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Anna und Karl
Er dachte, dass sie noch einmal vorbeischrammen würden. Er dachte, dass es sich ausginge. Und im selben Moment ahnte er, dass das mit der kalt gestellten Flasche Weißburgunder heute Nacht nichts mehr werden würde, so wie der Wagen auf dem nassen Asphalt weiterschlitterte. Der kapitale Bock machte zwei, drei unbeholfene Schritte, dann krachte der schwere Wagen ungebremst in den Tierkörper und riss ihn entzwei. Die Hinterläufe des Bocks durchschlugen die Frontscheibe und bohrten sich mit den spitzen Hufen voran in den Bauch Annas, während Karl noch am Lenkrad kurbelte und versuchte, den Wagen auf der nassen Strasse zu halten.
Als der Wagen endlich stand, hatte er eine Spur aus Blut, Blech und Knochenresten gezogen. Der linke, noch intakte Scheinwerfer zoomte seinen weißen Finger in die Reihen dicht gewachsener Fichten und auf den Ästen konnte Karl die silbernen Reste des vorangegangenen Regens blitzen sehen. So, als ob der Wald ihm zeigen wollte, dass Karls Strasse genau hier ihr Ende hatte.
Noch etwas war geschehen: Als der Wagen endlich stand, war Anna tot.
Sie saß seitlich verdreht und stierte mit großen, leeren Augen in das Dunkel hinter der Seitenscheibe. Ein blutiger, abgetrennter Teil des Rehbocks lag über ihrem Schoß, fein bestäubt mit Splitterschmuck und mit den Resten bedeckt, die von der Frontscheibe übriggeblieben waren. Die geplatzten Därme des Bocks waren auf Annas weißen Schultern, über der Kopfstütze ihres Sitzes und an der Innenseite der Heckscheibe verteilt. Ihr Unterkiefer war weggerissen, die rechte Gesichtshälfte deformiert, die Oberlippe wie zum Hohn noch grell bemalt und der Gaumen dahinter ein schwarzes Loch ohne Boden. Knochenmark und splittriges Gewebe klebte in Annas Haar. Karl schrie in einem fort, zerrte an den noch warmen Bockresten, die er nicht von Annas Schoß brachte, griff, wohin er auch tastete, in die warme, grüne Schmiere des Darminhalts, suchte Annas Gesicht und fand nur dessen Reste. Als er begriff, worin die Hinterläufe des Bocks vergraben waren und warum all das Zerren nichts half, erbrach er das Essen vom Abend mitten hinein ins Splittergefunkel, mitten hinein in eine Zukunft, die noch vor Minuten alles wert gewesen war und jetzt zwischen Blut und zerfetzten Därmen ertrank.
Anna liebte Karl. Karl wusste es und doch war in den letzten Monaten nicht viel los mit seinen Gefühlen. Ja, er brachte das Geld heim, doch damit war es bei Anna einfach nicht getan. Im Gegenteil, sie wandte sich von ihm ab, wenn er von seinen Verkaufserfolgen in der Firma sprach. Das ist nicht alles, Karl, sagte sie und verschwand auf ihr Zimmer, um seine Großkotzigkeit und sein ewiges Reden vom Geld nicht länger ertragen zu müssen. Karl fühlte sich in dieser Zeit wenig verstanden, zog mit den Kollegen seiner Abteilung nach Büroschluss um die Häuser und flirtete nach ein paar Drinks regelmäßig mit der Sekretärin seines Chefs, die ihn als Newcomer sah und auf das Geld, das er verdiente, scharf war. Anna fühlte sich oft einsam, fuhr manchmal zur Tankstelle runter. Nur um einen Kaffee zu trinken und reden zu können. Es gab einen Zeitpunkt, wo Karl drauf und dran war, Anna zu verlassen. Er hatte von ihren Blicken die Schnauze voll, denn er hatte sich nichts vorzuwerfen, außer, dass er derjenige war, der dem Geld hinterher stiefelte. Er musste, denn er steckte zu tief in all den Geschäften, die in der Firma liefen. Er trug die Verantwortung für den Erfolg der neuen Produktlinie und dafür bezahlte man ihn. Man bezahlte ihn sehr gut.
