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Anna Irene: Bruchstücke (15)
Nach einem Elternsprechtag eröffnet Frau K. ihrer Tochter mit triumphierender Stimme, als wäre Frau Radler ihre Konkurrentin mit den schlechteren Karten: »Jetzt bekommt ihr sicher bald eine neue Lehrerin.«
Anna Irene erschrickt: »Wieso sollen wir denn eine neue Lehrerin bekommen?«
»Na, hast du noch nicht gesehen, was die für einen dicken Bauch hat? Die bekommt ein eigenes Kind, damit sie sich nicht mehr länger mit euch Fratzen ärgern muß.«
Die Gabel bewegt sich in immer länger werdenden Abständen zu Anna Irenes Mund.
»Was ist, schläfst du ein?«, fragt Frau K.
Anna Irene würgt den Rest des Essens widerwillig hinunter, um ihre Mutter nicht zu provozieren.
Im Unterricht wird der vorgetragene Stoff immer wieder zum Hintergrundgeräusch.
Bekommt sie das Kind wirklich, damit sie nicht mehr bei uns bleiben muss, weil sie sich mit uns so ärgert? Sie mag uns doch, schließlich schimpft sie nicht und schreit auch nicht herum. Und sie hat uns zu sich in den Garten, aus dem man vor lauter Blumen und Blüten gar nicht hinausgesehen hat, eingeladen. Da haben wir dann alle so schön miteinander gespielt… Aber wenn sie uns mag, könnte sie das Kind ja genausogut auch erst dann bekommen, wenn die vierte Klasse vorbei ist. Ich will keine andere Lehrerin … Warum bin nicht ich das Kind in ihrem Bauch?
Als Frau Radler die Kinder wenige Tage später über die Situation aufklärt und fast alle Kinder sich mit ihr freuen, ganz besonders die Mädchen, versteht Anna Irene gar nichts mehr. Tut es denen denn nicht Leid, wenn sie nicht mehr zu uns kommt? Es ist ja schön, wenn sie ein Baby kriegt, aber was ist, wenn dann eine Lehrerin kommt, die so ist, wie meine Mutti?
Sie traut sich nicht zu fragen, wie lange es noch dauern wird, bis Frau Radler zuhause bleibt. Dass die anderen Kinder nicht danach fragen, macht sie unsicher. Müsste ich das schon wissen?
Sie will sich nicht für eine dumme Frage blamieren, stattdessen geht sie ab jetzt jeden Tag mit der Angst in die Schule, es könnte plötzlich alles anders sein.
*
Kurz vor Ende des dritten Schuljahres meldet Frau K. Anna Irene unerwartet vom Hort ab.
»Wie kann man denn Kinder spielen lassen, wenn sie ihre Hausübung noch nicht gemacht haben? Wie sollen die denn jemals Pflichtbewusstsein erlernen?«, regt sie sich auf, obwohl die Pause nach dem Essen, bis die »Lernstunde« beginnt, keine Neuerung ist.
Für die vierte Klasse muss also eine neue Unterbringungsmöglichkeit gefunden werden. Eine, wo die Hausübungen gleich nach dem Mittagessen auf dem Plan stehen.
Anna Irene hält die Ungewissheit vor den zweimonatigen Sommerferien nicht mehr aus. Sie fasst all ihren Mut zusammen und fragt: »Frau Radler, kommen Sie nach den Ferien noch zu uns?«
»Ja, wenn alles normal verläuft, bin ich im September wieder da. Meine Nachfolgerin, Frau Kranewitter, lernt ihr dann auch kennen. Mit ihr werde ich noch zwei Monate gemeinsam unterrichten, bevor ich zuhause bleibe.«
Frau Radler löst auch noch das Problem der Nachmittagsbetreuung, indem sie Gerdas Mutter empfiehlt. Gerda ist eine Klassenkollegin von Anna Irene, deren Mutter Hausfrau ist und sich gern etwas dazuverdienen möchte.
In den Ferien fährt Anna Irene ein paar Mal mit dem Fahrrad zu Gerda, um sie besser kennenzulernen. Die beiden Mädchen waren zuvor nie besondere Freundinnen, weil zwischen den Kindern aus den Hochhäusern und denen aus der Einfamilienhaus-Siedlung irgendwie eine stille Feindschaft in der Luft liegt. Man zählt als Verräter, wenn man mit den jeweils anderen spielt.
Gerda ist ja ganz nett, aber fad … Immer ist sie brav; man kann mit ihr kein Geheimnis haben, wie mit den anderen Kindern, weil sie es ihren Eltern erzählen würde …
*
Wie erhofft, ist Frau Radler mit Schulbeginn wieder da – und Frau Kranewitter. Die neue Lehrerin versucht, die Herzen der Kinder zu gewinnen. Sie spricht freundlich, lächelt und versucht zwischendurch, lustige Dinge zu sagen. Aber Anna Irene betrachtet sie mit Misstrauen. Vielleicht tut sie ja nur so lieb, solange Frau Radler dabei ist … Wer weiß, wie sie dann ist, wenn es niemand mehr sieht?
