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Anonym
I
Sie sah aus dem Fenster und verfolgte mit den Augen den Lauf eines Regentropfens auf der Scheibe, während der Politiklehrer über die verschiedenen Parteien sprach.
“Und obwohl alle Parteien bei ihrer Gründung unterschiedliche Ziele verfolgten, vertreten sie nunmehr samt und sonders den gleichen Standpunkt der Notwendigkeit der Sicherung eines Wohlstandsstaates...”
Es interessierte sie nicht, sie hörte nicht weiter zu. Stattdessen kritzelte sie einen Zettel an ihre Banknachbarin:
“Wie kann man sich nur so für Parteien begeistern???”
Antwort: “Muss man doch, sonst kann man bei nichts Wichtigem mitreden heutzutage.”
Sie las das Papier und blickte wieder aus dem Fenster.
II
Die Politikstunde verging, und der Deutschlehrer betrat den Raum.
“Schlagt bitte die Bücher auf Seite 331 auf!”
Sie schaute immer noch zu den Wäldern, die sich weit entfernt am Horizont hinter den kleinen Dörfern am Fuße der Berge erstreckten.
“Markus, lies bitte vor!”
Ein Vogel saß auf dem Sims draußen vorm Fenster, und sie beobachtete sein unablässiges Picken an einem angebissenen Käsebrötchen, das jemand achtlos dorthin gelegt hatte.
“Die These von der unüberschreitbaren Endlichkeit des menschlichen Seins schließlich erweckt im Extrem ein Bewusstsein der Todesverfallenheit und grundsätzlichen Nichtigkeit des Menschen, aus der es keine Rettung gibt.”
Sie horchte auf. Der Lehrer erhob sich, rückte seinen Stuhl ans Pult und trat vor die Klasse. “Nun, es geht mir nicht darum, was ihr von dieser Aussage haltet, sondern ich möchte euch anhand davon zeigen, mit welch absurden Problemen sich diejenigen Menschen beschäftigen, die als makabere Künstler keinen Erfolg hatten und nun glauben, solch dramatische Zitate würden sich in ihrer Vita gut machen und vielleicht doch noch die Verkaufszahlen ansteigen lassen.”
Sie hob die Hand.
“Ja, bitte?” - “Warum sollen es nur profitsüchtige und erfolglose Menschen sein, die über den Zweck der Existenz nachdenken?”
Der Deutschlehrer zog die Augenbrauen zusammen. “Hm, erst einmal geht es nicht um die Beschäftigung mit der Existenz an sich, sondern um ihre angebliche Sinnlosigkeit, und zweitens setzen sich mit solchen Dingen außer eben genannten Personen keine normalen Menschen auseinander, sondern nur die ‘Extremen’, jene hypersensiblen Menschen, wie sie die meisten berühmten Dichter und Künstler waren, deren abstruse Gedankengänge du und ich doch gar nicht nachvollziehen können.
Ist deine Frage damit geklärt?”
Sie nickte stumm und betrachtete den grauen Himmel.
III
Auf dem Nachhauseweg war sie Sarah von gegenüber zusammen, wie jeden Tag. Sie ging zu Fuß, Sarah rollte auf ihrem Fahrrad langsam neben ihr her. Als sie fast zu Hause angekommen waren, fragte Sarah, ob sie am Nachmittag mit ins Kino kommen wolle, irgendeine Komödie liefe gerade erst an.
“Nein, tut mir leid, ich habe keine Zeit.” Sie schüttelte den Kopf. “Ich muss noch drei Bilder fertig malen, weißt schon, für die Schulausstellung nächste Woche.”
“Ach komm”, lachte Sarah, “du kannst doch nicht ewig nur malen! Du kriegst doch eh deine Eins in Kunst!”
“Darum geht es doch nicht - ich meine, wenn ich male, dann habe ich doch irgendetwas geschaffen, was noch keiner vor mir gemacht hat, etwas Einzigartiges... Und je öfter ich male, desto besser werde ich, und dann bin ich irgendwann berühmt, dann werde ich auch in zweihundert Jahren noch nicht vergessen sein, verstehst du?”
Sarah schaute sie einen Moment lang von der Seite an.
“Und dafür willst du dein ganzes Leben lang arbeiten? Also, ich geh nachher ins Kino, ich will Spaß!” Mit diesen Worten trat Sarah fest in die Pedale und fuhr winkend davon.
Sie ging seufzend weiter, während die Wolkendecke aufriss und ein Sonnenstrahl die regennasse Fahrbahn glitzern ließ.
