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Anpassung
Ein Hupkonzert riss Annika aus ihren Gedanken. Der Blick zum Tacho erklärte das Getöse. Gerade als sie beschleunigen wollte, rauschte eine Karawane von Autos an ihr vorbei. Ihr Herz sprang im Dreieck, ihre Wangen brannten. Sie ließ das Seitenfenster hinuntersausen und inhalierte das Mief-Frischluft-Gemisch. Als ihr Puls nicht mehr im Ohr hämmerte und die Gesichtsglut verglimmt war, kamen die Gedanken an den „Dschungel der Großstadt“ zurück. Vor allem an die zig Spuren, die sie schon während ihrer Fahrschulzeit vor zehn Jahren überfordert hatten, denen sie seither aber nie mehr begegnet war.
„Ach Scheiße, nächstes Mal ersteiger ich das im Netz und lass es mir schicken!“
Wegen eines Ersatzteils hatte sich Annika auf den Weg gemacht. Die Lichtmaschine in ihrem Vehikel gab den Geist auf. Der Mechaniker hätte eine bestellen können, hatte wegen der Kosten aber davon abgeraten und Annika stattdessen geraten, in der Ferne danach zu suchen. Vorher hatte er ihr noch erklärt, worauf sie beim Gebrauchtkauf achten musste. Wie man in Großstädten Auto fuhr, hatte er ihr nicht mit auf den Weg gegeben.
„Wo ist denn die blöde Straße!?“
Annika hatte sich die Landkarte vor der Abfahrt dutzende Male angesehen. Mittlerweile hatte sie das Dschungelzentrum erreicht. Unmengen von Fahrspuren, Ampeln, Parkstreifen und Menschen präsentieren sich ihr wie ein Wimmelbild. Sie presste die Lippen zusammen, während ihre Augen einem Ping-Pong-Match zwischen der Umgebung und dem Tacho zu folgen schienen. Eine Kreuzung unterbrach das Spiel. Annikas Augen weiteten sich, ihre Mundwinkel bekamen Flügel. Sie setzte den Blinker und bog ab. Am Ende der Straße enterte sie die Einfahrt zum Schrottplatz und ließ ihr Gefährt über den Kies rollen.
Annika zockelte über eine Enge, die links und rechts von Autowracks eingezäunt war. Es wirkte nicht so, als könnte sie hier zum Stehen kommen. Sie fuhr weiter. Minuten vergingen, und immer wieder fragte sie sich, wohin sie ausweichen würde, wenn ihr nun jemand entgegenkäme. Dann weitete sich der Weg und brach ab. Annika seufzte auf und setzte bereits zu einem Wendemanöver an, da eilte jemand von links auf sie zu und winkte. Sie zuckte zusammen und rutschte von den Pedalen ab. Das Auto machte einen Satz und kam zum Erliegen.
Wieder spürte sie, wie ihr Puls bis in ihr Trommelfell vordrang und sich Röte auf ihrem Gesicht breitmachte. Sie presste die Tür auf, zog den Schlüssel in Zeitlupe ab und machte sich ohne Ziel an der Ablage zu schaffen. Irgendwann presste sie sich dann doch aus ihrem Sitz hoch, schlug die Tür zu, schloss ab und schlurfte los. Während sie sich auf den Schrotttypen zubewegte, besah sie den Kiesweg. Dann stand sie vor ihm, empfand ihren Kopf als Ballast und hatte das Gefühl, in die Sonne sehen zu müssen. Annika blinzelte den Mann an und murmelte:
„Hallo. Hm … bin von den Pedalen abgerutscht.“
Er meinte nur:
„Tja. Bist nicht die erste, der das passiert.“
In Annikas Hirn fing es zu arbeiten an. Was meinte er damit? Ihr Geist drehte und wendete den Ausspruch hin und her; egal von welcher Seite sie ihn betrachtete, er gefiel ihr nicht. Sie legte die Stirn in Falten und starrte abermals auf den Kies. Dann riss der Schrottmensch sie aus dem Gedankenkarussell:
„Was willste denn?“
Wieder dieses Geduze. Annika war die Schrottplatzsituation daheim mehrere Male in Gedanken durchgegangen, allerdings in Formalsprache, wie bei einem Bewerbungsgespräch. Die Vertraulichkeit des Typen brachte alles durcheinander. Sie spürte den Drang sich umzudrehen, zu ihrem Auto zu rennen und nach Hause zu rasen. Tatsächlich blieb sie aber stehen, streckte ihren Körper durch, verschränkte die Arme und wandte ihren Blick für einen Moment vom Boden ab, um ihm in die Augen zu blicken.
