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Anna Irene: Kindergarten und Stecknadeln (03)
Nach Frau K.´s Worten »Die Anna Irene nehm mir ich und mit der Astrid kannst Du machen, was Du willst« wird die Scheidung von ihr und ihrem Mann gerichtlich ebenso beschlossen. Entsprechend früher geltendem Recht muß der Vater Alimente zahlen, Frau K. nicht. Genau so hatte sie sich das auch ausgemalt.
Während die Eltern ihre Habseligkeiten trennen, sind die Kinder bei ihrer Oma väterlicherseits. Beide sind gerne dort. Anna Irene, eindreiviertel Jahre alt, genießt es, hier alles untersuchen zu dürfen. Die Oma traut ihr was zu, sie nimmt ihr nicht alles aus der Hand und ist überhaupt eine sehr ruhige und ausgeglichene Frau.
Frau K. kommt, um Anna Irene abzuholen, und schon geht ein Geplärr los: Anna Irene will nicht mitgehen, Astrid möchte ihre Schwester bei sich behalten. Die Oma versucht, alle zu beruhigen, doch es hilft nichts. Gegen die starke Frau K. kommt sie nicht an, die sie übertönt – sie alle zusammen übertönt. Mit einigen Zetteln, auf denen sich seltsame schwarze Zeichen befinden, fuchtelt sie in der Luft herum, hält sie Anna Irene unter die Nase und schreit: »Da! Da steht es drinnen, daß ich dich jetzt mitnehme und Astrid hier zu bleiben hat! Das Gericht hat das so gesagt!«
Diese Art kann nicht einmal die vielgeprüfte Oma, die selbst fünf Kinder zu glücklichen Erwachsenen gemacht hat, ertragen. Die Tränen stehen ihr in den Augen, weil sie sich so machtlos fühlt. Anna Irene wird geschnappt und aus der Wohnung getragen – da hilft kein um Hilfe suchendes Heulen und kein Wehren. Zurück bleibt für sie die Erinnerung an eine sehr liebe, aber für die Mutter viel zu schwache Großmutter, die vor lauter Grausamkeit der Schwiegertochter das Weinen nicht mehr zurückhalten kann. Ihre Hand streichelt dabei Astrids Kopf, die sich Schutz suchend hinter sie gestellt hat und nur seitlich ängstlich hervorschaut, das Geschehen sichtlich nicht fassen kann.
Ein Bild, das sich wie ein Foto in Anna Irenes Erinnerung prägt.
Anna Irene wird oft in ihrem Gitterbett aufbewahrt. Natürlich könnte sie bereits selbst heraussteigen, aber sie weiß ja schon, was das bringt…
Wenn sie dann so dasitzt und sich fadisiert, weil alles Interessante sich außerhalb des Gitterbettes befindet, spielt sie gern mit ihrem kleinen roten Ball. Er ist gerade so groß, daß sie ihn mit beiden Händen umfassen kann. Zum Einschlafen hält sie sich immer an ihm fest. Kleine bunte Katzen sind daraufgedruckt. Das Plastik fühlt sich ein bisschen rau an, Anna Irene kratzt gerne an den kleinen Katzen, deren Farbe dadurch mit der Zeit immer mehr abblättert. Wie andere Kinder den Teddy-Bären, nimmt sie ihren roten Ball fast immer mit.
Und dann passiert es eines Tages, daß der Ball beim Einsteigen in die Straßenbahn hinunterfällt, davonrollt, auf die Straße, unter die Autos… Frau K. versucht, Anna Irene zu beruhigen – mit Worten wie: »Was heulst du denn dem so nach, das war doch nur ein Ball!« – Obwohl schon einige Leute schauen, wird sie dabei immer lauter.
In einem Spielzeuggeschäft kauft sie schließlich einen viel kleineren roten Ball – ohne Katzen drauf.
Anna Irene will ihn erst nicht, weil es nicht ihr kleiner roter Ball ist – er fühlt sich ganz anders an, ist viel zu glatt, und er ist auch zu klein, um ihn mit beiden Händen zu halten.
»Es ist ein roter Ball«, meint Frau K.
Anna Irene bleibt nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, daß ihr alter roter Ball wirklich und endgültig weg ist. Wie die Schwester, wie der Papa, wie die Oma.
Jetzt hat sie ja einen Ersatz-Ball. Und schon bald auch einen Ersatz-Papa – »Onkel Joe«.
Hoffnung keimt auf. Anna Irene weiß irgendwoher, daß alles nur besser werden kann.
Onkel Joe ist ihr vom ersten Tag an sympathisch – so, wie einem ein fast Fremder das nur sein kann. Schon vom Aussehen her wirkt er wie ein Teddybär, obwohl er nicht so dick ist. Anna Irene lernt ihn aber schnell näher kennen: als einen sehr ausgeglichenen, lustigen Menschen, der Anna Irene ein bisschen Wärme geben kann.
