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Anna
Anna
Der Herbstwind sprühte nasskalte Tröpfchen über den Krankenhausparkplatz und Paula zog den Mantel enger. Eigentlich übernahm sie gern zusätzliche Schichten. Heute wollte sie nur nach Hause. Sie rannte die Straßen entlang. Vor ihrer Haustür wühlte sie mit steifen Fingern nach dem Schlüssel, stöpselte ihn ins Schloss, öffnete, tastete nach dem Lichtschalter, riss sich die nassen Schuhe herunter und warf den feuchtglänzenden Mantel an die Garderobe. Schon besser. Viel besser. Sorgfältig schloss sie die Tür hinter sich ab.
Mit einem Seufzer wanderte sie in die Küche, füllte den Teekessel und setzte ihn auf die Herdflamme. Nach wenigen Sekunden begann es leise zu zischen. Paula trat an das Küchenfenster. Es regnete inzwischen stärker. Sie drehte den Kopf hin- und her und beobachtete, wie sich ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe verformte. Hatte es nicht auch geregnet, damals, als es anfing?
Ihre Erinnerungen waren undeutlich, verdünnt, wie vom Regen aufgeweicht. Ein Kreis aufgebracht zischender Kinder. Helle Stimmen, die auf sie eintrommelten.
„Ich bin sicher, dass Paula meine Haarspange gestohlen hat!“
„Los, durchsucht sie!“
„Zieht sie aus! Vielleicht hat sie es unter ihren dreckigen Lumpen versteckt!“
„Uh, lieber nicht! Sicher hat sie Läuse!“
Gelächter. Reißen und Zerren an ihren Haaren, an ihren Kleidern. Paula wand sich, doch die vielen kleinen Hände ließen nicht los. „Verschwindet! Lasst mich in Ruhe!“
Ein lautes Klatschen und dann Stille. Anna war gekommen. Blut tröpfelte auf glänzende Lackschuhe. Der Kreis der Kinder öffnete sich.
Paula holte tief Luft. Manchmal meinte sie, den Geruch von Annas Haaren wahrzunehmen. Noch immer.
Der Teekessel begann zu pfeifen. Paula fuhr zusammen. Eilig zog sie die Vorhänge zu, goss heißes Wasser in einen Becher und stopfte einen Teebeutel hinterher. Vorsichtig trug sie die Tasse zum Tisch und pustete den Dampf beiseite. Zu heiß.
Sie stand auf und holte ihre Tasche. Kaugummis, Zopfspangen, Krimskrams. Paula zog ein fleckiges Foto hervor.
Nach der Schulzeit hatte Paula ein Zimmer im Schwesternwohnheim bezogen. Sie war voller Zukunftspläne, doch Anna lachte sie aus. „Du willst dich um andere Menschen kümmern? Du kannst dich doch nicht einmal um dich selbst kümmern!“
„Ich werde es lernen!“
Zunächst ging alles gut. In der Notfallambulanz lernte Paula David kennen und verliebte sich. Anna ließ ihr jedoch keine Ruhe. Immer wieder tauchte sie im Krankenhaus auf und verbreitete böse kleine Geschichten. Paula musste sich vor der Oberschwester verteidigen. Briefe voller Hass und Vorwürfe erreichten selbst Paulas Mutter. „Warum tust du das?“
„Niemand kennt dich, wie ich dich kenne! Du kannst nicht alles vergessen!“
„Das ist vorbei! Ich brauche dich nicht mehr!“
„Ich passe auf dich auf! Ich bleibe immer bei dir!“
Paula schüttelte sich. Ihre Hand glitt in die Hosentasche. Umständlich wühlte sie einen schmalen Goldring heraus, streifte ihn auf einen Finger und drehte ihn zurecht. Wie schön ihre Hand mit diesem Ring war.
„Lass uns heiraten!“, hatte er heute Nachmittag gesagt. Einfach so, mitten im Schwesternzimmer, vor all den anderen. Sie hatte gar nichts sagen können, stand nur zitternd da und sah ihn an.