Am dritten Schultag geht sie erstmals nach Unterrichtsschluss zu Gerda nach Hause. Die beiden Mädchen legen dabei ein Stück des Weges gemeinsam mit den Hortkindern zurück, die sich wundern, als Anna Irene sich von ihnen verabschiedet.
»Was ist, kommst du nicht mit uns?«
»Nein, meine Mutti will das nicht mehr. Ich geh ab jetzt zu Gerda.«
»Deine Mutter ist wirklich komisch …«, sagt ein Bub, der Rest der Gruppe schaut verwundert. Dann drängt Gerda: »Komm, meine Mutti wartet mit dem Essen auf uns!«
Wenn Gerda mit Anna Irene zu Mittag nach Hause kommet, ist der Tisch bereits gedeckt, die Mutter steht mit umgebundener Schürze am Herd und hat das Essen gerade fertig. Anna Irene fühlt sich seltsam wohl, während sie mit Gerda beim Küchentisch sitzt und sich auf das Essen freut. Es liegt nicht diese Spannung in der Luft, die sie zuhause immer spürt. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Niemand ist da, bei dem sie sich vor körperlichen Übergriffen fürchten müsste, wenn sie nur an ihm vorbeigeht. Sie malt sich aus, wie es wäre, ganz zu dieser Familie zu gehören.
Heute gibt es selbstgemachte Zwetschkenknödel – mit frisch gepflückten Zwetschken aus dem Garten, der das Haus umgibt.
Als die beiden Mädchen sattgegessen sind, beginnen sie sogleich mit ihren Hausaufgaben, damit sie bald fertig sind und nach draußen gehen können. Dann klettern sie auf die Obstbäume, naschen, spielen oder gehen spazieren. Manchmal kommen auch andere Kinder aus der Klasse in Gerdas Garten. Uwe wohnt gleich vorne am Eck, sein Haus ist noch Baustelle, und Daniela, die »beste Freundin« von Gerda, noch ein Stück weiter. Zu viert haben sie besonders viel Spaß.
Gerdas Mutter ist die Ruhe selbst. Erst seit Frau K. sich einmal bei ihr beschwert hat, weil Anna Irene noch fertigspielen wollte und dadurch nicht pünktlich zu Hause war, wird sie gegen halb fünf ein bisschen unruhig und drängt Anna Irene, sich bald zu verabschieden.
Am Nachhauseweg malt Anna Irene sich aus, wie es wäre, an Gerdas Stelle zu sein. Besser jedoch gefällt ihr die Vorstellung, ihre Mutter könnte plötzlich so sein, wie Gerdas Mutter. Aber je näher Anna Irene ihrem Zuhause kommt, desto mehr bohrt sich die Angst, was heute wieder auf sie zukommen mag, in diesen Traum und bringt ihn zum Platzen. Die Angst, was sie heute wieder falsch machen könnte und wofür sie die tagsüber angesammelte schlechte Laune von Frau K. zu spüren bekommen wird.
»Und – wie gefällt es dir denn dort?«, fragt Frau K. aus heiterem Himmel und deutet in die Richtung, in der Gerdas Haus liegt. Anna Irene erkennt bereits am Tonfall, dass ein Gewitter folgen wird. Es ist nur ein künstlicher Grund, das Schimpfen zu rechtfertigen.
Anna Irene überlegt, welche Antwort ihre Mutter nicht aufregen würde. Wenn ich sage, dass es mir dort gefällt, wird sie schimpfen, weil sie eifersüchtig ist; sage ich, dass es mir nicht gefällt, lässt sie mich vielleicht nicht mehr hingehen …
»Gut …«, sagt sie mit schwacher, ängstlicher Stimme.
»A´so?« Frau K. starrt ihre Tochter fordernd an.
Anna Irene kann mit dieser Frage jedoch nichts anfangen und fragt zaghaft zurück: »Was, a´so?«
»Ist es dort vielleicht besser als hier?«
»Wieso …«
»Vielleicht willst du ja ganz dort hinziehen?« Frau K. mustert Anna Irenes Gesicht, in dem sie offenbar die Antwort liest, und steigert sich weiter hinein: »Bei fremden Leuten gefällt es dir also besser als zuhause, ja? – Na wart nur, du Saubankert! Ist das der Dank dafür, dass ich mich für dich aufopfere und den ganzen Tag schufte, um dir das alles bieten zu können?!«
Anna Irene sagt nichts mehr. Wenn ich bloß wüsste, was ich falsch mache …
Sie lässt das über sich ergehen, was sich durch nichts vermeiden lässt, und in einer halben Stunde, wenn Onkel Joe die Türe aufsperrt, schon wieder vorbei sein wird. Sie weiß, sie wird es auch diesmal überleben. Sie hat ja einen Schutzengel, der auf sie aufpasst.