Irgendwann brach er zusammen und Anna war es, die ihn wieder auf die Beine stellte. Irgendwann erwähnte Anna, dass sie beide noch nicht zu alt wären dafür. Irgendwann im Oktober sagte sie ihm, dass sie ein Kind erwarte, dass sie sich sehr darauf freue und dass er nicht glauben solle, dass sie es wegen ihm wegmachen lassen würde. Ich bekomme mein Kind, was auch immer passiert, sagte Anna, um gleich vorneweg reinen Tisch zu machen. Er sah das tiefe Leuchten in ihren Augen, wusste, dass es nicht zu ändern war und gab sich geschlagen. Und begann sich auf das Kind zu freuen. Dann bekam Anna ihre ersten Krisen, hatte plötzlich keine Ahnung, ob das alles richtig war, ob das für sie zu schaffen war, ob sie es aushalten würde. Sie sperrte sich in ihrem Zimmer ein und hing an ihren Depressionen fest. Oder sie stürzte sich mit Besessenheit von einem Fressanfall in den nächsten, fluchte auf ihr Alter, ihren dicker werdenden Bauch und auf Gott, dem sie für alles die Schuld gab. Sie war im sechsten Monat und im Begriff, alles hinzuwerfen. Sie verlor zusehends die Nerven. Sie hat Angst vor der Ungewissheit einer unbekannten Situation und diese Angst knickt Anna, glaubte Karl zu erkennen.
Karl war es, dem es gelang, Anna wieder aufzurichten. Er tat es mit einer Behutsamkeit, die er zuvor noch nie an sich bemerkt hatte. Er spürte, dass er wirklich gebraucht wurde, dass dies hier die einmalige Chance war, das Ruder noch einmal herumzudrehen. Anna schlief drei Tage und drei Nächte lang durch und Karl wich nicht von ihrem Bett. Als sie danach die Augen aufschlug, waren es Karls Blicke, die zärtlich und voller Sorge auf sie herabsahen. Ich habe Hunger, flüsterte Anna und wusste, dass sie ihre Zweifel überstanden hatte. Es würde gehen, weil sie es wollte. Das wusste sie nun. Dann legte sie die Hand Karls auf ihren Bauch, weil das Ungeborene darin stampfte. Spürst du es, fragte sie und beobachtete dabei Karls Hand, die sanft über ihren Bauch strich.
Lass uns drei pikfein essen gehen, antwortete Karl.
Das taten sie dann auch und der Abend hatte einen Zauber entstehen lassen, der alles Vergangene in den Schatten stellte. Bei den Beiden war es nicht so, dass sie glaubten, ein Kind könne Sprünge kitten. Sie begannen vielmehr zu begreifen, dass sie zusammengehörten, dass es anders gar nicht möglich war. Wie sich alles zusammenfügte, war richtig und vor allem war es ihr Weg, den sie von Anfang an gemeinsam gegangen waren und dabei den Anfang eine kurze Zeit nur aus den Augen verloren hatten.
Draußen begann der Regen hart gegen die bunten Dachgiebel des Restaurants zu schlagen. Alles war möglich für die Beiden. Das Gefühl, es bis hierher geschafft zu haben, war übermächtig. Karl überredete Anna und sie bestellten nach dem Essen eine zweite Flasche Weißwein. Anna wollte nichts kaputt machen und behielt ihre Ängste wegen dem Regen und der Heimfahrt und dem Wein für sich.
Als der Polizeiwagen um die Kurve kam, schrie Karl immer noch und zerrte und riss wie besessen an den Bockresten auf Annas Schoß. Karl hörte nichts mehr, begriff nichts mehr. Sein Geist hatte Lebewohl gesagt, war aufgebrochen in die Wälder und hinter die Berge. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Der Regen füllte die offen stehenden Augen Annas und unter den beiden kleinen Seen schimmerten die Augäpfel wie grüner Korallenstein. Als das Regenwasser die Lider flutete, schien Anna zu weinen. Wegen dem Kind, das sie mitnahm und wegen Karl, den sie zurücklassen musste.
Nehmen sie die Arme hoch, Mann, rief einer der beiden Polizisten Karl zu.