IV
Seit gut zwei Stunden war sie in ihrem Zimmer mit dem Mischen von Farben, dem Grundieren einiger Sperrholzplatten, dem großflächigen Auftragen von Aquarellfarbe für einen Hintergrund, dem Überarbeiten und Korrigieren bereits fertiggestellter Bilder und dem Skizzieren neuer Ideen beschäftigt, als es an der Tür klopfte und ihre Mutter eintrat.
“Puh, schon wieder dieser Gestank! Kannst du denn nicht mit dieser ewigen Ölfarbe aufhören? Und dann noch diese Motive! Zeichne doch mal die Katze, da haben wir dann doch wenigstens etwas davon, anstatt dieses abstrakte Zeug! Wenn du meinst, das würde dir einer abkaufen...! Wieso malst du keine Stilleben und so, das hängen die Leute ja wenigstens auf!”
Während dieses typischen Wortschwalls ihrer Mutter hatte sie schweigend an der Wand gelehnt und sie mit ausdruckslosem Gesicht angesehen. Jetzt trat sie ruhig, aber bestimmt an ihren Zeichentisch, nahm den Rötelstift wieder zur Hand und sagte:
“Dafür ist die Kunst nicht da.”
Kopfschüttelnd drehte ihre Mutter sich um und verließ das Zimmer, nicht ohne die Tür mit einem lauten Geräusch hinter sich zu schließen.
V
Kurz darauf hörte sie, wie die Haustür ins Schloss fiel und der Wagen ansprang. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass ihre Eltern jetzt auf dem Weg zu ihrem Kegelabend waren, wie jeden Dienstag.
Gut so. Dann konnte sie in Ruhe auf den Speicher gehen und sich zwischen die Stapel verstaubter Kisten und Bücher setzen, die ihre Eltern beim Einzug in das neue Haus als alt und unnütz aussortiert hatten. Niemand wusste etwas davon, dass sie schon zweimal dortgewesen war, mit den Händen den alten Schreibtisch gestreichelt, die längst vergilbten Hochzeitsfotos ihrer Eltern betrachtet hatte.
Als sie oben angekommen war, verschloss sie zunächst die Einstiegsluke hinter sich, nur für den Fall, dass ihre Eltern früher als gewöhnlich zurückkamen oder etwas zu Hause vergessen hatten. Dann blieb sie einen Moment lang stehen, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, und entschloss, einen der braunen Umzugskartons zu öffnen, die hier zahllos herumstanden und den Dachboden zu einem Labyrinth der Vergangenheit machten.
Vorsichtig öffnete sie die Kiste und zog ein dünnes, in Leder gebundenes Buch heraus. Als sie im spärlichen Licht des Dachfensters darin blätterte, sah sie die akkurat beschriebenen Seiten und erkannte die Unterschrift ihres Großvaters, der bereits lange vor ihrer Geburt gestorben war. Ihre Mutter redete nie über ihn, außer sie war betrunken, dann nahm sie ihre Tochter beiseite und sagte, die Männer seien doch alle gleich, Väter und Ehegatten, sie wisse das...
Nun saß sie also im Halbdunklen auf dem Speicher und las in den Aufzeichnungen ihres Großvaters, erkannte auf einmal so vieles, was ihr bisher so schleierhaft erschienen war. Da stand zum Beispiel: “Irgendwann werden wir alle einmal sterben müssen, aber wenn wir unsere Gedanken, die Dinge, die wir im Laufe unseres Lebens zu erkennen glaubten, niederschreiben, dann werden wir unsterblich sein, denn nach dem Tode löst sich unser Geist von dem zerfallenden Körper und lebt in jenen Büchern weiter; unsere Gedanken werden von späteren Generationen weitergedacht und niemals im erbarmungslosen Schlund der Ewigkeit verschwinden...
Dies hat ein weitaus klügerer Mann als ich festgestellt, vor langer, langer Zeit, und auch er ist unsterblich: Shakespeare.”
Sie ließ das Tagebuch sinken und beobachtete nachdenklich den Tanz der Staubkörner im dünnen Lichtstrahl, der durch das enge Fenster in den Raum fiel.
Ein leises Lächeln erschien auf ihrem Gesicht; sie hatte Recht gehabt: der Verfasser des Zitats aus der Deutschstunde an diesem Morgen hatte nichts gewusst über das Leben - nichts war vergeblich!!!
Schließlich stand sie auf, nahm ein schweres, ebenfalls ledern gebundenes Buch mit noch leeren Seiten aus dem Karton, legte es auf den Schreibtisch, schlug es auf, stieg hinein und klappte den Deckel wieder zu.
Langsam sanken die Staubkörner zur Erde.