Beim Essen serviert Frau K. noch einmal ihre Eifersucht, da Anna Irene bisher nur wenig gegessen hat: »Ist dir das jetzt auch zu minder, schmeckts dir dort besser, ja?«
»Nein, es schmeckt mir eh gut. Ich bin nur schon voll.«
»Du kannst doch noch nicht satt sein. Da fehlt ja noch gar nichts. Du hast das alles nur zusammengeschoben. – Das wird gegessen!«, bestimmt Frau K., nimmt die beiden leergegessenen Teller und geht damit in die Küche. Onkel Joe bleibt bei Anna Irene sitzen, die froh ist, ihn neben sich zu haben, obwohl er nichts gegen Frau K.s Anordnungen sagt. Nur leise redet er Anna Irene zu: »Komm, iss auf, damit sich die Mutti nicht aufregt. Ich helf dir ein bisschen.« Danach nimmt er ein Stück Fleisch von Anna Irenes Teller, die seinen Rat befolgt und Bissen für Bissen häuslichen Frieden herbeizuessen versucht.
*
Die ersten beiden Monate des neuen Schuljahres sind im Nu vorüber. So ist auch der Tag, an dem Frau Radler sich von den Kindern verabschiedet, für Anna Irene viel zu schnell gekommen. Sie beginnt zu weinen, als sich die Lehrerin über all die Geschenke freut, die sie für sich und das Baby bekommen hat. Mit dem Ärmel wischt Anna Irene sich unauffällig die Tränen weg. Frau Radler ist gar nicht traurig darüber, dass sie uns verlassen muss …
*
Ein sonniger Novembernachmittag lässt Gerda und Anna Irene nach der Hausübung in den Wasserwald spazieren. Sie balancieren über den dicken Baumstamm und machen einige Übungen des Fitness-Parcours. Als sie am Weg zurück sind, ruft Anna Irene plötzlich: »Schau!« Sie will sich bücken, doch Gerda schnappt sich rasch den Zwanzig-Schilling-Schein, der mitten am Weg liegt. Damit ist Anna Irene sofort klar, dass sie sich geirrt hat, als sie Gerda und sich als ein »Wir« sah.
»Ich hab ihn!«, jubelt Gerda und steckt den Geldschein theatralisch in ihre Rocktasche.
»Aber ich hab ihn zuerst gesehen«, wehrt sich Anna Irene. »Wir können ihn doch teilen. Zehn Schilling für jeden.«
»Ich hab ihn aufgehoben, deshalb gehört er mir! Ich hab ihn und ich will nicht teilen.«
»Warum willst du nicht teilen? So könnten wir uns doch beide freuen! Ich würde schon mit dir teilen, wenn ich ihn hätte.«
»Nein, das will ich nicht. Außerdem bist du bei uns nur Gast, und deshalb gehören die zwanzig Schilling mir.«
Darauf weiß Anna Irene kein Argument. Viel mehr ist ihr nach Heulen, das sie erfolgreich unterdrückt, während die beiden mit einem Meter Abstand voneinander schweigend zum Haus zurückgehen.
»Na, was ist denn mit euch los?«, fragt Gerdas Mutter, die die Verstimmung sofort erkennt.
»Ich hab zwanzig Schilling gefunden und Anna Irene will unbedingt die Hälfte haben!«
»Ich hab sie zuerst gesehen und es gesagt.«
»Also, wer hat den Schein jetzt? Dem gehört er auch«, entscheidet Gerdas Mutter.
»Gerda hat ihn …«
»Dann darf sie ihn behalten«, meint Gerdas Mutter. »Wenn man etwas findet, muss man es nehmen. Es nur zu sagen, hilft nichts. Das musst du halt noch lernen. Und warum willst du unbedingt wegen zwanzig Schilling streiten?«
Dabei wollte ich doch gar nicht streiten, sondern teilen …, traut Anna Irene sich nicht zu sagen.
Am nächsten Tag in der Schule lässt sich Gerda nichts anmerken und Anna Irene ist froh, dass sie die Sache nicht mehr aufwärmt. Sie hofft, dass alles wieder wird, wie es zuvor war.
Zu Mittag setzt sich Gerdas Mutter mit an den Tisch und sagt zu Anna Irene: »Eigentlich dürftest du ab heute nicht mehr hier sein. – Mein Mann hat sich gestern über die Sache mit den zwanzig Schilling so aufgeregt, dass er gesagt hat, er will nicht, dass du weiterhin zu uns kommst, weil seine Tochter nicht mit so egoistischen Kindern zusammen sein soll. Wir wollen ja nicht, dass Gerda soetwas von dir lernt, dafür, dass du zu uns kommen darfst.«
Anna Irene sieht die Reaktion ihrer Mutter vor sich, wenn sie ihr das erzählen müsste. Sie spürt sich vor Angst kaum mehr, da spricht Gerdas Mutter weiter: »Aber weil ich dir das nicht antun will, kannst du trotzdem kommen. Du musst halt immer pünktlich weggehen, er kommt ja ohnehin nie vor fünf nach Hause.«
Anna Irene fällt ein Stein vom Herzen.
Nun hat sie doch ein Geheimnis mit Gerda – sogar ein richtiges. Die beiden gewöhnen sich auch rasch daran, dass Gerda immer, bevor Anna Irene zur Gartentür hinausgeht, nachschaut, ob ihr Vater auch bestimmt noch nicht die Straße entlanggefahren kommt.
