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Anna und Andrej
„Was soll daran falsch sein, Futter für die Karnickel zu suchen, Anna?“ Großmutter Njura rafft mit ihren knochigen Fingern das von uns gesammelte Gras zusammen und teilt es zwischen den Ställen auf. „Andrej macht es nichts aus“, fügt sie hinzu, als wir zu dritt hintereinander den schmalen Gang zwischen Karnickelstall und Gewächshaus in Richtung Wohnhaus laufen. Ich verdrehe hinter ihrem Rücken die Augen und boxe Andrej gegen das Schulterblatt, der mich daraufhin finster anschaut.
„Morgen nach der Schule mache ich euch Pelmeni mit heißer Butter.“
Als ob mich das die Demütigung vor den anderen Kindern vergessen ließe. Andrej machen die Blicke nichts aus - mir aber schon. Es hat keinen Sinn, mit Großmutter zu diskutieren oder ihr zu erklären, wie peinlich es für mich ist. Sie besteht darauf, dass wir nach der Schule auf dem Weg zu ihr das Gras neben den Gehwegsteinen für ihre Karnickel sammeln. Ihr Haus ist nicht weit entfernt, was es schwierig macht, von niemandem aus der Schule beim Grasbüschel rupfen beobachtet zu werden. Auf kleineren Wegen versuche ich, die Routen der nach Hause strömenden Schüler zu umgehen, um mich nicht hinter Bäumen verstecken zu müssen. Andrej meckert, er habe diese Umwege satt und findet, ich solle mich nicht so anstellen. Mit meinem Gehabe mache ich es erst peinlich, auch für ihn. Manchmal schickt er mich vor, um den Rest des Korbs allein zu füllen. Obwohl Andrej der ältere von uns beiden ist, auf diesen Vierminutenvorsprung legt er großen Wert, habe ich früh gelernt, meine Schlachten allein zu schlagen. Kurzum: Gegenüber unserer Großmutter kann ich nicht auf ihn zählen. Das ist mit unseren Eltern nicht anders. Während ich ihre Entscheidungen infrage stelle, akzeptiert er sie fast gleichgültig und gibt sich angepasst. Oft denke ich, dass ihm etwas mehr Rückgrat ganz gut täte. Manchmal hasse ich ihn sogar regelrecht dafür. Grundsätzlich liebe ich meinen Bruder natürlich, auch wenn ich nie die oft beschriebene tiefe Verbundenheit unter Zwillingen gespürt habe, welche die Geschwister über Hunderte von Kilometer hinweg spüren lässt, dass etwas mit dem anderen nicht stimmt. Vielleicht gibt es das nur unter eineiigen Zwillingen.
Sechs Jahre später stehe ich mit einer Kerze in den Händen zwischen meiner Mutter, links neben ihr mein Vater, und meinem Bruder in der Kirche. Etwas Wachs tropft gemeinsam mit meinen Tränen zu Boden und sprenkelt den grauen Stein zwischen meinen Schuhen, mit weißen und schwarzen Punkten. Während der Liturgie schaue ich zu meiner Mutter, die ihr Stofftaschentuch mit Zeigefinger und Daumen bearbeitet. Rechts von mir versucht Andrej, seine Tränen wegzublinzeln. Ich nehme seine Hand und halte sie fest in meiner. Babuschka schaut vom Himmel zu, als wir uns nach der Aussegnung mit einem Kuss auf ihre Stirn verabschieden. Ihre Hände sind auf der Brust zusammengelegt, die rechte Hand über der linken, in ihnen liegt eine Ikone des Erlösers. Diese ganzen Riten sind wichtig, nicht für die Toten, wohl aber für die Lebenden.
