Anno 2205
Pedro Sanchez musste Überstunden machen. Vor kurzem hatte die Zentrale einen weiteren Auftrag erhalten, und der konnte nicht warten. Feuerland litt seit knapp zwei Tagen an Wassermangel.
Zwei bis drei Tage konnte ein Mensch ohne Wasser überleben. Zumindest waren das im 21. Jahrhundert die Standards gewesen. Heitzutage konnte man nicht mehr so zimperlich sein. Vor allem, wenn soweiso schon einige Mitglieder der Purify Inc. außerhalb der offiziellen Dienstzeit-wobei diese soweiso nie eingehalten wurden-noch ausflogen und ausgetrocknete Münder mit der essentiellen Verbindung aus einem Wasserstoff-und zwei Sauerstoffmolekülen versorgten.
Pedro grüßte im Vorbeigehen Will Higgins, er eine Trinkwasserladung in einen kleinen Vorort von New Orleans bringen musste, welcher in den letzten Tagen aufgrund von gefährlichen Wirbelstürmen nicht aufgesucht werden konnte. Von all den insgesamt 7533 Arbeitern der Purify Inc. war Will der Einzige, mit dem Pedro gut befreundet war. Vielleicht, weil der Engländer einer der wenigen war, deren Verhalten noch nicht völlig den blechernen Maschinen, die zu Hunderten in der Zentrale standen, glich.
Nun ging Pedro auf den vom Vollmond beschienenen Landeplatz zu, auf dem sein Flugzeug auf Bahn 17 schon bereit stand. Ein schwarz bekleideter Kontrolleur überprüfte noch die Wassermenge im Frachtraum. Eine Stunde dauerte es, bis er endlich fertig war und Pedro das O.K. für den Start bekam.
Im Cockpit ging er noch einmal die Flugroute durch, bevor er seine Maschine startete. Die Bea erhob sich bald darauf mit stockendem Knattern in die Lüfte. Warum die Purify Inc. diese alten Dinger noch nicht längst ersetzt hatte, war ihm unklar. Jeder aufgeblasene Neureiche konnte sich eine moderne A-555 zu seinem puren Vergnügen kaufen, aber die Mitarbeiter der zweitgrößten Wasserprodunktion der Erde sollte ihre Aufträge mit diesen alten Klapperkisten ausführen.
Erst als das Flugzeug mehrere Kilometer von der Küste entfernt war, schaltete Pedro alle Scheinwerfer ein. Ein nächtliches Gemetzel mit Vertretern wasserarmerer Nationen um die 210 Tonnen Trinkwasser, die er mit sich führte, war das, was er jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte. Dann wäre er vermutlich seinen Job los gewesen. Warum genau war er eigentlich Pilot geworden? Wahrscheinlich, weil es wohl das naheliegendste war, wenn man drei Straßen weiter vom Hauptsitz der Purify Inc. geboren worden war und obendrein einen Vater hatte, der ebenfalls diesen Beruf ausgeübt hatte. Es war weder ein besonders abwechslungsreicher noch gut bezahlter Beruf, aber was war schon abwechslungsreich oder gar gut bezahlt, wenn sich auf der ganzen Welt alles nur um eines drehte: das Wasser. Trinkwasser, Wasser zum Waschen und das ganz besonders streng rationierte Gießwasser, welches den wenigen großen Pflanzengärten vorbehalten war.
Wie war es überhaupt so weit gekommen, dass die ganze Menschheit ihre Zeit damit zubrachte, ein Element am Leben zu halten, welches ursprünglich sie hätte am Leben erhalten sollen?
Mit seinen 39 Jahren kannte Pedro nur einen Teil der Geschichte. Angefangen hatte alles 2099, als die fortschreitende Abholzung des damals soweiso schon sehr geringen Regenwaldbestandes erstmals zu ernsthaften Problemen geführt hatte. Es waren nicht mehr genug Bäume da, um das Regenwasser zu filtern. Umweltschützergruppen bildeten sich, erregten im besten Fall ein- oder zweimal öffentliches Aufsehen, um danach wie Sternschnuppen am Horizont wieder zu verglühen, denn die High Society wollte natürlich auch weiterhin ihre Teakholztreppen und Mahagonitische. Der Regenwald wurde kleiner und kleiner. Parallel dazu starben in den folgenden fünf Jahren an die 100 Fischarten aus, weitere 254 galten 2102 als gefährdet.