Nur, als Frau K. am 24. Dezember nach dem Mittagessen meint, sie wolle Gerdas Mutter ein Geschenk vorbeibringen, bekommt Anna Irene Angst. Jetzt ist Gerdas Papa sicher zuhause, und wenn er die Tür aufmacht, werden er und Mutti alles erfahren. Hätt ich bloß damals wegen den zwanzig Schilling nichts gesagt – wieso haben die auch unbedingt daliegen müssen … Jetzt werden wir sicher nicht Weihnachten feiern … Warum ist es noch nicht morgen, dann wär schon wieder alles vorbei … Ich möchte die Zeit bis morgen ausschneiden können …
Immer wieder sieht Anna Irene aus dem Fenster, um schon frühzeitig zu wissen, wann ihre Mutter kommt. Vielleicht würde sie ja daran, wie sie geht, gleich erkennen, ob sie verärgert ist.
Je länger es dauert, um so wahrscheinlicher ist es, dass sie alles erfahren hat … Hoffentlich ist sie bald da.
Vor lauter Angst muss Anna Irene aufs Klo. So hört sie nur, wie ihre Mutter aufsperrt und sich Schuhe und Mantel auszieht. Bevor Anna Irene die Klotür öffnet, sammelt sie etwas Kraft und geht dann vorsichtig hinaus. Frau K. wirft einen Blick auf sie und fragt:
»Du sag einmal, was ist denn mit der Frau los, warum benimmt sich denn die so komisch?«
Wenn ich jetzt bloß wüsste, wovon sie spricht …
»Warum meint sie, dass es nicht nötig sei, dass wir ihr etwas schenken? Sie wollte es schon fast nicht nehmen und tat so, als wäre es ihr peinlich, wenn sie es nimmt. Was denkt sich denn die von uns? Glaubt sie, wir würden am Hungertuch nagen? Was erzählst du denn von uns? Und die ausgewaschene Jean ziehst du ab jetzt nicht mehr an. Wenn du mit sowas auf die Straße gehst, ist es ja kein Wunder, dass man so von uns denkt.«
Anna Irene hat noch nie innerlich so erleichtert gelacht. Sie muss aufpassen, dass sie nicht wirklich grinst. Und sie ist sich sicher: Das war mein Schutzengel. Ganz bestimmt gibt es ihn und er ist immer da.
*
Zu lernen fällt Anna Irene immer schwerer. Die Ereignisse der letzten Zeit belasten sie, auch wenn ihr das nicht so bewusst ist. Sich die Flüsse, Berge und Seen Oberösterreichs zu merken schafft sie kaum, auch die Eigenheiten einiger Tiere haben in ihrem Kopf keinen Platz. Als Folge bekommt sie im Halbjahreszeugnis einen Dreier in Sachunterricht.
»So kannst du Straßenkehrer werden, aber nicht ins Gymnasium gehen!«, erzürnt sich Frau K., obwohl sie es bereits seit dem Elternsprechtag gewusst und auch das Schimpfen bereits damals erledigt hat.
»Ich kann ihn mir ja bis zum Jahreszeugnis aus-« Anna Irene duckt sich, weil Frau K. nach ihren Haaren greift. Weiter als einen Schritt zurück kommt sie aber nicht, dann erwischt ihre Mutter sie doch und schreit:
»Was willst du ihn dir?«
»Ausbessern…«, gibt Anna Irene zaghaft zur Antwort.
Frau K.s Blick wird immer böser und ihr Griff in den Haaren fester. »Ausbessern willst du ihn dir? Sag das nocheinmal, du …«
»Ich will ihn mir ausbessern.« Tränen röten Anna Irenes Augen und tropfen vom Kinn. »Bitte, Mutti, lass los. Tu mir bitte nicht so weh. Ich werd auch ab jetzt immer ganz brav lernen.«
»Das hast du mir schon zu oft versprochen, und wer einmal lügt, dem glaubt man nicht! Außerdem würde dir das auch gar nichts nützen, weil man mit dem Halbjahreszeugnis anmelden gehen muss!« Sie läßt Anna Irene noch immer nicht aus, zieht sie aber von der gebückten Haltung wieder nach oben und schaut ihr ins Gesicht. »Und heulen brauchst du überhaupt nicht! Zum Heulen hab nur ich etwas, weil ich so eine Tochter habe!« Mit diesen Worten stößt sie Anna Irene gegen den Türstock des Kinderzimmers. »Für heute hab ich genug von dir! Verschwind in deinem Zimmer, ich will dich nicht mehr sehen!« Anna Irene versucht aufzustehen, da schiebt Frau K. sie noch ein Stück ins Zimmer und schmeißt die Türe mit lautem Knall zu.
Knapp drei Wochen später behauptet Frau K.: »Weißt du eigentlich, wie ich mich heute für dich genieren musste?«
Anna Irene weiß es nicht und schaut gespannt, während sie die Fluchtmöglichkeiten überprüft.
