- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Anne kann nicht einschlafen
Anne kann nicht einschlafen -
Eine Geschichte über und für Mädchen mit einer Behinderung
Anne kann nicht einschlafen
„Anne ist nicht wirklich 15 Jahre alt, denn sie ist ja geistig behindert.“, das hat Annes Tante einmal gesagt. Anne hat sich geärgert, denn sie ist NATÜRLICH wirklich 15 Jahre alt. Die Tante hat ja keine Ahnung, was ich alles kann, denkt Anne, „Ich kann lesen und schreiben, alleine zum Einkaufen gehen und seit einiger Zeit auch ohne Hilfe schwimmen.“ Anne ist froh, dass sie ihre Tante nur selten trifft, denn Anne wohnt von Montag bis Freitag in einem Internat für behinderte Kinder. Hier in der Wohngruppe liegt Anne gerade in ihrem Bett. Sie denkt rund! Jeden Abend tut sie das. Runddenken bedeutet: Wenn Anne glaubt, sie hat einen Gedanken nun zu Ende gedacht, fängt sie wieder von vorne an, und denkt das Gleiche. Deshalb kann sie immer nicht einschlafen. Sie muss wieder und wieder über „DIE SACHE“ nachdenken.
Das Problem ist der Taxifahrer. Er heißt Herr Oskar. Jeden Donnerstagabend fährt er Anne gemeinsam mit drei anderen Kindern zum Schwimmbad. Anne geht schon seit einigen Jahren in die Schwimmgruppe für behinderte und nichtbehinderte Mädchen. Sie ist die einzige Rollstuhlfahrerin. Von Anfang an hat Herr Oskar die Gruppe mit dem Taxi hingefahren. Eine ganze Zeit lang fand sie ihn sehr nett, aber in der letzten Zeit ist er komisch geworden. Anne möchte ihn nicht sehen, und vor allem möchte sie nicht von ihm angefasst werden. Anne weiß, dass Herr Oskar sie gerne berührt, denn er tut es oft.- Viel öfter als es notwendig wäre. Anne wird für die Fahrt aus ihrem Rollstuhl auf den Beifahrersitz gehoben. Das macht Herr Oskar. Aber er macht noch mehr. Das stört Anne, aber sie würde sich nie trauen, ihm das zu sagen.
Darüber muss Anne jeden Abend nachdenken. Gerade kommt die Nachtwache Barbara an Annes Zimmer vorbei: „Anne, schläfst du noch nicht?“ fragt sie freundlich. Anne seufzt: „Ich kann wieder mal nicht einschlafen.“ Barbara ist Annes Lieblingsnachtwache. „Ob sie ihr von DER SACHE erzählen soll?“, überlegt Anne. Bestimmt könnte sie dann besser einschlafen. Aber Barbara ist immer in Eile, sie muss sich um 40 Kinder kümmern. Trotzdem kommt sie heute an Annes Bett und streicht ihr über die Haare. Das fühlt sich schön an. Anne wünschte, sie würde ihr den Kopf streicheln, bis sie eingeschlafen ist. Aber dazu hat Barbara keine Zeit. Anne seufzt: „Gute Nacht, Barbara!“
Anne schämt sich
Heute ist Donnerstag. Um 6 Uhr abends werden die Kinder der Schwimmgruppe abgeholt. Anne und die anderen Kinder warten im Hof auf Herrn Oskar.