Ihr Blick glitt weiter an ihrem Arm herunter, betrachtete stirnrunzelnd die tiefen Einschnitte an ihren Handgelenken. Sie stutzte, schraubte sich aus ihrem Stuhl hoch und lief zurück zur Garderobe. Zitternd tastete sie nach einem Paar roter Handschuhe auf der Ablage und starrte sie an. Sie hatte diese Handschuhe nie zuvor gesehen. „Anna?“
Ihre Stimme schwebte heiser und unbeantwortet durch die dunkle, stille Wohnung. Paula stützte zurück in die Küche und zerrte ihr Handy aus der Tasche. Mit bebenden Fingern wählte sie.
„Marienhospital, Notfallambulanz. Schwester Lena hier.“
Paula atmete flach und versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. „Lena, ich bin es, Paula. Gib mir bitte David. Es ist wirklich dringend!“
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. Dann sagte die Stimme kühl: „Es tut mir leid. Doktor Faller ist nicht auf Station.“
Paula holte tief Luft. „Lena, bitte! Nur für einen kurzen Moment.“
Es knackte. Schwester Lena hatte aufgelegt.
„Blöde, eifersüchtige Kuh!“ Paula feuerte das Telefon zu Boden.
Als sie wieder langsamer atmete, ging Paula ins Bad und wusch sich das Gesicht. Ihre Augen brannten. Sie drehte den Wasserhahn zu und hob sie den Kopf. Was war das für ein Geräusch? Paula hielt den Atem an. Leise schlich sie zur Haustür und drückte die Klinke herunter. Verschlossen. Aufatmend lehnte sie sich für einen Moment an das dunkle Holz. Eine Uhr tickte. In der Stille der Wohnung schien es überlaut. Paula lauschte angestrengt.
„Du hast den Ring geklaut! Du hast den Ring geklaut!“ Ein leises Kichern lief die Wände hinunter.
Paula schrie auf. „Geh weg, Anna!“ Zitternd tastete sie sich an der Wand entlang. „Du warst es, oder? Du hast den Ring gestohlen!“
Anna lachte. „Hast du wirklich geglaubt, jemand könnte so ein Dreckstück wie dich lieben?“
Weinend stürzte Paula in die Küche. Der Teekessel stand noch immer auf dem Herd, zischte, brodelte und erfüllte den Raum mit Dampfschwaden.
Sie lief ans Fenster und riss es weit auf. Hinter ihr hörte sie es, monoton und gnadenlos wie die Stimme der Telefonansage. „Ich passe auf dich auf. Ich bin deine Beschützerin!“
Paula keuchte. „Verschwinde! Ich will dich nicht mehr!“
„Du hast niemanden außer mir! Paula wird mich immer brauchen!“
Wimmernd versuchte Paula, auf die Fensterbank zu klettern. „Du sollst gehen!“
„Ich musste doch immer die Starke sein! Ständig sollte ich dich verteidigen!“
„Du hast alles immer noch schlimmer gemacht!“ Paula klammerte sich an den Fensterrahmen.
Anna versuchte, ihre Finger von dem Rahmen zu lösen. „Lass los! Wenn ich gehe, werde ich dich ebenfalls vernichten!“
„Ich werde David den Ring zurückgeben!“
„Nein! Es ist mein Ring!“ Sie gab ihr einen heftigen Stoß. Für einen Moment ruderten ihre Armen suchend durch die Luft, dann stürzte sie schreiend in die Tiefe.
***
Der junge Notarzt wandte sich mit blassem Gesicht an die Polizistin. „Ich kenne die Frau. Anna Paula Jansen. Schwesternschülerin in der Notfallambulanz.“ Er brach ab und räusperte sich.
„Es war niemand bei ihr. Sie muss selbst gesprungen sein.“
Er presste die Lippen zusammen. „Der Ring an ihrer Hand ... er gehört meiner Verlobten. Wir haben ihn heute bereits vermisst.“ Schockiert schüttelte er den Kopf. „Ich will ihr natürlich keine Schwierigkeiten bereiten.“
Die Polizistin legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. „Im Krankenhaus wird man ihr helfen.“ Mit einem Nicken gab sie den Leuten vom Rettungsdienst das Zeichen zur Abfahrt. Die Türen des Rettungswagens schnappten leise zu. Blaues Warnlicht brach sich durch das herbstfeuchte Geriesel zwischen den Bäumen, als sie abfuhren.