»Was ich denn überhaupt hier wolle, hat mich der Direktor des Gymnasiums angeschrien, wo du doch einen Dreier in deinem Zeugnis hast. Und dass er nicht verstehen kann, wie ich mich überhaupt hierher trauen kann, mit so einem Zeugnis! Ich musste mich für dich blöd anschauen lassen!«
Die »Rechnung« kennt Anna Irene auswendig und nimmt sie wie gewohnt hin. Mein Schutzengel ist bestimmt da.
*
Zu Frühlingsbeginn kommt Gerdas Vater eines Tages früher von der Arbeit nach Hause. Die Mutter sieht ihn vom Fenster aus in die Garage fahren, die Kinder sind gerade im Haus. Schnell teilt sie den beiden ihren Plan mit und drückt Anna Irene ihre Schuhe, Jacke und Schultasche in die Hand. Die Mädchen sollen in Gerdas Zimmer warten, bis der Vater in der Küche ist. Dann geht Gerda ihren Papa begrüßen und bekommt, sobald er sitzt, von ihrer Mutter den Mistkübel, um ihn auszuleeren. Anna Irene schleicht mit ihr aus dem Haus, um die Garage herum und Gerda schließt die Gartentür hinter ihr.
Anna Irene macht einen kleinen Umweg, um nicht an dem Fenster vorbeizugehen, hinter dem der Vater sitzt.
Auch am Wochenende holt Anna Irene jetzt oft, gemeinsam mit ihrer Freundin Lisi, Gerda ab. Zu dritt fahren sie noch weiter zu Daniela. Dabei überqueren sie die Kreuzung, an der Uwe wohnt, bleiben kurz stehen und freuen sich beim Anblick des Kinderfreibades auf den Sommer. Nach der Kreuzung, wo nur mehr ein Fußgängerweg ist, treten sie fester in die Pedale und radeln mit Schwung durch die Unterführung kurz vor Danielas Haus durch.
»Schade, dass der Weg davor so kurz ist«, bemerkt Anna Irene.
Lisi schaut verdutzt und fragt: »Warum ist dir der Weg zu kurz?«
»Naja, wenn er länger wäre, käme man mit viel mehr Schwung durch und müsste am anderen Ende nicht treten, wenn es wieder bergauf geht.«
»Stimmt«, stellt Lisi fest, nachdem sie sich die Strecke noch einmal angesehen hat, und lächelt. Dann holen sie Daniela ab, fahren gemeinsam wieder zur Unterführung zurück und messen, wer mit seinem Schwung am weitesten kommt. Anna Irene empfindet das schnelle Fahren befreiend wie fast nichts sonst. Nur der bunte Spiraltunnel, den sie während der Äther-Narkose bei ihrer Mandeloperation gesehen hat, war noch schöner. Stundenlang könnte sie hier durch die Unterführung rasen. Die anderen wollen schon weiter, aber Anna Irene radelt noch dreimal durch, bevor sie davon lassen kann.
Hier muss ich einmal alleine herkommen.
Für die Kinder aus den Hochhäusern ist es wie ein Fremdgehen, wenn Anna Irene mit ihrem Fahrrad über die imaginäre Grenze, an der Schule vorbei, in die Einfamilienhaus-Siedlung fährt. Einer sagt sogar: »Du gehörst nicht mehr zu uns«, und lässt sie nicht auf die Piratenschaukel aufsteigen. Aber andere halten zu ihr und sie darf schließlich doch mitschaukeln. Was bleibt, ist das Gefühl, nur gnadenhalber mitspielen zu dürfen, ein Schämen dafür, nur geduldet zu sein. Schlechtes Gewissen, weil sie Freunde »auf der anderen Seite« hat.
*
Eines Tages ist nur Onkel Joe da, als Anna Irene nach Hause kommt. Sie wundert sich: »Ist heute irgendwas Besonderes, hast du früher von der Arbeit aus gehabt?«
»Die Mutti ist im Krankenhaus.«
»Ist ihr was passiert?«, fragt Anna Irene erschrocken.
»Nein, sie muss sich nur ein bisschen erholen.«
Anna Irene kommt das zwar seltsam vor, doch sie versucht, die Situation zu akzeptieren. »Besuchen wir sie?«
»Du kannst sie vorläufig nicht besuchen, aber ich fahre morgen zu ihr.«
»Wieso kann ich sie nicht besuchen?«
»Dort dürfen keine Kinder rein. – Aber du kannst ja was zeichnen, das nehm ich ihr mit, dann wird sie bestimmt schneller wieder gesund.«
Als sie auf dem Weg zu seiner Mutter sind, wo die beiden essen wollen, zeigt Onkel Joe auf ein Hochhaus. »Das ist das Wagner-Jauregg-Krankenhaus, in dem liegt deine Mutti.«
»Aha…«, wundert sich Anna Irene, da sie schon so oft hier vorbeigefahren sind, und noch nie hat sie bemerkt, dass das ein Krankenhaus ist.