Endlich kommt das Taxi. Herr Oskar hilft erst den anderen Mädchen ins Auto. Dann geht er auf Anne zu: „Hallo, meine Süße!“ sagt er und streicht ihr über die Backe. „Ich bin nicht deine Süße“, ärgert sich Anne und versucht das enge Gefühl im Hals herunter zu schlucken. Darf ein 50jähriger Mann einem 15jährigen Mädchen ungefragt die Backe streicheln? „Nein, darf er nicht“ findet Anne. Aber sie bemüht sich zu lächeln. Wie immer öffnet Herr Oskar den Gurt von Annas Rollstuhl, und wie immer streicht er dabei vorher mit dem Handrücken über die Innenseite von Annes Oberschenkel. Das ist wie zufällig, aber Anne weiß, dass es kein Zufall ist. Sie hätte große Lust Herrn Oskar dafür einen Klaps auf die Finger zu geben, so wie Mama ihrem kleinen Bruder manchmal, wenn er etwas tut, was er nicht darf. Anne denkt: „Darf ein 14 jähriges Mädchen seinem Fahrer auf die Finger schlagen? – Niemals!“
Nun hebt Herr Oskar Anne ins Auto. Mit einem Blick auf ihre Brust flüstert er: „Du wirst ja schon eine richtige Frau.“ Anne wird rot. Sie schämt sich. Eigentlich möchte sie nämlich gar keinen Busen bekommen. Manchmal tut ihr sogar die Brust ein bisschen weh, und dann denkt sie: „Aha, jetzt wächst mein Busen wieder.“ Anne hat Angst, dass sie so große Brüste bekommt, wie ihre Mutter. Das möchte sie auf keinen Fall. Anne möchte auch keinen BH tragen, denn der fühlt sich immer so eng an. Am liebsten würde sie jeden Tag in den Spiegel gucken, um zu sehen, ob ihr Busen weiter gewachsen ist. Aber im Internat ist kein Spiegel, in dem sie sich nackig betrachten kann. Und zuhause ist nur einer im Schlafzimmer ihrer Eltern. Anne fände es peinlich, wenn ihre Eltern sie nackt in ihrem Schlafzimmer sehen würden. Aber noch peinlicher findet sie es, dass Herr Oskar sie auf ihren Busen anspricht.
Anne sitzt jetzt auf dem Beifahrersitz. Sie sagt nichts und schaut weg. Anne weiß, was jetzt kommt: Herr Oskar wird ihr über die Bluse streichen. Er tut dabei so, als wolle er sie glätten, weil sie beim Umheben verrutscht ist. Aber da sind keine Falten.
Anne ist kein kleines Kind mehr
Am Wochenende ist Anne zu Hause. Meistens sitzt sie hier vor dem Fernsehapparat. Gerade hat ihre Mutter zum Abendessen gerufen. „Ich habe keinen Hunger“, denkt Anne. Seit Wochen sitzt ihr schon dieser Kloß im Hals, so dass sie sich anstrengen muss, überhaupt einen Bissen herunter zu schlucken. „Ich will nichts essen“, sagt Anne. Die Mutter schaut sie besorgt an: „Du hast letztes Wochenende schon so wenig gegessen. Vielleicht sollten wir mit dir zum Arzt gehen?“ Aber Anne schüttelt den Kopf, sie braucht keinen Arzt.
Am Abend setzt sich ihre Mutter zu ihr ans Bett: „Was ist los mit dir? Du bist so still in letzter Zeit.“ Anne schweigt: Mama wäre die Letzte, mit der sie über Herrn Oskar reden würde! Dafür schämt sie sich viel zu sehr. Ihre Mutter würde vielleicht schimpfen. „Mit Mama kann man nicht über unangenehme Dinge reden. Für sie bin ich immer noch ein kleines Kind!“, denkt Anne. Dabei hat Anne schon vor einem halben Jahr ihre Monatsblutung bekommen. Auch an diesem Tag hat Mama nicht mit ihr über das Blut in der Unterhose gesprochen, sondern ihr nur eine Packung Binden gekauft. Anne erinnert sich noch daran, dass sie das ganze Wochenende Angst hatte, sie würde verbluten. Erst die Erzieherin im Internat hat ihr erklärt, dass diese Blutung ganz normal ist. Dass alle Mädchen ihre Tage bekommen, als Zeichen, dass sie nun Kinder bekommen können, wenn sie mit einem Jungen schlafen.
Aber über all diese Dinge, die Anne so interessant findet, will ihre Mutter nicht sprechen. Sie sagt dann immer: “Anne, du bist doch noch meine Kleine.“
Die Mutter sitzt immer noch an Annes Bett „Ich schlafe jetzt“, sagt Anne, weil sie gern alleine sein möchte. „Gute Nacht“ sagt Mama und geht.
