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Anna Irene: Der Lauf der Dinge (16)
Onkel Joe macht sich Gedanken darüber, was er dazu beitragen könnte, dass Frau K. zu einem ruhigeren, ausgeglicheneren Menschen würde. Zufällig findet er einen Zeitungsbericht über die Schädlichkeit von Beton-Hochhäusern. So schlägt er eines Tages vor, ein Haus etwas außerhalb der Stadt zu kaufen. »Du könntest dann auch eine Weile zuhause bleiben und dich einmal erholen.«
»Wovon bitte soll ich mich denn erholen? Was denkst du denn von mir, dass du meinst, ich hätte Erholung nötig?«
»Es ist ja nur ein gutgemeinter Vorschlag.«
Ein eigenes Haus mit Garten wäre schön … Aber wenn sie nicht arbeiten geht, ist sie die ganze Zeit daheim … Sie wird ja doch nicht so wie Gerdas Mutter … oder vielleicht doch? … Schön wäre das schon …
»Und wie stellst du dir das vor? Dass ich dann dort angekettet bin und allein nirgends hin kann? Du hast ja dein Auto …«
»Du kannst ja ruhig den Führerschein machen. Wenn du willst, kann ich dir sogar Fahrstunden geben. Und ein kleines gebrauchtes Auto können wir uns auch noch irgendwie leisten.«
»Du. Du kannst es dir leisten. Alles wäre dann deins, das Haus und das Auto. Ich hätte gar nichts mehr, wäre nur mehr dein Putzfetzen. Überall warnen sie die Frauen jetzt vor der Abhängigkeit von den Männern, frag meine Schwester, da werde doch nicht ausgerechnet ich so blöd sein und alles aufgeben, um mich an den Herd fesseln zu lassen!«
»Du hast wirklich einen Vogel, anders gibt es das nicht«, stellt Onkel Joe in sachlich-erschüttertem Ton fest.
»Was hab ich?!«
Anna Irene freut sich, daß Onkel Joe sich endlich einmal die Wahrheit sagen traut. Würde ich das sagen, würde sie mich bestimmt umbringen… Sie kann ein Grinsen nicht zurückhalten, während sie gleichzeitig betet, dass die Situation nicht zu einem Krieg eskaliert. Doch Frau K. hat den Gesichtsausdruck gesehen, nimmt Anna Irene an den Haaren, fragt »Du grinst?!«, läßt plötzlich wieder los, schiebt ihre Tochter in ihr Zimmer und stößt sie auf das Bett. Dann wirft sie ihr einen verächtlichen Blick zu, der besagt, dass sie froh sein kann, dass Onkel Joe anwesend ist … Und das ist sie auch.
Im Türstock stehend schreit Frau K., während ihr Blick nervös zwischen Anna Irene und Onkel Joe hin- und herhüpft: »Ihr wollt mich wohl nervlich fertig machen, ja?! Aber so nicht! Mit mir nicht! Das hier ist immer noch meine Wohnung!« Sie schlägt die Türe zum Kinderzimmer von außen zu, dass der Verputz von der Wand rieselt. »Und wenn dir etwas nicht passt, kannst du gern ausziehen! Wir sind nicht verheiratet, du kannst jederzeit gehen!«
Danach herrscht Totenstille, kein Wort wird gewechselt. Anna Irene kennt keine Beschäftigung, die so lautlos ist, dass nicht die Gefahr besteht, Geräusche aus dem Nebenzimmer damit zu übertönen. Sie möchte hören, ob Onkel Joe »seine Sachen packt« und es gegebenenfalls verhindern. Irgendetwas muss ich ja tun, sonst kommt sie dann wieder und schimpft, weil ich nichts Sinnvolles mache … Selbst das Umblättern in einem Buch oder das Reiben der Buntstifte am Papier könnten das Geräusch der Wohnungstür schlucken. Er darf nicht gehen, er muss hier bleiben … ich brauch ihn doch … Immer wieder schaut sie durch das Schlüsselloch und hat dann Angst, dabei entdeckt zu werden. Schließlich stellt sie sich ans Fenster; sucht nach Menschen in den gegenüberliegenden Wohnungen. Was reden eigentlich Leute miteinander, die nicht immer streiten?
Wenige Tage später studiert Frau K. plötzlich Bilder von Autos auf Kreuzungen. Onkel Joe erklärt geduldig und prüft sie ab. Anna Irene möchte gern zusehen und ebenfalls tippen, welches Auto wann fahren darf. Vielleicht lässt sie mich dann ja doch wieder einmal mit dem Fahrrad fahren, wenn sie sieht, dass ich das alles weiß. Seit dem Unfall darf ich schon nicht mehr, dabei ist mein Schlüsselbein schon seit drei Wochen wieder verheilt… Beim Gedanken an das Fahrrad muss sie aufpassen, dass ihr die Traurigkeit nicht bei den Augen herausquillt.
