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Annabelle
Wie ein Prisma spiegelt das Glas der Glocke die unzähligen Facetten des Sonnenlichtes wieder und zaubert bunte Diamantensplitter auf Tisch und Wand. Der laue Sommerwind, der durch das geöffnete Fenster Einlass findet, verneigt sich höflich vor den glitzernden Kristallen. Ein leichter Knicks, ein schüchternes Lächeln und als bald tanzen sie wie frisch Verliebte umher. Sie lachen und scherzen in ihrem vollkommenem Glück. Wie herrlich doch dieses Lichtspiel ist. Ich halte inne und lache still. Nein, nein, sage ich mir, nicht so schön wie meine Annabelle.
Ich lasse meinen Körper auf den Tisch sinken während meine Hand über die Glasglocke vor mir streicht. Ganz sanft und bedacht darauf keinerlei Schaden zu verursachen. Mein Herz wird dabei leicht und pumpt behände mein Blut durch meinen Körper. Auf aber Millionen winzig kleiner Zellen trägt es nun die Endorphine bis in meine Zehenspitzen. Dort angelangt, verraten sie sich durch ein heißes pochendes Kribbeln, das mein Inneres in eine wohlige Aufregung versetzt.
Ach Annabelle, rufe ich dich in meinen Gedanken an. Sie alle gehören dir, denn sie alle kreisen nur um dich. Sie alle kreisen um die schöne Annabelle, um meine Annabelle. Ach, so möge doch die ganze Welt davon wissen.
Jede Nervenfaser pocht. Ich bin von Kopf bis Fuß überzogen mit dem Gefühl von verzehrender Sehnsucht und innigem Verlangen. Mein Körper wird wärmer mit jedem Bild, das ich vor meinem geistigen Auge von dir zeichne. Nicht einmal die tausend wilden Flügelschläge der Schmetterlinge in meinem Bauch versprechen eine Kühlung des hitzigen Gemüts. Ich bin in Aufruhr.
Oh Annabelle, seufze ich fast unhörbar als meine Hand wieder über das Glas der Glocke streicht. Das Lichtspiel, das zusammen mit dem Sommerwind um mich und meine Gedanken tanzt, erreicht seinen Höhepunkt in ausschweifenden Drehungen, in heißblütigen flinken Schritten eines zärtlichen Beisammenseins.
Im Hintergrund spielt der letzten Takt der Sinfonie und die Saiten der Geigen verstummen in der milden Dämmerung des hereinbrechenden Abends. Der Sommerwind flaut ab, verneigt sich zum Abschied, empfiehlt sich und stiehlt sich hinfort, in die weiten Gräser des Landes hinaus. Auf dem Boden zerspringt zum Ausklang eine kleine Träne, die hinab gefallen ist, um dort zusammen mit ihren Geschwistern im Grund zu versickern.
Die Liebenden haben sich getrennt. Tisch und Wand sind nunmehr bedeckt vom schwachen Abendrot, dass den Tag mit einem sanften Kuss in die Nacht verabschiedet. Und dort, wo vor wenigen Augenblicken noch die Sinfonie eine Geschichte von unzertrennlichen Banden erzählte, thront herrschaftlich die Stille über dem Reich der Melancholie.
Zögernd ziehe ich meine Hand zurück, lege sie auf die Stelle meiner Brust, wo ich das Pochen meines Herzens fühlen kann. Sie ruht dort, gerade so als sei sie die Versicherung, dass ich wirklich noch am Leben bin, dass ich noch atmen kann und dass ich weiter atmen werde.
Meine Augen sind geschlossen. In der Dunkelheit flackert das Gesicht Annabelles mit jedem Flügelschlag auf. Die sanften Züge um ihren Mund zaubern ein Lächeln. Ich fühle das ruhige regelmäßige Klopfen unter meiner Hand. Padamm, padamm, padamm.
Meine Lider heben sich, mein Blick fixiert das gewölbte Glas vor mir und mein Herz bleibt stehen, zerspringt, nein, zerbricht in tausend Stücke. Oh, meine Annabelle.
Die lichtblauen Flügel des kleinen Falters schlagen nicht. Sie halten inne. Versteinert ruht er dort unter dem Glas, das ihn beschützt vor der Welt außerhalb dieser durchsichtigen Grenze. Ich streiche über die Glocke, doch noch immer harrt er still aus. Das Blau seiner Flügel ist das Blau deiner Augen. Schaue ich auf sie, schaue ich auf das blasse Blau deiner Iris. Deine starren geöffneten Lider gleichen seinen bewegungslosen Schwingen.
Ich frage mich ob dieser Schmetterling einer der tausend aus meinem Bauch ist, die auf ungestümen Bahnen um mein Herz flattern. Es würde das Gefühl der Leere beschreiben mit dem ich jeden Tag erwache. Das Gefühl, das mich jede Nacht in den Schlaf wiegt. Das Gefühl, dass etwas fehlt.
Meine regungslose Hand sinkt mit einem dumpfen Schlag von dem Glas der Glocke auf die Tischplatte hinab. In meinen Gedanken zeigen deine sanften Züge noch immer dein unverkennbares Lächeln. Ich flüstere deinen Namen in die Stille, die nicht dagegen anzukommen vermag.
„Geh“, flüstere ich dir zu und nehme die Glasglocke vom Tisch.
Schüchtern hebt der blaue Schmetterling seine Schwingen, um mit dem Sommerwind in die Lüfte empor zu steigen. Mein Brustkorb zieht sich zusammen und mein Herz pumpt das Blut weiter durch meinen Körper. Ich lebe noch und schaue deiner in der Ferne verschwimmenden Gestalt nach.
„Leb wohl, Annabelle.“