2133 wurde endlich der spärliche Rest der Regenwälder im Amazonasbecken und in Indonesien von einer staatlich unterstützten Umweltorganisation für streng geschützt erklärt. Fortwährend saßen am Rande der insgesamt 3 Hektar großen Fläche je 250 schwerbewaffnete Polizisten, die jene abwehrten, die noch immer nichts dazugelernt hatten und aus seltenen Hölzern Profit schlagen wollten.
Doch da war es bereits zu spät. Der Bestand reichte lange nicht mehr aus, um Regenwasser zu entgiften. Doch schließlich gab es noch viele wasserreiche Länder. Aber man hatte die wichtige Position des Regenwaldes unterschätzt. 2149 wurde es publik: Es herrschte akuter Wassermangel. Die wenigen Flüsse und Quellen, die noch Trinkwasser führten, gehörten damals bereits dem Staat.
Man fing an, Schmelzwasser zu reinigen, um trinkbares Wasser herzustellen. 2153 entstand in Frankreich Eau de l’Europe, das europäische Gegenstück zur Purify Inc., welches bis heute existierte und sich im Laufe der Zeit immer mehr verbesserte. Doch Bevölkerung und Land verschlangen zu viel Wasser, und der Transport von Europa in alle anderen Teile der Welt war kompliziert und langwierig, und die lebenswichtigen Bäume in den Schutzgebieten wuchsen nur langsam wieder heran.
Jetzt begann man vorerst noch im Geheimen, die restlichen Fischarten in riesigen Aquarien auf mäglichst kleinem Raum unterzubringen, damit sie nicht auch noch ausstarben. Dort wurden sie auch mit mehr oder weniger Erfolg weitergezüchtet und an Aquarien in anderen Ländern weitergegeben. Eines der größten mit dem passenden Namen Noah’s Ark entstand in Schottland. Bei den Süßwasserfischen hatte man dieses Verfahren bald aufgegeben, da ja ohnehin fast keine Süßwasserseen mehr vorhanden waren.
Weiterhin kämpfte man auf der ganzen Welt mit Wassermangel. Fieberhaft wurden Alternativen zum Schmelzwasser gesucht, welches eher als Nutzwasser geeignet war.
2155 schien die Rettung gekommen zu sein, und zwar in Gestalt von Professor James Cinnicut aus Arkansas, der spätere Boss der Purify Inc. ,welcher mit folgender Idee in die Schlagzeilen gelangte: In den von Natur aus wasserarmen Gebieten, so sagte er, behalfen sich die Menschen schon über 150 Jahre zuvor mit der Methode, aus Meerwasser salzfreies Wasser zu gewinnen. Obwohl dieses vorwiegend für die Bewässerung benutzt worden war, könnte man auch Trinkwasser daraus machen. Zuerst musste das Meerwasser destilliert werden. Da destilliertes Wasser im menschlichen Organismus auf Dauer aber zum Tod führte, mussten diesem destillierten Wasser wieder Nährstoffe, vor allem Calcium und Magnesium, zugesetzt werden. Das wäre natürlich sehr, sehr kostspielig und aufwendig. Aber wenn man mit großen Mengen arbeitete, wurde es sich rentieren. Und wer fragte schon nach den Kosten, wenn es ums Überleben der Menschen ging?
Und so eröffnete knappe zwei Jahre später, nachdem das Für und Wider dieser Idee ausgiebig besprochen, um nicht zu sagen zerredet worden war, Professor James Cinnicut mit einem von der Regierung gegebenen Startbudget von Abermilliarden Dollar und dem Segen der ganzen Erdkugel die Zentrale von Purify Inc. in Rio de Janeiro. Destillationsmaschinen wurden angeschafft, Piloten, Assistenten und Chemiker eingestellt.
