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Anna Irene und die Einflüsse von außen (04)
Seit der Scheidung ihrer Eltern hat Anna Irene ihren Papa und ihre Schwester nur sehr spärlich gesehen, er lebte nun mit Astrid bei seiner Mutter, der „Linzer-Oma“. Er war wohl der Überzeugung, es sei besser, sich die erste Zeit nicht zu melden – oder traute er sich Frau K. gegenüber nicht, seine Besuchswünsche zu äußern? Auch die Frage, warum denn Frau K. nicht selbst auch den Wunsch hatte, ihre Tochter Astrid zu sehen, bleibt offen.
Erst eine Wendung im Leben des Vaters bringt ihn ihr wieder ein Stück näher: Er lernt Ilse kennen, mit ihren siebzehn Jahren ist sie um einiges jünger als er selbst, aber sie hat enormen Hausverstand. Binnen Kürze heiraten die beiden und sie gibt ihm die Kraft, sich um das Besuchsrecht für Anna Irene zu kümmern. Ab nun sollte Anna Irene ein Wochenende pro Monat bei ihrem Papa verbringen und Astrid umgekehrt ebenso bei ihrer Mutter.
Mit gepackter Tasche samt eigener Handtücher und feinstem Gewand wird sie an der Wohnungstür übergeben. Sie kann ihrem Papa erst zeigen, daß sie sich freut, als die Türe wieder geschlossen ist und die Mutter es nicht sieht. Die würde sehr allergisch darauf reagieren, bei der Rückkunft, das weiß Anna Irene.
Anna Irene fährt mit ihrem Papa zu der neuen Wohnung, in der Ilse und Astrid auf ihre Ankunft warten. Unterwegs erzählt er ihr von seinem neuen Leben und als sie ankommen, spürt Anna Irene sofort, daß hier ein anderes Klima in der Luft liegt. Sie versteht sich sofort mit Ilse, die in einem ganz anderen, viel angenehmeren Ton spricht, als Frau K. Mit ihrer Schwester zu spielen genießt das kleine Mädchen ebenso, wie gemeinsame Ausflüge oder Besuche bei der Oma und anderen Verwandten väterlicherseits. Traurig wird sie immer am Sonntag Nachmittag, wenn es wieder heißt: „So, wir müssen jetzt dann fahren, daß wir nicht zu spät kommen, sonst schimpft die Mutti.“
Die Gegenbesuche von Astrid verlaufen nicht so angenehm. Sie beginnen mit Nörglereien, irgendetwas findet Frau K. immer auszusetzen. Entweder ist Astrid zu warm, zu kalt oder nicht schön genug angezogen, oder die Schuhe passen nicht zum Rest der Kleidung oder die Haarspange sitzt schlecht. Manchmal geht Frau K. dann mit ihren beiden Töchtern in die Stadt und kauft für beide das gleiche Gewand. Besonders viele Fotos schießt sie, nachdem sie für beide ein mintgrünes Mäntelchen mit ebensolchem Hütchen und dunkelblauen Schühchen gekauft und es ihnen sofort angezogen hat. In solchen Momenten fühlt sie sich als richtig gute Mutter, die ihre Kinder nicht so verwahrlost herumlaufen läßt, wie es ihrer Meinung nach manche tun, die ihren Kinder gar gebrauchte Sachen anziehen.
Die wenigsten der gekauften Kleidungsstücke gibt sie Astrid mit nach Hause, sie soll doch etwas haben, wonach sie sich sehnt, wenn sie auf Besuch kommen soll. Sie ist der Ansicht, „die“ – damit meint sie ihren Ex-Mann und Ilse – sollten gefälligst selbst schauen, daß sie was anzuziehen haben, für Astrid.
Ilse ist wenige Wochen vor der Geburt ihres ersten Babys, trotzdem versucht sie eine Annäherung an die Mutter der beiden Kinder, die ihr mittlerweile ans Herz gewachsen sind. Doch Frau K. lehnt die Einladung zu Kaffee und Kuchen ihrem ExMann gegenüber mit der Begründung ab: „Was soll ich denn mit DER schon reden?!“
Anna Irene´s Überzeugung, es könne ihr nirgends schlechter gehen, als bei ihrer Mutter, wird von Zweifeln überschattet: „Warum spricht sie so schlecht von Ilse? Da muß es etwas geben, was ich nicht weiß.“, denkt sie im Stillen, kann aber mit niemandem drüber reden.