Ist das mit Totenruhe gemeint? Auf der Trauerfeier im Wohnzimmer meiner Eltern beobachte ich vom Sessel in der Ecke aus, wie Familie und Freunde betont langsam und so geräuschlos wie möglich durch den Raum schreiten, um meiner Mutter ihr Beileid zu bekunden. Ich zwinkere das Brennen in meinen Augen weg und schaue mich suchend nach Andrej um. Er steht neben der Tür zur Küche und spricht mit einem Nachbarn und unserem Vater. Fasziniert verfolge ich Gestik und Mimik von Andrej und Vater, die sich wie einstudiert gleichen, auch wenn ihre Statur nicht unterschiedlicher sein könnte. Während meine Eltern und ich eher klein und schmal gebaut sind, besitzt Andrej ein breites Kreuz und ist jetzt, kurz nach unserem zwanzigsten Geburtstag, gut zwei Köpfe größer als wir drei, was ihn immer hervorstechen lässt und ihn dazu bringt, etwas gebückt zu gehen. Ich recke dann neben ihm wie zum Trotz das Kinn in die Höhe, in der absurden Hoffnung, dadurch ein zwei Zentimeter an Größe zu gewinnen. Großmutter Njura sagte, Andrej kommt nach Großvater Mischa. Der hätte einen ganz ähnlichen Körperbau gehabt. Sie hatte auf alles eine Antwort parat. Ich vermisse sie schon jetzt schrecklich.
Am Abend, hole ich wieder den Brief aus meiner Schreibtischschublade vor. Ich sollte längst mit meinen Eltern über das Au-pair-Programm gesprochen haben. Aber wie soll ich ihnen beibringen, dass ich so schnell wie möglich raus will aus ihrem geliebten, gottverdammten Scheißkaff, in dem die Stadtgrenzen immer näher zu rücken scheinen und sich wie eine Schlinge um meinen Hals legen? Andrej sagt, er sei glücklich hier, er wolle später im Büro unseres Vaters arbeiten, vielleicht die Firma übernehmen. Als wir klein waren, träumten wir uns gemeinsam fort, mit dem Zug einmal um die Welt, oder wenigstens bis nach Kasan.
Solange die Sache mit dem Auslandsjahr rein hypothetisch war, schien es mir in Ordnung zu sein, dass meine Eltern nichts wissen. Und aus Angst, Andrej würde sich verplappern, sagte ich auch ihm nichts. Einmal war ich kurz davor, es meiner Mutter zu erzählen. Doch dann, als Großmutter Njura starb, vertagte ich dieses Gespräch wieder.
Mit einem Knoten in der Magengegend, gehe ich am nächsten Morgen in die Küche.
„Wie lange planst du das schon hinter unserem Rücken?“, bringt meine Mutter mit übertrieben gebrochener Stimme hervor und wedelt mit dem Brief in der Hand vor meinem Gesicht umher. Der Tadel, der in ihrer Stimme mitschwingt, lässt mich mit den Zähnen knirschen, auch wenn ich ihre Reaktion erwartet habe. Mein Vater neben ihr am Küchentisch bleibt, wie meistens, stumm.
„Du tust gerade so, als ob ich das mache, um euch zu verletzen. Merkst du nicht, dass mich das Leben hier erdrückt?“ Wenn sie denkt, mir damit ein schlechtes Gewissen einzureden oder an meine Gute-Tochter-Pflichten zu appellieren, irrt sie sich, diese Chance, hier wegzukommen werde ich mir bestimmt nicht entgehen lassen. Mit verschränkten Armen schaue ich zu meinem Vater. „Papa, sag ihr, dass sie mich nicht mehr zu bemuttern braucht!“
Statt meiner Bitte zu folgen, hebt er die Hände. „Haltet mich da bitte raus.“ Damit steht er auf und ich sehe ihm nach, wie er mit langsamen Schritten die Küche verlässt. Meine Mutter ignoriert ihn und schüttelt den Kopf. „Du kannst doch nicht so weit weggehen! Was sagt Andrej dazu?“ Ihre Augen gehen hin und her. Die Gedanken in ihrem Kopf scheinen sich zu überschlagen.
„Warum hätte ich Andrej etwas erzählen sollen? Auf Andrejs Unterstützung konnte ich mich doch noch nie verlassen. Und du packst ihn zu gern in Watte!“ Ich merke, wie sehr sie meine Aussage verletzt und schäme mich dafür. Schließlich war Andrej, wenn es hart auf hart kam, immer für mich da.
„Sei ruhig! Du weißt, ich mag es nicht, wenn du schlecht von deinem Bruder redest.“
Eine Weile schweigen wir uns an und ich will schon gehen, als ich höre, wie sie Luft holt, um etwas zu sagen.
