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Anna
Schluchzend und mit Tränen in den Augen sass Anna auf ihrem Bett. Ein dicker Kloss steckte ihr im Hals, drohte sie zu erwürgen. Ihre Hände zitterten, die Augen suchten unsicher den Raum ab. Sei stark, Anna, sagte sie zu sich.
Sei stark.
„Komm schon, Anna mein Engelchen, komm zu Daddy.“
Der Vater klopfte an die von innen verschlossene Tür.
„Ach komm doch raus, Engelchen!“
Vaters Stimme tönte lüstern. Anna sass wie versteinert auf dem Bett. Der Oberkörper aufrecht, ihr Atem ging schnell. Annas Herz raste, die Tränen im Gesicht vermischten sich mit Schweisstropfen.
Nachdenken.
Schon seit Jahren war sie von ihrem Vater wieder und wieder in die Arme genommen und berührt worden. Anna störte das nicht. Er war schliesslich ihr Vater und sie hatte ihn auch lieb. Doch dann wurde er aufdringlich, berührte sie an intimen Stellen. Im Biologieunterricht hörte sie dann, dass sie sich das nicht gefallen lassen sollte. Aber sie hatte Angst, er würde böse werden.
Da sass sie nun, 16 Jahre alt und psychisch total am Boden. Immer wenn die Mutter nicht da war, wollte der Vater mit Anna ins Bett unter die Decke kriechen. Heute wäre wieder so ein Tag gewesen, aber sie hatte sich gesträubt. Der Vater war böse geworden. Anna war ins Zimmer geflüchtet und hatte sich eingeschlossen. Hier sass sie nun, mit den Augen im Raum umhersuchend. Da sah sie das Fenster. Was wäre, wenn...
Das Rufen des Vaters riss sie aus den Gedanken. Mittlerweile war es beinahe ein Schreien geworden. Wie das Krächzen eines verhungernden Geiers. Anna hielt es nicht mehr aus. Sie sprang auf, rannte zum Fenster. Dort riss sie die Vorhänge auf. Die grelle Julisonne knallte in den Raum. Entschlossen öffnete Anna das Fenster und schaute heraus. Schon mehrmals war sie aus dem Zimmer gesprungen, hinunter in den Garten. Ein Klacks. Doch heute war alles anders. Das Zimmer drehte sich, ihre Augen waren verschwommen von den Tränen.
Trotzdem sprang sie.
Als sie den dumpfen Aufprall wahrnahm und Gräser zwischen den Fingern spürte, stand sie auf.
Weg hier, Anna!
Anna schaute sich um.
Wohin? Anna kam alles so fremd vor. Sie rannte los. Keuchend, verschwitzt, schluchzend, die langen braunen Haare wehten im Wind.
Hoffentlich kommt der Vater nicht!
Anna konnte nicht klar denken, sie wollte nur weg. Die Kleider klebten an ihr, die Beine zitterten und drohten zu versagen. Plötzlich stand sie auf einer Brücke,
die majestätisch über eine Autobahn ragte. Anna schaute hinunter. Die Autos funkelten in der Sonne. Es war wunderschön. Anna fühlte, wie sie ihren Körper verliess, wie ihr Geist in die glitzernden Farben eintauchte. Dieses unglaubliche Gefühl unendlicher Freiheit.
Da wurde sie von quietschenden Autoreifen aufgeschreckt. Ihr Vater stiess mit voller Wucht die Fahrertüre auf. Mit hochrotem Kopf rannte er auf Anna zu.
Wieder fing sie an zu zittern. Schweiss stiess ihr aus allen Poren. Ihr Mund war trocken.
Dann schaute sie wieder runter zu Autobahn. Dieses wundervolle Gefühl. Anna setzte einen Fuss über das Geländer der Brücke. Sie hörte ihren Vater schreien, aber sie nahm ihn nicht richtig wahr. Sie sah nur dieses Glitzern. Dann setzte sie den zweiten Fuss über das Geländer.
Der Vater war schon fast bei ihr, nur noch ein paar Schritte.
Anna liess das Geländer los, stand aber immer noch aufrecht da, etwa fünfzig Meter unter ihr die Autobahn. Anna streckte die Arme aus und liess sich fallen...