Am 15. März 2158 wurde die erste Ladung Meerwasser aus dem Atlantischen Ozean geholt und bearbeitet. Das Konzept erwies sich als voller Erfolg. 30 Jahre später gab es bereits 5000 Tochterstellen der Purify Inc., welche auf der ganzen Welt verstreut waren. Eine unausgesprochene Abmachung bewirkte, dass sich Eau de l‘ Europe nun vorwiegend auf Nutzwasser, Purify Inc. in erster Linie auf Trinkwasser spezialisierte.
Das Meer war eine schier unerschöpfliche Quelle, doch Wasser im Überfluß hatte man trotzdem nie. Und so blieb es nach wie vor streng rationiert. Für Trinkwasser wurden Karten ausgestellt. Jede Person bekam zweieinhalb Liter pro Tag. Auch beim Wasch-und Gießwasser bekam niemand einen Tropfen zuviel.
Weiterhin wurde die Produktion von Büchern noch mehr eingeschränkt. Schließlich brauchte man für Bücher Papier, dieses kam vom Holz, und dieses wiederum kam von Bäumen, die allesamt streng geschützt waren.
Spätestens ab 2150 waren fast alle Bücher nur mehr im Internet zu lesen. Bei der Entstehung der Purify Inc. waren rund 20% aller Angestellten ehemalige Buchhändler und Verleger.
Pedro war einer der wenigen, die 2205 noch ein richtiges Buch besaßen. Es war eine 2109 gedruckte Ausgabe der Schatzinsel. Manchmal, wenn er daheim war, nahm er es aus der Schublade und blätterte die Seiten durch oder las eine Textstelle. Unglaublich, dass vor hundert Jahren noch jeder Mensch mehrere Bücher besessen hatte!
2182 verschwand James Cinnicut, nachdem er seinem ältesten Sohn die Leitung über die Purify Inc. übergeben hatte. Es hieß, er habe sich in Arkansas zur Ruhe gesetzt.
Nach vier Stunden Flugzeit erreichte Pedro endlich Feuerland. Die Übergabe des Wassers verlief problemlos. Es wurde in unzähligen Lastwagen in die einzelnen Städte gebracht. Kaum zu glauben, es war noch gar nicht solange her, da war Feuerland eines der wasserreichsten Gebiete in Südamerika gewesen.
Er startete die Bea und entschloss sich, für den Rückflug die Route über das Festland zu nehmen. Schließlich hatte er seine heikle Aufgabe hinter sich gebracht und konnte sich Zeit für den Heimflug lassen. Das Flugzeug glitt in erstaunlicher Tiefe über die Landschaft. Pedro schaltete einige Scheinwerfer ein, um kein Hindernis zu übersehen. Nach einiger Zeit gönnte er sich einen Blick aus dem Fenster. Durch den sternklaren Himmel und die saubere Luft entstand der Eindruck, die Temperatur draußen müsse ziemlich niedrig sein, doch das stimmte nicht. Bei der Wasserübergabe hatte er gemerkt, dass es heute für diese Klimazone der Erde sogar relativ warm war. Alle paar hundert Meter ragte ein verloren herumstehender Baum aus der Erde. Ansonsten sah man hauptsächlich Felsen.
Doch plötzlich erblickte Pedro mitten in einer offiziell unbewohnten Landschaft ein kleines Licht, offenbar die Flamme eines Feuers. Er senkte sein Flugzeug, soweit es ging. Ja, das war eindeutig ein Feuer. Wer mochte es wohl entzündet haben? Die Neugierde ließ ihm keine Ruhe, und so landete er mit dem Flugzeug in seiner Nähe, nachdem er sich vergewissert hatte, dass einer sicheren Landung nichts im Wege stehen würde. Alt waren die Firmenmaschinen ja, aber sicherlich geländetauglich. Auf einer verhältnismäßig kurzen Bahn konnte ein geübter Pilot leicht landen. Da die Wasserübergabe in Krisengebieten, in denen Überfalle auf Wasserlieferanten häufig waren, so geheim wie möglich ablaufen musste, hatte man dafür Flugzeuge entwickelt, die sowohl auf Asphalt als auch auf Gras oder Felsen landen konnten.