Auch, wenn sie mit Anna Irene schimpft, droht Frau K. immer wieder: „Wenn es dir hier nicht paßt, kannst du ja zu deinem Vater gehen, wirst schon sehen, wie es dort in Wirklichkeit zugeht!“
Anna Irene weiß nicht mehr, was sie nun glauben soll. Geht es ihr am Ende doch bei ihrer Mutter am besten? Bildet sie sich nur ein, es ginge anderen besser, - ja, vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, was sie erlebt? Fragen über Fragen, die sie niemandem stellen kann, nur sich selbst, da findet sie aber keine Antworten.
Ein weiterer Kontakt zu anderen Menschen eröffnet sich, als Frau K. eine ältere Frau engagiert, die Anna Irene ab nun fallweise vom Kindergarten abholt und für ein bis zwei Stunden zu sich nach Hause nimmt. Dort kann Anna Irene malen oder spielen oder, was sie anfangs besonders gerne tut: in der Wohnung im Kreis laufen. Diese ist nämlich so angelegt, daß man durch alle Zimmer in einer Runde durchgehen kann und wieder im Vorzimmer herauskommt. Es keppelt niemand, wenn sie so durch die Räume flitzt, das macht Spaß.
Nach wenigen Monaten wird dieser Kontakt aber beendet, denn da erlaubt sich die Leih-Oma einen groben Fehler: Sie wischt Anna Irene den Mund mit dem Geschirr-Schwamm ab, weil sie gerade beim Abwaschen ist und die Banane, die Anna Irene eben gegessen hat, Spuren in ihrem Gesicht hinterließ.
Frau K. wäre niemals eingefallen, irgendjemandem mit dem Geschirr-Schwamm ins Gesicht zu fahren. Wahrscheinlich gerade deshalb findet Anna Irene dies lustig und erzählt es ihrer Mutter noch, in der Meinung, diese würde vielleicht mitlachen. Doch weit gefehlt: Sie sieht die nette Frau nie mehr wieder.
Anna Irene ist gerade vier Jahre alt, als Frau K. mit ihrem Lebensgefährten, dem Onkel Joe, beschließt, in eine neue Wohnung umzuziehen. Dort findet sie schnell Freunde, die im selben Haus oder in einem der anderen drei achtstöckigen Betonblöcke wohnen. Bald bekommt sie von Onkel Joe ein Fahrrad, mit dem sie sofort fahren kann. Es macht Spaß, mit den anderen Kindern um die Wette zu radeln oder einfach in der Gegend herumzufahren.
Eines Tages fährt sie mit einem Buben aus dem Haus zusammen und hat ein aufgeschundenes Knie, sowie eine kaputte Strumpfhose. Frau K.´s Entrüstung haftet an der Strumpfhose und was das für ein böser Bub sei, daß der nicht aufpassen kann. Daß das Knie schmerzt, ist Nebensache, auch die Tatsache, daß beide gleichermaßen Schuld an dem Zusammenstoß hatten: der Kontakt mit dem Buben wird verboten.
Dieses Verbot erstreckt sich so weit, daß Frau K. nicht einmal in den Aufzug einsteigt, wenn irgendjemand aus dessen Familie ebenfalls hinauffahren will. Da wartet sie lieber so lange, bis der Aufzug wieder hinunter kommt. Anna Irene hat nur mehr heimlichen Kontakt mit ihrem Freund, über Jahre hinweg macht Frau K. immer wieder herabsetzende, beleidigende Bemerkungen.
Wenn Anna Irene alleine mit einem aus besagter Familie Aufzug fährt, vergewissert sie sich immer, daß derjenige auch wirklich nichts davon ihrer Mutter sagt, denn es hätte schmerzhafte Folgen gehabt.
Aber sosehr sie sich auch bemüht, ihrer Mutter in allen Belangen zu entsprechen, kommt es doch fast jeden Tag zu Szenen, die Haare-Reißen, gegen die Badewanne oder den Türstock fliegen, getreten oder ins Zimmer verbannt werden („Und wehe, du kommst heraus, bevor ich es sage!“), mit sich brachten. Ein nicht abgedrehtes Licht am Klo oder eine Häkelnadel, die Frau K. nicht findet, reicht schon, um sie zum Explodieren zu bringen.
Fallweise geht es dann wieder mit ihr komplett durch, so schmeißt sie eines Tages Anna Irene auf ihr Bett, wirft die Decke über ihren Kopf und drückt minutenlang darauf – allerdings nur auf das Ohr, denn Anna Irene hat den Kopf schnell zur Seite gedreht. - Entweder ist sie der Meinung, sie drückt auf Nase und Mund oder sie will ihr einfach nur Angst machen. Anna Irene kommt die Zeit unter der Decke ewig vor und ihre Mutter läßt auch erst aus, als sie sich tot stellt – Arme und Beine hängen läßt und die Atmung so verflacht, daß ein Heben und Senken des Brustkorbes kaum mehr bemerkbar ist.