Anne hat ein Geheimnis
Manchmal erzählt Herr Oskar während der Fahrt Witze. Es sind sehr blöde Witze dabei, findet Anne. Vor allem wenn nackte Frauen oder Pimmel darin vorkommen. Einiges versteht Anne nicht, aber Herr Oskar möchte, dass die Kinder über seine Witze lachen. „Ich werde den Witz meiner Freundin Steffi erzählen“, beschließt Anne, „vielleicht weiß sie, was daran so lustig ist.“
Heute trifft sie sich mit Steffi. Sie erzählt ihr einen von Herrn Oskars komischen Witzen. Steffi versteht ihn auch nicht, aber sie sagt: „ Es ist nicht richtig, dass der Fahrer euch solche Sachen erzählt. Du musst mit deiner Erzieherin darüber sprechen, damit sie ihm sagt, er soll das lassen. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass du es einer Frau erzählst, denn Männer verstehen so etwas nicht so gut.“
Anne bekommt schon Herzklopfen, wenn sie sich vorstellt, dass Herr Oskar erfährt, dass sie sich bei einer Erzieherin beschwert hat. Bestimmt ist er dann wütend auf sie, und wer weiß, was er dann macht. Nein! -Es kommt nicht in Frage, der Erzieherin davon zu erzählen. Am diesem Abend kann Anne schnell einschlafen, sie ist erleichtert, dass sie Steffi davon erzählt hat.“ Anne hat ihr auch gesagt, dass Herr Oskar ihr vor einiger Zeit einmal unter den Rock gelangt und in ihre Unterhose hinein gefasst hat. Dieses Geheimnis hatte Anne schon seit Wochen mit sich herumgetragen. Steffi war entsetzt gewesen, als sie es gehört hat, aber sie hat versprochen, niemand etwas darüber zu erzählen. Und was Steffi verspricht, dass hält sie auch, da ist sich Anne sicher.
Als Anne am nächsten morgen aufwacht, überlegt sie, ob sie mit der Schwimmgruppe aufhören könnte. Aber die Anmeldung gilt immer für ein Jahr. Außerdem weiß Anne auch nicht, wie sie ihren Erzieherinnen erklären könnte, warum sie nicht mehr Schwimmen gehen möchte.
Anne hat Angst
Als Anne an diesem Tag von der Schule kommt sitzt die Psychologin Gaby im Büro der Internatsgruppe. Anne hat sie schon oft gesehen, aber noch nie mit ihr gesprochen.
„Ich möchte gerne mit dir reden“, sagt Gaby. Anne hat Angst. Sie schweigt. Die Psychologin lächelt sie an, und sagt: “Die Erzieherinnen machen sich Sorgen um dich, weil du schlecht schläfst und wenig isst. Sie glauben, dass du dir über etwas Sorgen machst. Ich möchte dir gerne helfen. Wir könnten darüber sprechen, was dich bedrückt und gemeinsam überlegen, was du gegen deinen Kummer tun kannst.“ Anne schaut auf den Boden. Ihr Herz klopft ihr bis zum Hals, denn sie hat nicht den Mut etwas zu sagen. Eine Weile redet die Psychologin noch mit Anne, dann verabschiedet Gaby sich. Als sie in der Tür steht, sagt sie: “Wenn du mit mir sprechen möchtest, dann kommst du einfach zu mir, o.k.? Anne nickt stumm.
Als sie wieder alleine ist, fängt sie an zu weinen. Sie steckt ihr Gesicht in ein Kissen und schluchzt. Sie denkt:“ Gaby war so nett. Warum ist es nur so schwer jemand von DER SACHE zu erzählen? Es ist mir so peinlich darüber zu sprechen. Außerdem habe ich Angst, dass es mir niemand glaubt. Vielleicht ist es ja auch in Ordnung was Herr Oskar macht, und ich bin einfach zu empfindlich? Was würde wohl ein anderes Mädchen tun, wenn Herr Oskar es belästigen würde? Anne denkt verzweifelt nach, aber sie hat keine Idee, wie sie ihr Problem lösen soll.