Pedro stieg aus und blieb einen Moment stehen. Hatte er die Grenze zu Argentinien bereits überquert oder befand er sich immer noch in Feuerland? Er hatte in den letzten Minuten vor der Landung keinen Blick auf die elektronische Navigationskarte geworfen. War es möglich, dass damit etwas nicht stimmte? Er hörte Wasser rauschen. Sein Orientierungssinn musste ihn im Stich gelassen haben, da er sich ja offensichtlich am Meer befand. Aber er hatte doch sicher die Landroute genommen! Wie war es möglich, dass er so nahe am Meer war?
Vielleicht, so dachte er, sollte er noch einmal ins Cockpit zurück, um seinen Standpunkt zu überprüfen. Doch der Zauber der klaren, von Menschenhand gänzlich unberührten Landschaft hatte ihn bereits in seinen Bann gezogen, und er ging weiter. Wo hatte er das Feuer gesehen? Etwas weiter südwestlich würde er es finden. Doch je näher er kam, desto mehr nagte die Ungewissheit über das Wasser an ihm. Das Geräusch, welches er hörte, kam nicht vom Meer. Das waren keine Wellen. Es hörte sich eher an wie ein aufgedrehter Wasserschlauch, der die Kanister in der Firma füllte, nur irgendwie...lebendiger.
Das Feuer schien vergessen. Pedro wollte die Quelle dieses Geräusches finden. Auf einmal blieb er stehen.
Das vorhin so spärliche Gras war dichter geworden. Und im Mondlicht sah er plötzlich etwas, das er bisher nur aus Fotos von den Naturschutzgebieten her kannte: Viele Bäume. Und zwar alle auf einem kleinen Fleck. Die größte Anzahl von Bäumen auf geringem Raum, die er je gesehen hatte, betrug genau zwei. Und die hatten auch nicht ausgesehen wie diese Bäume hier. Diese waren groß, buschig und hatten keinen einzigen müde herunterhängenden Zweig wie die meisten anderen außerhalb eines Schutzgebietes, die aufgrund des spärlich fallenden Regens gerade genug Wasser zum Überleben hatten. Ob hier ein solches Schutzgebiet war? Mitten in der Einöde angelegt, damit keine dubiosen Gestalten auf die Idee kommen könnten, Geld daraus zu machen?
Doch Pedro als langjähriger Mitarbeiter der Purify Inc. wäre sicher längst darüber informiert worden. Außerdem war dieser Bereich in keiner Weise geschützt oder abgeschirmt.
Ungläubig befühlte er die dicken, saftigen Blätter. Das Geräusch war lauter geworden. Er riss sich von den wunderschönen Bäumen los und kämpfte sich durchs hohe Gras, bevor er vor Staunen wie angewurzelt stehenblieb.
Hinter den Bäumen lag ein breiter, schwerer Fels. Und aus dem Fels kam Wasser. Nicht aus den Leitungen der Purify Inc. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er etwas gefunden hatte, das offiziell nicht mehr existierte: Eine natürliche Wasserquelle.
Langsam, fast ehrfürchtig ging er die letzten Schritte, die ihm noch von der Quelle trennten. Unter dieser hatte sich, in einem Boden aus massivem Gestein gebettet, ein Becken gebildet. Das Wasser glitzerte.
Pedro zögerte; doch scließlich streckte er die Hand aus und erschrak beinahe, als sie das Wasser berührte. Es war frisch und kalt. Nun beugte er den Kopf hinunter und trank.
Das Wasser schmeckte herrlich. Ohne Zweifel war es Wasser und war aus denselben Elementen aufgebaut wie jenes, das er sein ganzes Leben schon getrunken hatte. Und doch war es anders. Das künstlich hergestellte Trinkwasser der Purify Inc. hatte seinen Durst gelöscht. Mehr nicht. Dieses hier belebte ihn. Kein gereinigtes, mit chemischen Substanzen versetztes Wasser schmeckte auch nur annähernd so gut wie dieses hier.