„Ich brauche eine Lichtmaschine für mein Auto.“
Erst wollte Annika einen Arm ausstrecken und mit einem Finger auf ihre Karre deuten. Dann ließ sie es doch bleiben. Schließlich trat sie nur einen Schritt beiseite, um die Sicht auf den Wagen freizugeben. Dabei trat sie in eine Mulde, knickte um und kam ins Straucheln. Sie vermochte ein Ächzen nicht zu unterdrücken und spürte, wie sich ihre Wangen umfärbten, als sie dem Schrottmann kurz zunickte.
Der quittierte das Bild, welches sich ihm bot, mit einem Schnauben. Dann schüttelte er den Kopf, drehte sich um und latschte zu einer Holzkaschemme, die Annika inmitten der Schrottkarren erst jetzt registrierte. Kurz bevor er dort angekommen war, hörte sie ihn röhren:
„Mitkommen!“
Annika verharrte einen Moment, bevor sie ihm folgte und verfiel dann in einen Eilschritt. Sie hechelte, als sie an der Kaschemmentür ankam. Er stieß die Luke auf und bedeutete ihr hindurchzugehen. Da Annika dazu keine Anstalten machte, wurde er laut:
„Reingehen!“
Sie huschte hinein und blieb zunächst am Rand stehen. Der Schrottmensch steuerte einen Schrank an. Annika folgte.
Mit Hingabe kramte er in einer Schublade mit Metallteilen herum. Darin lagerten anscheinend die Lichtmaschinen für ihren Fahrzeugtyp. Das Kramen nahm kein Ende. Immer wieder gab er ein Knurren von sich. In Annika rumorte es. Irgendwas fand er schließlich doch.
„Aha … na gut … muss.“
Dann eilte er mit einem Ersatzteil, dessen Schmierbelag ihr einen Schauer über den Rücken jagte, in eine andere Richtung. Annika rannte hinterher, auch wenn sie Mühe hatte mitzuhalten. Schließlich kamen sie an einer Kasse an.
Der Typ platzierte sich hinter einen Tresen, der nicht mehr als eine Holzplanke war. Anschließend griff er nach einer Liste und ließ seinen Blick darüber gleiten, um schließlich einen Betrag auf einen Quittungsblock zu kritzeln. Annika verkrampfte. Sie wusste, dass sie irgendetwas vergessen hatte, konnte das Entfallene aber nicht visualisieren. Dann riss der Schrotttyp die Quittung vom Block und knallte sie auf den Tisch.
„100 Euro! Aber pass auf: Kann sein, dass sie nicht passt. Dann musste vorher das Loch weiten!“
Annika glaubte, sich verhört zu haben und stierte ihn an. Das Puzzle in ihrem Kopf, das gerade noch vor der Vollendung gestanden hatte, war hinuntergefallen und in seine Einzelteile zerschellt. Eine Ewigkeit verging. Dann meinte er:
„Ach, weißte was: Ich mach das mal eben.“
Er lief mit der Lichtmaschine hinter einen Vorhang. Dann hörte Annika Schleifgeräusche. Schließlich kam er wieder hervor, packte die Lichtmaschine in eine Plastiktüte und stemmte sie auf den Tresen.
„Immer noch 100 Euro. Habs umsonst geweitet. Aber die Garantie ist jetzt weg.“
Annika wusste nichts zu erwidern. Sie kramte nach ihrem Portemonnaie und fummelte zwei Fünfziger hervor, die sie ihm entgegenstreckte, während ihre Augen das Münzfach umspielten. Er riss ihr die Scheine aus der Hand und sortierte sie in die Kasse ein. Annika nahm die Quittung, verstaute sie und nahm den Beutel mit der Lichtmaschine an sich. Den Blick auf die Tüte geheftet, verabschiedete sie sich.
„Danke. Schönen Tag noch. Tschüss.“
Er nickte, verließ den Kassenbereich und verschwand in den Raum hinter dem Vorhang. Annika blickte ihm einen Moment hinterher. Dann ging sie hinaus und atmete tief durch. Sie ließ den Blick gen Himmel gleiten. Der Sonnenuntergang tauchte den Horizont in Rot. Noch einmal atmete Annika wie in Zeitlupe ein – und wieder aus. Dann lief sie in Richtung ihres Autos.
Noch bevor sie eingestiegen war, fiel ihr ein, was der Monteur ihr daheim eingebläut hatte. Sie hob die Lichtmaschine aus dem Beutel, beäugte das Ersatzteil von allen Seiten und legte die Stirn in Falten. Schließlich packte sie das Ding wieder ein, seufzte und lächelte.
'Wird schon passen ...'
Sie stellte die Plastiktüte auf den Steinen ab und suchte nach dem Autoschlüssel. Ein Gähnen entfuhr ihr, Tränen verklärten ihre Augen. Ohne Sicht wurstelte sie am Schloss herum, rutschte mehrmals ab, schaffte schließlich doch, es zu öffnen, ließ sich auf den Sitz fallen, seufzte, rieb sich die Lider, blickte auf die Uhr, stöhnte, knallte die Tür zu und fuhr los.