- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Ansichtssachen
Der Mann auf der belebten Einkaufsstrasse hat mindestens 50 Pfund Übergewicht und der stoppelige Dreitagebart kann sein Doppelkinn nicht verbergen. Sein hellgraues Hemd spannt sich über dem Bauch. Die kurzen Ärmel geben den Blick auf seine dicht beharrten Unterarme frei. Seine ausgeblichene Jeans ist am Gesäß etwas zu weit nach unten gerutscht und droht den Kontakt zum Hemd zu verlieren. Weiter unten sind die Säume ausgefranst. Die Sohlen seiner schwarzen Halbschuhe sind an den Aussenkanten abgelaufen.
Er trägt Plastiktüten mit dem Logo verschiedener Kaufhäuser und Boutiquen. Es ist heiß heute, Schweißperlen glänzen auf seinem Gesicht und rinnen den Nacken hinunter. Die Nickelbrille auf seiner feuchten Nase gerät ins Rutschen. Mit einer unbewussten Bewegung schiebt er sie mit dem Daumen der rechten Hand nach oben. Die Einkaufstüten schlagen dabei gegen seinen Bauch. Die Bewegung des Armes gibt den Blick auf einen dunklen Schweißfleck in seiner Achselhöhle frei.
Das rötlichblonde Haar ist so kurz geschnitten, dass man eine verschorfte Wunde in der Form eines kleinen Halbmondes auf seiner Kopfhaut sehen kann. Aknenarben ziehen sich vom Gesicht bis in den Nacken und verschwinden im Kragen.
Gelegentlich fährt er sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Oberkörper ist leicht nach vorne gebeugt, als würde ihn das Gewicht der Plastiktüten nach unten ziehen. Er achtet nicht auf die entgegenkommenden Passanten und weicht niemals aus. Sein Gang wirkt schleppend und müde.
In seinem Nacken wächst ein einzelnes dunkles, langes Haar.
Ich nähere mich ihm von hinten und reiße das Haar mit einem kräftigen Ruck aus. Er dreht sich um und sieht mich fragend an. „Schatz, lass uns nach Hause gehen“, sage ich zu ihm. Er grinst mich an, dann nickt er. Ich mag dieses Grinsen in seinem offenen, ehrlichen Gesicht. Ich liebe ihn so sehr.