Pedro blieb. Wahrscheinlich suchte man bereits nach ihm. Doch er musste diesen herrlichen Platz einfach bei Sonnenaufgang sehen. Er musste wissen, wie dieser wunderbare Ort bei Tageslicht aussah.
Und als der Morgen schon weit vorangeschritten war-seiner inneren Uhr nach zu urteilen war es etwas zehn Uhr Vormittag-ließ er ein zweites Mal die Hand durchs Wasser gleiten.
„Es ist wunderschön, nicht wahr?“
Pedro fuhr erschrocken auf und wirbelte herum. Da sah er sich plötzlich einem alten Mann gegenüber. Er musste weit über achtzig Jahre sein, doch sein silbergraues Haar war immer noch sehr dicht. Seine blaßblauen Augen blickten Pedro freundlich an. Obwohl er eher klein und schmal war, strahlte er eine so ungeheure Lebenskraft aus, dass Pedro sich vorstellen konnte, er werde mindestens noch weitere achtzig Jahre leben. Das war natürlich reiner Unsinn. Kaum jemand wurde überhaupt achtzig Jahre alt. Wie auch, wenn die Hälte aller Lebensmittel bereits künstlich war? Dieser Mensch galt also schon als Methusalem. Und er kam Pedro bekannt vor. Irgendwo hatte er sein Bild schon gesehen. Und zwar in der Chefetage der Purify Inc.
„Sie sind Professor Cinnicut“, stellte er ruhig fest und war selbst erstaunt, dass diese Tatsache ihn so wenig überraschte. Fast, als ob er damit gerechnet hätte, den Erfinder einer der größten künstlichen Trinkwasserherstellung der Welt auf genau dem Fleckchen Erde zu finden, an dem es die letzte natürliche Süßwasserquelle gab.
Der Alte lächelte. Und er begann, Pedro zu erzählen, wie er hierher gekommen war. Ein bloßer Vergnügungsurlaub sei es gewesen, die er vor dreiundzwanzig Jahren hierher unternommen habe, in seinem Privatjet, der jetzt neben der kleinen Hütte, die er sich hier gebaut hatte, stand. Als Pedro auf die gegenüberliegende Seite des Beckens sah, konnte er das kleine Häuschen, welches eher ein Verschlag war, sehen. Daneben stand unter einer Abdeckplane Cinnicuts Flugzeug.
Er wunderte sich. Wie hatte der alte Mann ganz auf sich alleine gestellt so viele Jahre hier überleben können? Feuerlands Winter waren nicht gerade mild. Und doch sah er gesünder aus als die meisten Arbeiter der Purify Inc.
James Cinnicut schien die ungestellte Frage in seinen Augen zu lesen und antwortete: „Ich bin jetzt fast neunzig Jahre alt. Du fragst dich, wie ich hier alleine zurechtkomme. Sicherlich ist das Leben hier nicht unbedingt ein Zuckerschlecken, aber es ist mir lieber als das in Rio.“ Und er hielt einen Moment inne, als ob er sich an sein längst vergangenes Leben in der Metropole zurückerinnern wollte. „Dieser Ort beherbergt die letzte natürliche Süßwasserquelle. Ein Stück Natur, das noch nicht von Menschen ausgebeutet, industrialisiert und zerstört wurde.“
Und nachdem er Pedro das Versprechen abgerungen hatte, niemandem von seiner kleinen Oase zu erzählen, in der er bis zu seinem Tod leben wollte, machte dieser sich um viertel nach zwei Uhr nachmittags auf den Weg zurück zur Zentrale.
Zum Glück begegnete er nur einem Assistenten, der das benachbarte Flugzeug putzte. Hoffentlich hatte er mit seiner Verzögerung nicht allzu viel Aufsehen erregt.
Von nun an flog Pedro oft nach Dienstschluss oder an freien Wochenenden zu James Cinnicut und brachte jedesmal Dinge mit, die sein Leben erleichtern würden, auch wenn der alte Mann stur behauptete, er käme gut zurecht. Trotzdem glitzerten seine Augen fast unmerklich, als Pedro ihm eines Tages einen Minidiscplayer, einige Steppdecken für den kalten Winter und ein Sortiment an erlesenem Essen mitbrachte.