»Es ist aber besser, wenn du niemandem erzählst, dass sie da drin liegt.«
»Warum darf ich niemandem erzählen, dass sie im Krankenhaus ist?«
Onkel Joe läßt sich mit der Antwort etwas Zeit, Anna Irene glaubt schon, er habe ihre Frage nicht gehört. Doch gerade, bevor sie ihre Worte wiederholen will, sagt er: »Weil das kein normales Krankenhaus ist, sondern die Nervenheilanstalt. Wenn du das irgendwo erzählst, wollen sie vielleicht mit dir nichts mehr zu tun haben. Behalt es besser für dich, ja?«
»Ja … Aber was ist eine Nervenheilanstalt?«
»Da kommt man hin, wenn man nervenkrank ist.«
Anna Irene fallen Szenen ein, wo ihre Mutter gesagt hat, dass ihre Nerven kaputt würden, weil sie sich mit ihr so viel ärgern muss. Sie kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie das ist, nervenkrank zu sein, ob das weh tut, was mit einem gemacht wird, und bekommt Angst um ihre Mutter.
Wäre ich doch bloß braver gewesen. Warum konnte ich nicht öfter so sein, wie sie es wollte? Dann wäre sie jetzt vielleicht nicht da drin …
»Und warum will dann niemand mehr was mit mir zu tun haben?«
»Weil die Leute sich dann vor Problemen mit dir fürchten. Sprich einfach nicht darüber, ja?«
Den Frieden zuhause, während sie mit Onkel Joe alleine ist, bemerkt Anna Irene gar nicht. Dabei könnte sie froh darüber sein, dass niemand da ist, der herumkommandiert oder -schreit, jedes Tun überwacht und dass sie vor nichts Angst zu haben bräuchte.
Onkel Joe spricht nicht über Frau K. und darüber, was eigentlich mit ihr los ist. Zumindest nicht vor Anna Irene, die auch ihre Fragen immer nur im Geist formuliert. Das lässt ihrer Phantasie freien Lauf und schürt dabei die Angst.
Sie weiß auch gar nicht, wie lange Zeit vergangen ist, ob es zwei Wochen sind oder vier, als Onkel Joe eines Tages sagt: »Morgen kannst du mit ins Krankenhaus fahren, der Arzt hat es erlaubt. Dann kommt die Mutti wahrscheinlich schneller wieder heraus, wenn die dort sehen, dass du auf sie wartest.«
Onkel Joe war es während der ganzen Zeit egal, welches Gewand Anna Irene an hatte, wenn sie in die Schule ging. Aber heute sucht er mit ihr gemeinsam aus, was sie anziehen soll. Sie sind sich einig, dass Frau K. sich freuen würde, wenn sie Anna Irene im blauen gestrickten Kleid sehen könnte.
Wahrscheinlich hätte ich es überhaupt öfter ertragen sollen, auch wenn das Kleid mich juckt. Sie hätte sich bestimmt gefreut, wenn ich es öfter angehabt hätte. Sie hat sich doch so viel Arbeit damit gemacht … Vielleicht wären dann ihre Nerven nicht kaputt geworden …
Im Krankenhaus wird Anna Irene gleich beim Eingang von einem seltsamen Mann angesprochen, dessen Worte sie nicht versteht. »Komm, lass dich von niemandem hier anreden, die sind ein bisserl …«, sagt Onkel Joe und macht eine Bewegung mit der Hand an seiner Stirn vorbei. Noch ein paar solcher offenbar geistig abwesender Menschen sitzen entlang des Ganges, an dessen Ende die beiden in den Aufzug steigen. Anna Irene wird mulmig zumute. Ist meine Mutti jetzt auch so beisammen?
Frau K. will nicht, dass Anna Irene ins Zimmer kommt, und so verbringen sie die Zeit an einem Tisch im Aufenthaltsraum.
»Wieso hast du denn das Kleid an?«, fragt sie vorwurfsvoll, während Anna Irene sich niedersetzt. »Das ist dir doch schon viel zu klein!« Onkel Joe nimmt die Schuld auf sich und holt ein Spiel. – Sie spielen »Mensch-ärgere-Dich-nicht«.
Ein Arzt kommt scheinbar zufällig vorbei und fragt Frau K., wie es ihr denn gehe. Danach wendet er sich mit derselben Frage an Anna Irene.
»Gut!«, antwortet sie, wie immer, wenn ihr diese Frage gestellt wird, mit einem Lächeln. Dann fällt ihr ein, was Onkel Joe gesagt hat, und sie setzt nach: »Nur die Mutti fehlt mir halt …«
*
Onkel Joe und Anna Irene räumen auf und putzen die Wohnung, bevor Frau K. wieder kommt. Sie soll sich über nichts ärgern müssen. Er kauft ein und bereitet sogar etwas zu essen vor.
»Und? Wo kann ich mich denn in nächster Zeit nicht mehr blicken lassen?«, ist eine ihrer ersten Fragen, als sie zuhause ist.