Onkel Joe schimpft nie mit Anna Irene, vielmehr versucht er oft, sie zum Lachen zu bringen.
Wenn er zu seinen Eltern in den Garten fährt, nimmt er Anna Irene immer mit. Sie ist dann jedesmal froh, aus der Umgebung von Frau K. herauszukommen, denn die fährt nie mit. Sie gibt immer nur den leeren Eierkarton mit, damit Joe, wie sie ihn nennt, ihn gefüllt wiederbringt – und einen schönen Gruß schickt sie natürlich mit, man will ja nicht unhöflich erscheinen.
Anna Irene lernt bald, daß ihre Mutter sie, wenn Onkel Joe da ist, nie schlägt, nie an den Haaren reißt, nie gegen den Türstock donnert – oder ähnliches.
Vor allem deshalb ist sie immer sehr froh, wenn er da ist.
Nur das Herumbrüllen kann Frau K. auch in seiner Gegenwart nicht bleiben lassen. Aber das ist nicht so schlimm, denn Onkel Joe ist ja da und Anna Irene fühlt sich sicher.
Eine ganz andere Art von Menschen darf sie erleben, als sie mit drei Jahren in den Kindergarten kommt. Obwohl sie natürlich nicht – wie heute üblich – langsam eingewöhnt wird, sondern gleich den ganzen Tag dort bleiben muß, fragt Anna Irene, als sie abgeholt wird: „Darf ich da eh morgen wieder hergehen?“
Schnell hat Anna Irene Freunde gefunden, auch die Kindergärtnerin liebt sie sehr. Hier kann sie spielen, ohne dabei Angst haben zu müssen, daß der Mutter wieder irgendetwas einfällt, was sie an ihr auslassen könnte. Hier ist sie in der Lage, so richtig im Spiel zu versinken, und wenn mit ihr geschimpft wird, dann weiß sie auch, warum.
Die Sicherheit im Kindergarten gibt ihr die Möglichkeit, ihre Meinung zu sagen, sich richtig zu wehren, was sie dann auch in ausreichendem Maß tut. Natürlich gibt es zu dieser Zeit noch Strafen wie »im Winkel stehen«, jedoch ist das gegen die Mißhandlungen der Frau K. schon fast ein Spaß.
Ende der Sechziger ist es noch üblich, Mädchen und Buben unterschiedlich zu behandeln. So dürfen in der Puppenecke nur Mädchen spielen, und mit den Bausteinen nur die Buben. Anna Irene spielt allerdings viel lieber mit Bausteinen als mit Puppen. Sie weiß nicht, was sie in der Puppenecke spielen sollte - das, was die anderen Mädchen spielen, kennt sie nicht: Sie lieben ihre Puppen offensichtlich, schaukeln sie in ihren Armen und liebkosen sie. Es gibt auch einen Buben in der Gruppe, der gerne in der Puppenecke ist und sich für die Bausteine keinen Deut interessiert.
Jedesmal, wenn die Tante sieht, womit Anna Irene und Thomas spielen, kommt sie und vertreibt die Kinder wieder vom nicht geschlechtsgemäßen Spielzeug.
Anna Irene baut mit ein paar Buben eine Stadt aus Bausteinen. Eine Zeit lang geht es gut, aber da kommt die Tante und ermahnt die beiden, will sie wieder von ihrem Lieblingsspiel wegjagen. Aber jetzt ist es soweit, jetzt läßt Anna Irene endlich ihren Unmut heraus. Sie ballt die Hand zur Faust, haut auf den Tisch und schreit: »Ich will jetzt Baustein-spielen und deshalb spiel ich jetzt auch mit den Bausteinen! Und wenn Thomas Puppenspielen will, dann spielt er in der Puppenecke! So!« – Das macht Eindruck auf die Kindergärtnerin. Sie kann dem einfach nicht widersprechen, schaut Anna Irene nachdenklich an und akzeptiert von nun an die persönlichen Vorlieben der Kinder.
Zu Hause sieht es natürlich anders aus.
Anna Irene spielt mit so einem Propeller, den man an einer Halterung feststeckt. Er fliegt in hohem Bogen weg, wenn man an der Schnur zieht.
Frau K. hat ihn ihr geschenkt und ihr erlaubt, im Vorzimmer damit zu spielen, weil da nichts kaputt gehen kann. Mit hinaus darf sie das Spiel nicht nehmen, weil es sonst die anderen Kinder kaputt machen könnten, und Frau K. doch so schwer dafür arbeiten mußte.
Also steht Anna Irene im Vorzimmer und läßt den Propeller fliegen – gegen die Wand fliegen, denn das Vorzimmer ist nur sehr klein. Plötzlich macht er aber doch einen weiten Flug – in die Küche und hinter den Herd. Weg.