Soll ich fragen, ob ich darf? Dann sagt sie sicher nein und ich kann es ihr nicht beweisen …
Als Frau K. die falsche Antwort gibt, nennt Anna Irene schnell ihren Vorschlag, bevor Onkel Joe zum Reden kommt. Er lobt sie, von Frau K. erntet sie einen bösen Blick dafür. Nachdem sie es auch ein zweites Mal besser weiß, reißt Frau K. der Geduldsfaden: »Verschwind in deinem Zimmer«, bestimmt sie und während sie ein langgezogenes »duuu …« nachsetzt, sieht Anna Irene in ihren Augen, was sie gerne alles mit ihr machen würde. »Ich will heute nichts mehr von dir sehen oder hören! Du Saubankert!«
Jetzt hat sie schon wieder das Pech, dass Onkel Joe da ist. So kann sie mir nicht weh tun …, freut sich Anna Irene innerlich.
Am Samstag lesen Onkel Joe und Frau K. aufmerksam die Zeitungsbeilage mit den Inseraten. Onkel Joe ruft bei drei in Frage kommenden Häusern an und vereinbart bei zweien einen Besichtigungstermin. Tags darauf fahren sie bereits zur ersten Adresse.
Als Onkel Joe sieht, dass das Haus noch fast ein Rohbau ist, beginnt sein Heimwerkerherz zu pochen und Frau K. sagt: »Du bist nicht einmal fähig, ein Telefongespräch zu führen. Was sollen wir denn mit einem Rohbau?!«
»Fertigbauen – ich kann das doch. Und wenn mir meine Schwäger helfen, dann können wir im Nu einziehen.«
»Das kommt ja überhaupt nicht in Frage! Dass wir die nächsten Jahre dann auf einer Baustelle leben! Nein aber wirklich nicht!«
Die zweite Adresse wirkt erfolgversprechender. Das schaut ja aus, wie in einem Märchen …
Anna Irene bleibt im Garten eines alten, halb mit Efeu bewachsenen Hauses, während die Erwachsenen es von innen besichtigen. Es liegt einsam am Waldrand, … ein richtiges Hexenhaus.
Ein Imker hat seine Bienenstöcke hier aufgestellt und an einem dicken Ast eines Apfelbaumes hängt eine Schaukel. Jede Menge Blumen und Kräuter überwuchern den Boden oder klettern der Sonne entgegen, um ihre Strahlen besser fangen zu können. Schmetterlinge tanzen über den ihnen zu Füßen liegenden Blütenteppich. Ein alter Zwetschkenbaum hält grüne Früchte zum Reifen Richtung Himmel und verspricht eine gute Ernte. Die Musik, eine Komposition aus Zirpen, Summen, Zwitschern und Rauschen, klingt so friedlich, als könnte man hier alles rundherum vergessen. Der Wind in den Blättern verschluckt die Außenwelt. Aber wenn Anna Irene die Tür des Hauses ansieht, aus der die Erwachsenen gerade kommen, weiß sie, dass sie bald nur mehr mit Angst durch sie gehen könnte. Wenn sie beim Nachhausekommen nicht weiß, wie Frau K. gerade aufgelegt ist. Hier hört mich nicht einmal jemand, wenn ich ganz laut um Hilfe schrei …
»Wir werden das gemeinsam besprechen und ich ruf Sie wieder an«, sagt Onkel Joe zu dem Mann um die Fünfzig, der das Haus verkaufen will.
»Das Töchterl hätt´s sicher gut da. Soviel Freiraum hat sie in der Stadt bestimmt nicht. Und die Natur …«, versucht der Mann zu überreden, doch Frau K. schneidet ihm das Wort ab.
»Wir müssen jetzt wieder fahren. Wir melden uns bei Ihnen. Auf Wiedersehen.«
Der Mann verabschiedet sich auch von Anna Irene und während er ihre Hand noch festhält, sagt er: »Na, dir gefällt es da, stimmts?«
Anna Irene schluckt und nickt und würgt die viel ausführlichere Antwort hinunter. Selbst bei einem »Ja« könnte man hören, wie nahe sie den Tränen ist.
Obwohl die Sommerferien wie jedes Jahr zwei Monate dauern, kommen sie Anna Irene heuer zum ersten Mal lang vor. Da Frau K. arbeitslos und fast immer zuhause ist, fühlt sich Anna Irene ständig kontrolliert und ist froh, wenn Onkel Joe nach der Arbeit noch zu seinen Eltern oder sonstwo hinfährt und sie mitentkommen kann.
Über das Haus wird nicht mehr gesprochen. Auch für den Führerschein lernt Frau K. nicht mehr. Alles scheint dahinzugehen, wie eh und je.
Dann muss Frau K. aufs Arbeitsamt und kommt sehr verändert nach Hause: Sie freut sich.
»Ab Oktober werde ich auch in die Schule gehen. Wie Du. Ich hab vom Arbeitsamt einen Kurs bekommen.« Es ist mehr ein Singen als ein Reden.
Heute ist sie aber ganz komisch … Sie tut so, als wäre sie dann ein richtiges Schulkind, das passt überhaupt nicht zu ihr … Aber vielleicht wird sie dann ja weniger schimpfen, wenn sie selber Hausübungen machen muss?