Für diese Ausflüge nutzte er ein kleineres Dienstflugzeug unter dem Vorwand, Verwandte in Argentinien besuchen zu wollen. Wenn genug Maschinen übrig waren, wurden ihm als jahrelangem Mitarbeiter diese gerne geliehen. Zu oft durfte er jedoch nicht fliegen. Von jedem seiner Ausflüge nahm er sich neuerdings eine oder zwei Flaschen Trinkwasser von der Quelle mit. Verglichen zu diesem schmeckte das gereinigte Meerwasser recht fade.
Eines Tages-es war später Nachmittag, und Pedro hatte alle seine Aufträge erledigt und wollte James Cinnicut besuchen-rief Jim MacIntyre, der jetzige Chef der Purify Inc., ihn in sein Büro. Cinnicuts zweiter Nachfolger war ein großer, blasser Mann, vierzig Jahre alt und mit nichtsagendem, ausdruckslosen Gesicht. Pedro hatte ihn in seiner gesamten Dienstzeit erst zweimal zu Gesicht bekommen, zum ersten Mal bei seiner Einstellung in der Firma, beim zweiten bei einer Besprechung über die Eröffnung einer Tochterstelle der Purify Inc. in Nebraska.
Er hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Warum zitierte der Boss höchstpersönlich in sein Büro? Pedro grübelte, während er durch die mit Aktenschränken und Werbeplakaten vollgestopfte Chefetage schritt.
MacIntyre schloss eine schlichte, strenge Bürotür auf und ließ Pedro den Vortritt in das dunkle und fast bis zur Sterilität gesäuberte Zimmer eintreten. Er nahm in einem ledernen Armsessel Platz und machte eine gewichtige Handbewegung.
„Setzen Sie sich doch.“ Pedro leistete seiner Aufforderung Folge.
Nun kam der Direktor unvermittelt zur Sache. „Wir haben wieder eine Wasserknappheit.“, erläuterte er unvermittelt.
Pedro schwieg. Was hätte er auch dazu sagen sollen?
„Wir kommen mit der Produktion nicht mehr nach. Gestern erst ist eine Aufrührerbande in die Zentrale eingedrungen und hat 15 Wasserbearbeitungsmaschinen lahmgelegt.“, fuhr er fort.
„Davon wusste ich nichts.“, stellte Pedro fest, vielleicht, nur um endlich einmal etwas zu sagen. Unter den bohrenden Blicken MacIntyres fühlte er sich unwohl.
„Wir haben es nur so vielen Personen wie nötig mitgeteilt. Panik soll um jeden Preis vermieden werden.“, erklärte dieser. „Das Problem ist wieder zurechtzubiegen. Aber dazu brauche ich Ihre Hilfe.“
Pedro nickte schweigsam.
„Wir könnten natürlich alle Maschinen reparieren lassen und derweil Däumchen drehen“, sagte MacIntyre wichtigtuerisch, „aber das würde uns zuviel Zeit kosten. In der Zeit, die die Techniker dafür brauchen, müssen wir Maßnahmen ergreifen. Hören Sie mir jetzt gut, Sanchez. Ich brauche für meinen Plan einen fähigen Piloten wie Sie. Und ihr Versprechen, den anderen Mitgliedern unserer Firma zu schweigen.“
Wieder nickte Pedro. Eigentlich schmeichelhaft, für ein Unternehmen äußerster Wichtigkeit eingesetzt zu werden. Aber...aber was? Er wusste es selbst nicht genau. Aber in dem Blick seines Vorgesetzten lag etwas, das ihn beunruhigte.
„Die meisten Wassertransporte gehen nach Zentralafrika. Dort lagern außerdem riesige Speicher, gefüllt mit unserem Wasser.....“
Pedro war aufgesprungen. Entsetzt sah er MacIntyre an. „Sie wollen doch nicht etwa, dass ich nach Znetralafrika fliege und die Wasserrationen stehle?“
„Nun beruhigen Sie sich doch!“, rief sein Vorgesetzter beschwichtigend. „Wir wollen nichts stehlen. Aber wir nehmen uns das, was uns rechtmäßig gehört. Außerdem gehört der Wasservorrat in den Reservoirs von Bangui uns.“
Die Seelenruhe des Mannes machte Pedro rasend. Seine Firma wollte Wasserdiebstahl begehen? Er könnte es nicht glauben!