Anna Irene schaut sie entgeistert an und fragt zurück: »Wieso sollst du dich wo nicht mehr blicken lassen können?«
»Naja, wo hast du denn deinen Mund nicht halten können?«
»Ich hab niemandem was erzählt.«
»Und das soll ich dir glauben? Wahrscheinlich wissen es eh alle rundherum.«
»Nein, wirklich nicht.«
»Naja, die Schule dauert ja nicht mehr lang und zu der komischen Gerda brauchst du jetzt auch nicht mehr gehen.«
Anna Irene vermeidet es, darauf etwas zu sagen. Sie spürt, wie sehr an der Grenze ihre Mutter bereits wieder ist.
Frau K. hat nun keine Arbeit mehr und Anna Irene muss gleich von der Schule nach Hause gehen. Es tut ihr Leid um die Nachmittage bei Gerda.
Während Anna Irene sich immer mehr kontrolliert und eingezwängt fühlt, meint es Onkel Joe gut und bietet Frau K. an, ganz zuhause zu bleiben. »Ich verdiene doch mehr als genug. Wir können es uns leisten.«
»Na, soweit kommt´s noch, dass ich von dir abhängig werde. Ich will dein Geld nicht, wir sind nicht verheiratet. Ich brauche das nicht. Ich kann selbst für mich und Anna Irene sorgen.«
»Aber es wäre doch vernünftiger. Du könntest dich mehr um Anna Irene kümmern und wärst ausgeglichener.«
»Was soll denn das heißen! Warum sollte ich ausgeglichener werden? Was passt dir denn nicht?«
»Entschuldige! Ich dachte nur, es würde dir gut tun, wenn du dich einmal ein bisschen erholen könntest! Aber wenn du nicht willst, dann lassen wir das eben.«
»Ich bin erholt, und du kannst dir sicher sein, dass ich mir wieder eine Stelle suchen werde!«
Anna Irene verfolgt das Gespräch, malt sich aus, wie es wohl sein könnte, wenn ihre Mutter mehr Ruhe hätte. Aber sie ist schließlich doch ganz froh, dass sie wieder arbeiten gehen will.
Frau Radler kommt mit ihrem Baby in die Klasse zu Besuch. Alle freuen sich und bewundern das Kleine, auch Anna Irene. Und sie bemerkt dabei, wie sehr sie sich bereits an die neue Lehrerin gewöhnt hat.
»Wie gehts dir denn?«, fragt Frau Radler, als Anna Irene vor ihr steht.
Anna Irene denkt gar nicht daran, dass damit ihre persönliche Situation gemeint sein könnte. Für sie ist klar, dass eine Lehrerin nur nach schulischen Leistungen fragt. »Eh gut, nur in Sachunterricht bekomm ich wieder einen Dreier.«
»In dem Fach ist das nicht so tragisch, Sachunterricht ist schließlich kein Hauptgegenstand.«
Anna Irene ist verunsichert. Sie ahnt, was die Lehrerin damit sagen will, kann es aber nicht glauben. »Meine Mutti sagt, damit kann ich nicht ins Gymnasium gehen.«
»Aber dafür sind doch die Hauptgegenstände entscheidend.« Frau Radler schaut ungläubig.
Anna Irene zuckt mit den Schultern und sagt, wie für sich selbst zum Trost: »Es gehen ja eh meine Freunde auch in die Hauptschule.«
»Vielleicht kannst du ja nach der Hauptschule in eine höhere Schule wechseln. Begabt bist du auf jeden Fall.« Sie schenkt Anna Irene ein Mut machendes Lächeln. »Ich wünsch Dir jedenfalls viel Glück.«
»Danke.«
Seit Frau K. zuhause ist, schafft es Anna Irene kaum mehr, etwas zu lernen. Selbst, wenn sie nur ein Gedicht auswendig lernen soll, braucht sie dafür Stunden. Mit Gerda gemeinsam war es überhaupt kein Problem.
Aber es vergeht keine Viertelstunde, in der Frau K. nichts auszusetzen hat oder Anna Irene pessimistische Lebenswege vorzeichnet – von »Aus dir wird nichts besseres als eine Fabrikarbeiterin« bis hin zu »In der Gosse wirst du landen, da, wo du hingehörst« gibt es ein breites Repertoire – und alle klingen zum Fürchten.
So sehr sich Anna Irene bemüht, in den ruhigen Minuten Teile des Lernstoffes zu behalten, es funktioniert nicht.
Sie kommt auch während der Woche kaum mehr dazu, sich mit ihren Freunden zu treffen, denn dafür müsste sie alles können, wenn ihre Mutter sie prüft.
Wenn Onkel Joe Zeit hat, hilft er Anna Irene abends noch, wenigstens das Nötigste im Kopf zu behalten.