„Du weißt, dass ich euch beide gleich liebe. Und ich will dir doch nicht deine Zukunftspläne ausreden. Du sollst tun, was dich glücklich macht. Das wünsche ich euch beiden, auch wenn ihr andere Wege einschlagt, als wir es uns für euch vorgestellt haben. Du musst deinem Herzen folgen. Anna…“ Ihre Augen schimmern feucht und sie schluckt schwer, bevor sie weiterspricht. „Ich denke, ich sollte dir etwas erzählen, was ich schon sehr lang mit mir trage.“ Sie streicht mit ihrer Hand imaginäre Falten aus der Tischdecke. „Vor eurer Geburt habe ich als Lehrerin in der Schule eines Waisenhauses unterrichtet. Dort zu arbeiten hat mich sehr berührt, aber auch unsagbar bedrückt. Alles in diesem Heim wirkte so kalt und funktional: die abwaschbare Ölfarbe an den Wänden, die Bettenreihen in den Schlafsälen. Und die Kinder, sie lachten mir ins Gesicht und spielten zusammen, aber ich merkte, dass sie im Inneren schrecklich einsam sind und sich in ihre eigene Fantasiewelt flüchten.“ Mit der Hand wischt sie sich über den Mund. Ich nutze die Pause, um mich zu ihr zu drehen.
„Als ich schwanger wurde, musste ich aufhören, dort zu arbeiten, weil ich es nicht mehr konnte, auch wenn ich danach oft an die Kinder gedacht habe. Als du geboren wurdest, meine süße Anjuta, gab es einen kleinen Jungen auf derselben Station, dessen Mutter ihn ablehnte und damit zum Waisen machte. Immer wenn ich dich aus dem Schwesternzimmer zu mir holte, sah ich ihn, wie er mit seinen kleinen Augen neugierig aufschaute.“
Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff.
„Und ich traf eine Entscheidung“, fuhr sie fort. „Die Ärztin fragte mehrfach, ob wir uns wirklich sicher seien, bevor sie seine Geburtsbescheinigung zerriss und eine neue mit einer Zwillingsgeburt ausstellte. Es war für die Ärztin nicht ganz ungefährlich, gegen die Gesetze zu verstoßen. Wir sind ihr sehr dankbar, dass sie Andrej und uns geholfen hat.“
Ich starre sie mit offenem Mund an. "Weiß Andrej Bescheid?"
"Nein."
Mit gesenktem Blick atme ich tief durch und reibe die Lippen aneinander. Die Holzdielen knarren, als Andrej die Küche betritt und er stirnrunzelnd, noch mit der Türklinke in der Hand, stehen bleibt.
"Warum schaut ihr zwei wie ein Topf voll Sauerkrautsuppe?"
"Ich hab Mama gerade erzählt, dass ich ein Au-pair-Jahr in Deutschland machen werde“, erwidere ich schnell. „Sobald die letzten Prüfungen vorbei sind, werde ich gehen."
"Echt? Wow." Er schließt die Tür hinter sich und schlüpft aus seiner Jacke, die er an den Garderobenhaken neben der Tür hängt und setzt sich neben mich auf die Sitzbank. "Kleines Schwesterlein, du warst schon immer die Mutigere von uns beiden." Sein breites Grinsen weicht einem stolzen Gesichtsausdruck. "Weißt du, ich wusste, dass du deinen Weg gehen wirst." Andrej legt seinen Arm um meine Schultern, meine Mutter greift nach meiner Hand und drückt sie sanft.
Zwei Wochen, nachdem ich in Deutschland angekommen bin, besuche ich eine Ausstellung mit Aufnahmen von Svetlana Mychkine . Sie fotografierte für ihre Abschlussarbeit in russischen Waisenhäusern. Ich stehe vor den Bildern und starre in lachende Gesichter mit leeren Augen, in Schlafsäle, in denen Bett an Bett steht und lange Korridore mit ölhaltiger Farbe an den Wänden, die an einigen Stellen schon reißt und abblättert und ich spüre über Hunderte von Kilometern hinweg meinen Bruder.