„Ich werde diesen Menschen nicht ihr Wasser wegnehmen.“, stellte er daraufhin mit aller Ruhe, die er noch aufbringen konnte, fest.
„Nun hören Sie einmal gut zu, Sanchez“, begann MacIntyre, nun nicht mehr so freundlich, „wir werden ihnen ja nicht die Wasserversorgung ganz abstellen. Aber da wir nun einmal unter Wassermangel leiden, müssen wir ihnen ihre Ration kürzen.“
„Und warum“, begann Pedro nun feindselig, „müssen wir alle Wasserrationen aus einem einzigen Land kürzen? Wenn wir von allen Ländern, die wir beliefern, einen Teil zurückfordern-und damit meine ich rechtmäßig zurückfordern, ohne Diebstahl-besteht nicht die Gefahr, dass die Menschen Durst leiden.“
MacIntyre faltete die Hände und sah Pedro mitleidig an. „Hübsche Idee, aber zu zeitaufwendig. Außerdem kann ich mir nicht leisten, dass wichtigere Handelspartner auf aufrührerische Gedanken kommen, weil sie ihre Ration an Wasser nicht bekommen. Also....“
„...bestehlen Sie die Afrikaner, weil Sie glauben, das sind ohnehin nur zurückgebliebene Höhlenmenschen, bei denen es egal ist, wenn einige von ihnen an Durst sterben?“, höhnte Pedro. Innerlich jedoch kochte er vor Wut.
„Nun regen Sie sich nicht so auf! Setzen Sie sich hin, damit ich Ihnen erläutern kann, wie Sie vorgehen werden.“
„Ich bestehle keine Menschen!“ wiederholte Pedro und spie das Wort bestehlen verächtlich aus.
MacIntyre lehnte sich zurück und sah ihn gewinnend an. „Ganz Ehrenbürger!“, rief er zynisch. „Wenn Sie bereits beim Gedanken an Wasserentziehung angeblich erschaudern, dürften Sie eigentlich keine geheimen Ausflüge in den Süden unternehmen! Ja, schauen Sie nur recht unschuldig! Für wie blind halten Sie mich? Jede Woche transportieren sie Essen und kleinere Einrichtungsgegenstände zu einem uns nicht bekannten Bestimmungsort! Ersparen Sie mit die Geschichte mit der Verwandten. Sie mögen es vielleicht nicht glauben, aber ich habe Ihren Ausreden nachgeforscht. Die hochgelobte Mrs. Lucinda Campbell, ihre imaginäre Nichte, existiert nicht!“
Wie vom Donner gerührt blieb Pedro stehen. MacIntyre grinste widerwärtig und fuhr nun einschmeichelnd fort: „Ich werde aber davon absehen, weiter nachzuforschen. Vorausgesetzt, Sie erledigen mir diesen Auftrag...“
Doch Pedro war auch schon zur Tür hinausgehastet und eilte durch die Korridore der Zentrale. Sein eigener Vorgesetzter, ein schmieriger Wasserdieb! Mit rasendem Herzen nahm Pedro nach Verlassen des Gebäudes die Shuttlelinie Purify Inc. – Rauthaus.
Neben dem alten Rathaus führte eine Seitenstraße fast direkt zu dem Wohnhaus, in dem er lebte.
Dort angekommen, kramte er hastig seinen Laser Key aus der Tasche. Das Gerät identifizierte seinen Fingerabdruck und sandte einen roten Strahl in Richtung Eingangstür aus. Surrend schwang diese auf, und Pedro stand in der modernen, aber kleinen Wohnung. 10 Jahre hatte er hier gewohnt. Doch erst jetzt merkte er, dass er sich hier wohl fühlte. Die alte Vase seiner Urgroßmutter, den Esstisch aus blauem Stahl, eingerahmte Fotos und die überall verstreuten Prospekte, die er aus Zeitmangel kaum je aussortierte-das alles hatte er ins Herz geschlossen. Doch nun wollte er gehen.
