ich habe mir das irgendwie alles ein wenig anders vorgestellt. Nicht böse gemeint, du scheinst kompetent zu sein aber du hast ja nicht einmal einen Namen, dabei bist du der letzte mit dem ich rede, also….dass denke ich zumindest oder was passiert danach? Ich glaube nicht an solche Geschichten. Danach ist doch Ende oder? Schluß aus. Endlich -hoffentlich.»
«WAS DANACH KOMMT, WEIß ICH NICHT UND WENN DU MIR EINEN NAMEN GEBEN WILLST, NUN…ES GAB MAL JEMANDEN, VOR 750 JAHREN UNGEFÄHR, DER WAR EBENSO UNZUFRIEDEN, DASS MEIN BRUDER NICHT KAM. ER NANNTE MICH DES TODES DUNKLER BRUDER - ABER SEIT DEM HAT MICH KEINER MEHR SO GENANNT UND DA SICH SONST KEINER DRUM SCHERT, WIE ICH HEIßE, IST DIESER NAME NIE WIEDER GEFALLEN.»
«Des Todes dunkler Bruder. Klingt gar nicht mal so verkehrt…»
«WIE AUCH IMMER. ES IST AN DER ZEIT.»
«Ich weiß -», sage ich und werfe die aufgerauchte Kippe die Treppe hinunter. Ich schaue ihr hinterher, als ob ich mir nicht sicher bin, was mit ihr passiert.
«War nett mit dir.»
Ich steige auf die Fassade und blicke in das unendliche Weiß. Mein Gesicht brennt vor Kälte, meine Füße spüre ich schon länger nicht mehr. Ich schließe meine Augen und hole tief Luft, der Wind peitscht hier oben im Turm, wie ein tollwütiger Indiana Jones.
Der dunkle Bruder schlägt auf das Metall.
Ich öffne meine Augen
und springe.