Frau K. kommt, schreit entsetzt »Was ist denn passiert?!« und Anna Irene zeigt zum Herd und versucht, ihr zu sagen, daß der Prop… Da nimmt Frau K. Anna Irene an den Haaren, erklärt ihr in einem Ton, bei dem selbst ein Beamter im Strafvollzug zusammengezuckt wäre, daß sie hätte aufpassen müssen, und wie oft habe sie das schon gesagt. Sie zieht Anna Irene an den Haaren bis ins Kinderzimmer. »Jetzt bleibst du da drinnen, denkst nach und kommst erst wieder heraus, wenn du weißt, wie du dich zu verhalten hast!« Bumm – die Tür fliegt zu.
Eine Weile vergeht, Anna Irene weiß nicht, worüber sie eigentlich nachdenken soll.
Mit einem Ruck geht die Türe wieder auf, Frau K. erscheint mit ihrem Nadelpolster, in dem jede Menge Stecknadeln mit bunten Köpfen stecken. »Da!«, schreit sie und deutet dabei auf den Boden vor sich. »Da kommst du jetzt her! Na was ist!« Anna Irene stellt sich hin, schaut sie ängstlich an. Frau K. legt den Nadelpolster auf den Tisch und nimmt drei Stecknadeln zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Wenn du dich nicht sofort hier vor mir auf den Knien entschuldigst« – sie fährt dabei mit den Stecknadeln auf und ab, als wolle sie damit das Gesagte unterstreichen, die linke Hand ergreift die Haare von Anna Irene, sodaß es schmerzt, und die rechte Hand hält jetzt die Stecknadeln in etwa zwei Zentimetern Abstand vor Anna Irenes linkes Auge, während sie fortfährt, »werde ich dir die Augen ausstechen!!! Das wird dir noch leid tun!!!«
Frau K. zieht dabei Anna Irene an den Haaren hinunter, behält dabei die Stecknadeln vor dem Auge, und Anna Irene befürchtet, sie könne aus Versehen wirklich zustechen, weshalb sie sich nicht einmal mehr zu blinzeln traut.
Sie spürt bereits den Boden unter den Knien und ein schluchzendes »Entschuldigung« ist zu vernehmen.
»Ich möchte eine ordentliche Entschuldigung hören! Ein ›Entschuldigung‹ kann jeder so dahersagen!«
Anna Irene bringt kein Wort heraus, die Tränen rinnen, jeder Körperteil zittert.
»Na! Wird´s bald!?«
Es hört sich entsprechend ihrem körperlichen Zustand an, als Anna Irene sagt:
»Entschuldigung liebe Mutti, ich werd´s nie wieder machen.«
Sie weiß ja, daß Frau K. es so hören will und nicht anders, dafür kommen endlich die Stecknadeln wieder weg. Wobei sie zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr weiß, wofür sie sich denn eigentlich entschuldigt hat. Aber darum geht es ja auch gar nicht.
Frau K.: »Und jetzt hör auf zu heulen! Du hast überhaupt nichts zu heulen! Die Einzige, die da etwas zu heulen hat, bin ich! Weil ich soo ein Kind hab!«
Anna Irene kann nicht aufhören, sie fühlt nur mehr ein Zittern in sich und es kommt ihr vor, als schössen die Tränen wie Wasserfälle aus den Augen. Da hilft es auch nicht, als Frau K. immer noch keine Ruhe gibt und schreit:
»Na! Was is jetzt?! Hörst du jetzt endlich auf?! – Ich werd dir das schon noch austreiben! Du Rotzbankert!«
Beim Shopping auf der Einkaufsstraße gibt Frau K. Anna Irene ganz gerne irgendwo ab, um nicht dieses lästige Anhängsel immer bei sich zu haben. Meistens ist dies die Spielzeugabteilung eines großen Kaufhauses. Dort kann sich Anna Irene sämtliche Spielsachen anschauen, mit denen ihre Mutter sie dann wieder erpreßt, wenn sie sie haben will. Anna Irene kennt sich in der Spielzeugabteilung bereits so gut aus, daß sie sofort als Verkäuferin beginnen könnte.
Aber diesmal bleibt Anna Irene das Kaufhaus erspart: Pippi Langstrumpf feiert ihre Leinwandpremiere und Frau K. gibt Anna Irene im Kino ab. Sie beauftragt den Platzanweiser, ein Auge auf ihre Tochter zu werfen, und geht.
Viermal insgesamt: »Pippi Langstrumpf«, »Pippi geht an Bord«, »Pippi im Taka-Tuka-Land« und »Pippi außer Rand und Band«.
Pippi Langstrumpf gibt Anna Irene sehr viel Kraft. Sie wird ihr Idol. So, wie Pippi, will sie sich auch alles trauen dürfen, ohne dafür bestraft zu werden. Sie lebt sich für zwei Stunden in die Welt von Pippi und es tut jedesmal weh, wenn sie wieder aus dem Kino gehen muß, ohne sich in sie verwandelt zu haben. Zurück in die Realität – mit Pippi Langstrumpf als Traumwelt im Kopf.
Frau K. fragt: »Und, wie war´s?«
»Schön«, sagt Anna Irene.