Anne fühlt sich leicht
An diesem Abend kommt die Erzieherin Julia an Annes Bett. Sie heißt Julia. Sie fragt, ob Anne noch ein bisschen mit ins Erzieherbüro gehen möchte. Die Erzieherin hebt Anne in den Rollstuhl, legt ihr eine Decke über die Schulter und schiebt sie ins Büro. Erst unterhalten sie sich eine wenig über Musik und über Annes Wochenende zuhause. Plötzlich sagt die Erzieherin: „Ich wünschte mir, du würdest wieder so vergnügt und fröhlich sein, wie noch vor kurzer Zeit.“ Anne schweigt. Da fragt Julia: „Und was würdest du dir wünschen, wenn du einen Wunsch frei hättest?“ Anne überlegt, dann gibt sie sich einen Ruck und sagt: Ich wünsche mir, dass ich niemals mehr mit Herrn Oskar zum Schwimmen fahren muss.“ Die Erzieherin ist erstaunt: „Du möchtest nicht mehr mit Herrn Oskar zum Schwimmen fahren. Warum denn nicht?“
Da endlich traut sich Anne von DER SACHE zu erzählen. Von den Berührungen, die sie eklig findet. Von seinem Gerede, dass sie nun eine Frau wird. Und von den dummen Witzen, die Anne zum Schämen findet. Als sie fertig ist, sitzt die Erzieherin da, und guckt sehr ernst. Anne bekommt Angst. Hat sie etwas falsch gemacht? Wird Julia schimpfen?
Aber die Erzieherin steht auf, setzt sich neben Anne und nimmt sie in den Arm. Sie schaut Anne liebevoll an: „Das war schwer für dich, darüber zu reden. Gut, dass du es endlich getan hast. Jetzt weiß ich, was dir so große Sorgen macht. Du fühlst dich von Herrn Oskar belästigt und traust dich nicht dich gegen ihn zu wehren. Es ist schwer für ein junges Mädchen, sich gegen einen erwachsenen Mann zu wehren, aber das kannst du lernen.“
Anne hat aufmerksam zugehört, jetzt schüttelt sie den Kopf und sieht die Erzieherin bittend an: „Kannst du dafür sorgen, dass ich nicht mehr mit Herrn Oskar fahren muss?“ Julia zögert: „Das kann ich dir nicht versprechen, aber ich werde dafür sorgen, dass Herr Oskar dich nicht mehr belästigt. Dazu muss ich aber mit ihm darüber sprechen, anders geht es nicht.“ Anne nickt. Sie ist froh, dass Julia ihr glaubt und sie versteht. Sie reden noch eine Weile, dann bringt Julia Anne ins Bett. Als Anne einschläft, fühlt sie sich ganz leicht, so leicht wie eine Feder aus ihrer Bettdecke.
Anne ist glücklich
Am Donnerstag nach dem Frühstück sagt Julia zu Anna, dass sie ab heute von jemand anders ins Schwimmbad gefahren wird. Die neue Fahrerin heißt Frau Winkler. Herr Oskar wird keine Kinder mehr aus unserem Haus fahren“, sagt Julia. Anne ist erleichtert. Sie versteht nicht, was passiert ist, und warum Herr Oskar nun nicht mehr fahren wird. Aber sie fühlt, dass der Kloß im Hals mit einem Mal verschwunden ist.
Als sie an diesem Abend nach dem Schwimmen ins Bett geht, fühlt sie sich so glücklich wie schon sehr lange nicht mehr. Sie hat nämlich noch einen Grund sich zu freuen: Am Nachmittag war ihre Freundin Steffi bei ihr und hat erzählt, dass sie an einem Selbstbehauptungskurs für Frauen teilnehmen wird. Anne hat Steffi gefragt, was das ist und gemeinsam haben sie den Zettel gelesen, den Steffi dabei hatte. Darauf stand:
Im Selbstbehauptungskurs können Frauen vieles lernen und üben: Wie kann ich unangenehme Gefühle besser bemerken? Wie kann ich zeigen, dass ich mir Belästigungen nicht gefallen lasse? Wie kann ich mich wehren? Wie kann ich über "Frauenthemen" sprechen?
Steffi hat Anne gefragt, ob sie auch beim Selbstbehauptungskurs mitmachen möchte. Und sie hat begeistert zugesagt.
Anne hofft, dass ihr nie mehr ein Mann wie Herr Oskar begegnet, aber wenn doch, wird sie einiges gelernt haben. Sie wird zum Beispiel ganz sicher mutig genug sein, ihm einen Klaps auf die Finger zu geben, wenn er sie noch einmal anfasst.