Er wusste, dass dies ein völlig übereilter Entschluss war, doch bei Betrügern zu leben und zu arbeiten war etwas, dass er nicht ertragen konnte. Jahrelang hatte er seine Firma für die Rettung der Menschen gehalten. Ein Licht. Hoffnung.
Vielleicht war es unter James Cinnicut wirklich eine Organisation, die die Welt verbessert hatte. Doch, da war er sich sogar ganz sicher. Vielleicht war der überhandnehmende Betrug in den einzelnen Tochterstellen und sogar in der Zentrale einer der Gründe gewesen, warum der Professor geflohen war.
Wie auch immer. Pedro kramte hastig einen verdrückten schwarzen Rucksack aus dem Wandschrank hervor. Suchend sah er sich im Zimmer um. Was würde er brauchen? Die Schatzinsel musste auf jeden Fall mitkommen. Das Foto von seinen Eltern auch. In den nächsten fünf Minuten packte er Kleidung und Gebrauchsgegenstände ein. Beinahe hätte er zu seiner im Safe verstauten Kreditkarte gegriffen, bis er sich erinnerte, dass er sie niemals wieder brauchen würde.
Als er den Rucksack kaum noch schließen konnte, packte er ihn und rannte aus der Wohnung. Er nahm wieder ein Shuttle zur Purify Inc. In die Höhle des Löwen. Er hatte keine andere Wahl.
Ein Wärter sprach ihn an, als er zum Landeplatz hastete, doch Pedro blieb nicht stehen. Er durfte keine Sekunde verlieren. Wahrscheinlich hatte MacIntyre ihm schon die Polizei nachgeschickt.
Seine Firmen-ID hatte er zum Glück mitgenommen. Ein Metalltor öffnete sich quitschend, als es ihn mithilfe des kleinen Kärtchens als Mitarbeiter identifizierte.
Er nahm die kleinste Maschine, die im Augenblick zur Verfügung stand, und sah sich vor dem Einsteigen noch einmal um, ob ihm jemand gefolgt war. Nicht, dass es etwas an seinem Entschluss geändert hätte.
Das Flugzeug startete problemlos. Pedro entschied sich dafür, trotz des dabei entstehenden Zeitverlustes die Route übers Meer zu nehmen.
Obwohl er James Cinnicut ein paar Mal besucht hatte, fragte er sich jetzt voller Panik, ob er den Ort, an dem dieser wohnte und den er selbst heimlich Schatzinsel getauft hatte, wiederfinden würde.
Er fand ihn wieder. So sorgsam wie möglich landete er auf dem hügeligen Untergrund.
Cinnicut saß am Feuer und grillte etwas, vermutlich Fleisch. Er wollte Pedro begrüßen, als er sah, dass dieser ihn mit einem Rucksack entgegenrannte und ihm ohne jede Einleitung seine Situation erklärte.
Der alte Mann nickte traurig. Wortlos deutete er Pedro, sich neben ihn zu setzen.
Es wurde Abend. Bis jetzt waren sie noch nicht gefunden worden. Doch beiden war klar, dass dies jederzeit passieren konnte.
Pedros Schlafsack wurde in die Hütte gelegt, seine wenigen anderen Habseligkeiten blieben im Rucksack. Das Flugzeug wurde neben das von Cinnicut gestellt und abgedeckt. Es war sicher förderlich, wenn man das riesige Purify Inc.-Logo nicht bereits aus der Ferne sah.
Die beiden Männer hatten sich wieder ans Feuer gesetzt.
„Sie können uns jederzeit finden.“, begann Cinnicut.
„Ich weiß“, eriwderte Pedro. Er starrte gedankenverloren in die Flammen.
„Wenn sie uns finden, hilfst du mir doch, das alles hier zu verteidigen?“, fragte der Professor und wies mit der Hand auf das Wasserbecken und den umliegenden Wald.
„Natürlich.“, sagte Pedro entschlossen. Dann nahm er seine Dienstmarke vom Hemd und warf sie ins Feuer.