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Anna Irene und ihre schönsten Erlebnisse (05)
Frau K. ist mit Anna Irene in der Innenstadt, wo gerade ein Elefantenreiten für Kinder stattfindet. Sie kommt nicht drumherum, sich mit Anna Irene dort anzustellen. „Das kostet wieder so viel Zeit!“
„Bitte Mutti...“
„Du bist fürchterlich! Und ich komme nachher wieder nicht zurecht!“
„Mutti, bitte...“
„Na meinetwegen, aber nur einmal! Und keine weitere Diskussion!“
Viele Kinder warten mit ihren Eltern, um die einmalige Attraktion auszunutzen. Alle freuen sich gespannt darauf, dranzukommen oder lachen schon vom hohen Sitz auf dem Elefanten herab, während ihre Eltern ihnen zujubeln. Anna Irene freut sich auch. Nur dreimal wird die allgemeine gute Laune durch Streitereien gestört – als Frau K. zweimal meint, es habe sich jemand vorgedrängt und als Anna Irene endlich drankommt. Als erste vorne sollte sie sitzen, worüber sie sich unheimlich freut.
„Nein, nein – meine Tochter sitzt bitte in der Mitte. Ganz vorne ist das doch zu gefährlich, da lasse ich sie nicht mitreiten.“
„Aber die Kinder sitzen doch gerne vorne und es kommen alle der Reihe nach dran.“
„Entweder sie sitzt in der Mitte oder ich bekomme mein Geld wieder zurück und wir gehen.“
Anna Irene sitzt jetzt in der Mitte und Frau K. diskutiert lautstark mit dem Mann, der den Kindern immer hinauf- und hinunterhilft, während die anderen Eltern ihren Kindern zuwinken.
Abends
„Na, erzähl dem Onkel Joe was du heute erlebt hast!“
„Ich bin heute auf einem Elefanten geritten.“
„Und, war es schön?“
„Ja.“
Anna Irene ist dabei, zu lernen, dass sie Gefühle, sowohl positive wie negative, für sich behalten muss, wenn sie nicht will, dass sie ihr zum Nachteil werden.
Nachdem sie ihrer Mutter von einem Streit im Kindergarten erzählt hat, regt sich diese bei den Tanten dermaßen auf, dass sie sich gezwungen sehen, die Beschwerde an das betreffende Kind weiterzugeben, wodurch der Streit, der eigentlich ja schon gar nicht mehr bestand, wieder aufflammt und noch schlimmer wird als vorher. Nein, sie hat sie nicht aus Liebe verteidigt. Aus Liebe hätte sie sie getröstet, das hat sie aber nicht getan....
„Das ist doch ganz gleichgültig, ob du dich mit DEM verstehst. Wichtig ist, dass DU ordentlich bist und dass man UNS nichts Schlechtes nachsagen kann, dass ICH mich für dich nicht genieren muss!“
Das war Anna Irene eine Lehre. Sie sollte heute besser nichts sagen, alles schlucken. Sie fühlt sich einsam, sieht kein Ventil für ihren Schmerz, den sie ja laut Frau K. gar nicht zu haben hat.
Äußerlichkeiten sind immens wichtig für Frau K.. Stets ist sie bemüht, ihre Tochter „anständig“ zu kleiden, eine Prinzessin sollte sie sein, die sie herzeigen konnte. Immer sauber, nett und ordentlich. Niemand soll auf den Gedanken kommen, um dieses Kind kümmere sich niemand. Alle sollen sehen, dass sie sich sehr gut kümmert.....
Zu dem neuen Kleid müssen unbedingt dunkelblaue Halbschuhe her, bevor Anna Irene eine Woche zu ihrer Oma (mütterlicherseits) nach Eisenerz fährt. Ohne blaue Halbschuhe kann sie nicht fahren. „Wie sieht das denn aus, die anderen passen doch alle nicht dazu?!“
Auch die Oma ist eine sehr ordentliche Frau und putzt brav jeden Abend die Schuhe von Anna Irene. Leider sieht sie nicht mehr so gut.
Während der Woche bei der Oma klimpert Anna Irene am Klavier, malt, geht mit ihr ins Schwimmbad oder spazieren. Es ist eine Erholung, trotz einiger großmütterlicher Pingeligkeiten.
Frau K. kommt, um Anna Irene abzuholen... „Ja sag einmal, was hast du denn mit den Schuhen gemacht?!“ – „Ich habe sie jeden Abend geputzt, was ist denn mit ihnen?“ – „Ja bist du denn verrückt?! Die schönen blauen Schuhe! Jetzt sind sie ganz schwarz! Ich habe Stunden gesucht, bis ich solche blauen Schuhe gefunden habe und du putzt sie einfach mit schwarzer Schuhcreme?!!“
Anna Irene hat Mitleid mit ihrer Oma, die bei dem Geschrei zu weinen beginnt. Bis zur Abfahrt gibt es kein anderes Thema mehr, es scheint, als würde die Welt aufgrund der nun nicht mehr dunkelblauen Schuhe zugrunde gehen und die Oma ist schuld daran....
Frau K. kauft sich einen Fotoapparat und läßt sich von ihrem Lebensgefährten, dem Onkel Joe, mit Anna Irene fotografieren. Dafür setzt sie sich auf einen Sessel und tut etwas für Anna Irene bis dahin völlig fremdes: Sie nimmt sie auf den Schoß. „Lach einmal!“ Es ist seltsam für Anna Irene, auf dem Schoß ihrer Mutter zu sitzen, sie kennt das nicht und irgendwie widerstrebt es ihr auch, es wirkt alles sehr gespielt und unecht. Aber jetzt gibt es ein Foto davon und niemand kann mehr behaupten, sie hätte keine körperliche Liebe erfahren....
Mit vier Jahren hat Anna Irene eines ihrer schönsten und zugleich vermutlich verhängnisvollsten Erlebnisse aus dieser Zeit. Eine Mandeloperation läßt sie die Welt des Unterbewußten erleben....
Sie liegt auf dem Operationstisch und bekommt ein Tuch über das Gesicht gelegt. Über Nase und Mund tropft der Arzt Äther auf den Stoff – nie wieder wird sie den Geruch vergessen, den sie einatmet.
Anna Irene taucht ein in einen bunten Spiraltunnel, der in allen Farben und sämtlichen Nuancen immer weiter führt, tiefer und tiefer geht, nie aufhört.... Der Tunnel gefällt Anna Irene, alles ist so farbenfroh und sie kann den Flug frei genießen, es ist niemand da, der ihr das Erlebnis zunichte machen könnte. Keine Frau K., die sie herausholt, weil sie sich nicht freuen soll. Sie fühlt sich frei und fliegt und fliegt durch das schöne Farbgemisch und es scheint kein Ende zu nehmen....
Irgendwann ist die Operation aber doch vorbei und sowie sie aufwacht, kommt auch schon die Realität in Form der Frau K. und das Erlebte wird schnell eingesperrt. Niemals kommt Frau K. dort hin, wo Anna Irene dieses Ereignis aufbewahrt....
Sie baut sich eine Mauer. Stein für Stein und ihr Lieblingslied ist "Wer will fleissige Handwerker sehen, der muß zu uns Kindern gehen...."
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Susi P.
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Hier geht´s zum ersten Teil der Anna Irene-Geschichten:
1. Februar 1965, eiskalt
und hier zum nächsten:
Die Weihnachtsvorstellung