Als Anna Irene in die Schule kommt, werden sämtliche Kontakte zu Freunden aus dem Kindergarten abgebrochen. Durch die Übersiedlung der Familie wohnen sie auch alle nicht in der näheren Umgebung. Die Freundschaften aus dem Kindergarten kann Anna Irene also vergessen.
Obwohl Frau K. sonst alle zu der Zeit modernen Haushaltshilfen, wie Waschmaschine, Mixer oder Staubsauger, unbedingt haben muß, weigert sie sich gegen die Anschaffung eines Fernsehers. Auch, als Anna Irene heulend nach Hause kommt, weil ihre Mitschüler sie deshalb ausgelacht haben, faßt sie sich kein Herz. Es ist Onkel Joe, der eines Tages mit einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher bei der Wohnungstür hereinkommt und ihn, nach heftiger Diskussion mit Frau K., die ihn samt Fernseher wieder hinausschicken will, schließlich doch im Wohnzimmer aufstellt.
Mit Schulbeginn ist Anna Irene auch zweimal pro Woche abends alleine zu Hause, denn Frau K. und Onkel Joe versuchen, die Matura in einer Abendschule nachzuholen. Sie wird dabei in der Wohnung eingesperrt, samt einem Berg Essen, den sie verdrücken soll. Sie ist sehr lernfähig: Nachdem ihre Mutter zweimal ausgerastet ist, weil noch Essen übrig blieb, macht sie kurzerhand mit den anderen Kindern aus, daß diese um sechs am Abend unterhalb ihres Balkones sein werden. Von nun an wirft sie zweimal pro Woche Essen aus dem fünften Stock, um körperlichen Qualen zu entgehen.
Dies hat ein jähes Ende, als ein Sunkist-Packerl* auf einem der darunterliegenden Balkone zerplatzt, dessen Besitzerin nichts besseres zu tun hat, als zu warten, bis sie Frau K. sieht und den „Schaden“ von ihr aufwischen läßt.
Mehr hat Anna Irene nicht gebraucht...
Frau K. sieht trotzdem nicht ein, daß Anna Irene nicht alles essen kann, sie schimpft wieder, als etwas übrig bleibt. Anna Irene lernt weiter: Sie entsorgt Nichtgegessenes ab nun durchs Klo, wobei sie Acht gibt, alles in kleinen Stücken hineinzuschmeißen und zwischendurch hinunterzulassen, damit es nicht verstopft wird.
Durch das abendliche Alleinsein sieht sie sehr viel von der Welt im TV, was eigentlich nicht für Kinder in diesem Alter bestimmt ist. Besonders beeindruckt sie eine Dokumentation über hungernde Kinder in irgendeinem Entwicklungsland. Sie sieht das Gegenteil von sich selbst: Kinder, die von ihren Müttern liebend im Arm gehalten werden, die ihnen aber absolut nichts bieten können, nicht einmal ein Stück Brot. Selbst Babys saugen vergeblich an der Brust der Mutter, diese hängt nur schlaff hinunter. Sie sieht Kinder mit Wasserbäuchen und bis auf die Knochen abgemagerte Gliedmaßen und solche, die bereits verhungert am Boden liegen. Sie sieht den Kontrast zu ihrem eigenen Leben, sie, die Essen vom Balkon schmiss oder es im Klo entsorgen muß. Sie ist tief geschockt, hätte eigentlich schon längst abdrehen müssen, als sie den Aufzug hört und anschließend scheppernde Schlüssel. In Rekordtempo dreht sie den Fernseher ab, rennt in ihr gleich nebenan liegendes Zimmer und stellt sich schlafend.
Wenige Minuten danach kommt Frau K.: „Du brauchst dich gar nicht schlafend stellen! Der Fernseher ist noch ganz warm!“ – sie schreit einige Zeit weiter, doch Anna Irene ist noch zu tief von der Dokumentation beeindruckt, als daß das Geschrei der Frau K. ihr etwas anhaben könnte. Und wenn Onkel Joe da ist, dann passiert ihr auch nichts, das weiß sie ja ohnehin.
Durch das Gesehene ist sie nun endgültig überzeugt, daß sie es doch irgendwie und trotz allem ganz gut erwischt haben muß: immerhin braucht sie nicht zu hungern.
Susi P.
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Die erste Geschichte von Anna Irene...
1. Februar 1965, eiskalt
(Links führen weiter)
...und die nächste:
Anna Irene und ihre schönsten Erlebnisse