Die Nachtschicht war bislang ruhig gewesen und die kleine Schlägerei unten am Drive-In nicht der Rede wert.
Die haben einen Bock oder so was überfahren, Willy, sagte der Andere.
Karl konnte nicht mehr, fiel aus dem Wagen, spürte den stechenden Schmerz, als sein Fußknöchel brach.
Der ist betrunken, sagte Will und beugte sich über Karl.
Dann sah er in das Innere des Wagens und dabei mitten in die Hölle. Karl zog Will die Waffe aus dem Halfter. Es ging blitzschnell.
Hände weg von meiner Familie, schrie Karl und seine Stimme klang wie die eines gehetzten Tieres. Es waren drei Schüsse, die Karl abfeuerte, bevor ihm Will die Waffe aus der Hand treten konnte. Dann machte sich Will auf den Weg, den schon Anna diese Nacht gegangen war, kippte gegen die Motorhaube und erstickte an dem Blut in seinen Lungenflügeln. Vielleicht würde er Anna drüben auf der anderen Seite des Mondes wieder erkennen. Es war nicht auszuschließen, trotz der fehlenden Gesichtshälfte. Möglich war alles.
Peter konnte es nicht fassen, was da bei dem Wagen mit Will geschah.
Er schoss sein Magazin leer und als es zu Ende war, weinte er wegen Will. Er fuhr mit Will seit dem letzten Winter. Will war neu bei der Polizei und auf der Suche nach dem großen Abenteuer. Er stand auf Bruce Willis und darauf, wie der mit Gangstern umging. Er sagte, er wolle härter sein als Bruce, aber wenigstens drei mal am Tag zeigte er Peter das Foto seines Mädchens. Will sagte mein Mädchen zu ihr und Peter ließ es dabei, weil er wusste, wie sehr Will an der Kleinen hing. Sie ist zwar nicht mehr die Jüngste und mit einem großen Geschäftsheini zusammen, der für die Firma quer durch die Staaten fährt, erzählte Will über sie. Irgendwie stieß es ihn sauer auf, wenn er das erwähnte. Doch sie hatte nach Wills Reden ein süßes Lächeln und endlose Beine und Will war komplett vernarrt in sie. Und das konnte ein Blinder merken, so wie Will über sie sprach. Wo sie wohnte, wollte Will nicht verraten. Hier in der Gegend, sagte er knapp, wenn die Sprache darauf kam. Mehr ließ er Peter nicht wissen und das war schon in Ordnung so.
Will und er wollten morgen auf die Jagd. In der Gegend wimmelte es von kapitalen Böcken. Sie hatten sich lustig gemacht darüber, hatten über die Frauen im Allgemeinen herumgealbert und dabei ein paar Biere gekippt. Man muss nur anhalten und drauflosschießen, so dicht stehen die hier in den Wäldern beieinander, hatte Will einmal gesagt.
Der Krankenwagen ist unterwegs, meldete eine sonore Stimme über das Funkgerät.
Die Nachtschicht wäre in ein paar Stunden zu Ende gewesen, dachte Peter.
Über den Wäldern lag die Art von Stille, die einen verrückt macht, wenn man nicht umgehen kann mit ihrer Leere.
Es hätte auch anders kommen können, das mit Anna und Karl.
Auch das mit Will hätte so nicht sein müssen. Es wäre sich knapp ausgegangen, doch der Bock hatte zwei, drei Schritte in die falsche Richtung gemacht. Auch Karl hatte ein paar Jahre lang ein paar kurze Schritte in die falsche Richtung gemacht. Vielleicht auch Will, als er das College sausen ließ und zur Polizei ging, irgendwann Anna unten an der Tankstelle kennen lernte und irgendwann mit Anna schlief, als Karl wieder tagelang unterwegs war. Dass Anna diesen Abend mit Karl sehr genossen hat, sei angenommen. Dass Anna das Kind wollte, steht außer Zweifel. Dass das Kind nicht von Karl ist, hat Anna verschwiegen. Die Wahrheit hätte dem Abend seine Leichtigkeit genommen.
Was, wenn der Regen nicht gewesen wäre?