Mit dem Näherrücken des Zeugnistages breitet sich tagelang Angst in Anna Irene aus. Sie befürchtet ein schlimmeres Theater als beim letzten Mal. Hoffentlich ist mein Schutzengel wieder da…
Aber als es dann soweit ist, bleibt ihr das Schlimmste erspart. Frau K. begnügt sich damit, herumzuschreien, Anna Irene einmal zu schrecken, indem sie zwar nach ihren Haaren, aber dann doch nicht zugreift, und damit, ihr Hausarrest zu geben. »Ich will dich für den Rest des Tages nicht mehr sehen! Verschwind in deinem Zimmer! Und außer, wenn du aufs Klo musst, hast du nicht herauszukommen! Traurig, dass ich so ein Kind habe.«
Anna Irene ist froh, endlich für längere Zeit in Ruhe gelassen zu werden. Anders als sonst üblich, kommt Frau K. nicht ununterbrochen herein.
Sie denkt noch einmal an all die Erlebnisse des vergangenen Schuljahres und ist froh, das alles hinter sich zu haben. Aber warum muss ausgerechnet ich das alles erleben? Wieso ist bei uns nicht alles ganz normal, wie in anderen Familien? Und warum kann ich jetzt nicht im Schwimmbad sein, wie wahrscheinlich alle anderen Kinder? Da würde mich Mutti doch auch nicht sehen, nicht einmal, wenn ich aufs Klo gehe…
»Darf ich weggehen?«, fragt Anna Irene am nächsten Tag.
»Wo willst du hin?«
»Ich hol Gerda ab und geh mit ihr ins Bad.«
»Aber um sechs bist du wieder da.«
»Ist gut, gibst du mir bitte das Fahrrad aus dem Keller?«
»Ich denke, du willst gehen?«
»Nein, ich will mit dem Fahrrad fahren.«
»Gerade hast du gesagt, ihr geht dann ins Bad. Willst du das Fahrrad neben dir herschieben?«
»Nein, ich meinte natürlich fahren. Gibst du es mir bitte?«
»Du bist lästig. Na gut. Hast du schon alles zusammengepackt?«
»Ja, gleich.«
Anna Irene fährt, ohne bei ihrer Freundin Lisi anzuläuten, zu Gerda. Während der Fahrt kommt ihr immer wieder die Unterführung in den Sinn, die sie bei schneller Durchfahrt immer so befreiend empfindet.
Genau das brauch ich jetzt … Nur einmal dieses angenehme Gefühl spüren, wie das ist, wenn man richtig schnell durchfährt …
Gerda ist gerade im Garten und Anna Irene fragt gleich über den Zaun: »Willst du mit ins Bad kommen?«
»Ja! Ich pack nur schnell meine Badesachen ein!«
»Bis du fertig bist, fahr ich schnell zu Daniela und frage sie, ob sie auch mitkommt.« Die Anziehungskraft der Unterführung ist so groß, dass Anna Irene keine Zeit mehr hat, die Antwort von Gerda abzuwarten. Sie tritt in die Pedale, denkt noch kurz, ob sie nicht doch bei der Kreuzung bremsen soll, verwirft den Gedanken aber schnell wieder. Mein Schutzengel ist sicher da und passt auf mich auf. Augen zu und durch. Sie braucht dieses befreiende Gefühl, nachdem sie sich so lange Zeit eingesperrt gefühlt hat und spürt, dass sie von niemandem richtig gemocht wird. Sie verdrängt die Gefahr, die ihr bewusst ist, mit der Sehnsucht nach etwas Angenehmem. Anna Irene freut sich gerade, dass sie schon so viel Tempo hat …
Als sie wieder zu sich kommt, lehnt sie an der Sockelmauer, die für den Gartenzaun um Uwes Haus errichtet wurde. Auf der Kreuzung steht ein Auto mit Delle in der Fahrertüre, ihr Fahrrad liegt daneben. Die Kinder aus dem Freibad stehen im Halbkreis links davon, Rettung und Polizei sind ebenfalls da.
– Und Frau K., die gerade eiligen Schrittes die Straße entlangkommt und sich nach kurzer Verständigung mit einem Polizisten zu Anna Irene hockt.
»Hab ich einen Unfall gehabt?« Anna Irenes Erinnerung ist ausgeschaltet. Sie weiß nur mehr, dass sie bei Gerda war und Daniela abholen wollte.
»Das fragst du noch? Du musst ja völlig ohne zu schauen auf die Kreuzung gefahren sein!«
»Nein, ich bin bestimmt stehen geblieben. Ich bleib doch immer stehen und schau, ob was kommt. Warum bist du eigentlich schon da?«
»Weil Uwe mich geholt hat, nachdem er dich erkannt hat.«
Ein Rettungsarzt leuchtet Anna Irene in die Augen. »Dein Kopf hält ja ganz schön was aus. Schau dir die Delle an, die du in das Auto gemacht hast.«
»Ich hab die mit meinem Kopf gemacht?«
»Ja. Du bist über die Lenkstange gesegelt und mit dem Kopf in die Tür gekracht. Dabei hast du mordsmäßiges Glück gehabt, du hättest auch unter dem Auto liegen können. Dann würdest du jetzt wahrscheinlich nicht mehr leben.«
Ich hab ja einen ganz braven Schutzengel…
»Tut dir irgendwas weh?«
Anna Irene spürt nirgends Schmerzen und sagt »Nein«. Erst, als sie kurz danach die Schultern hebt, bemerkt sie ihr gebrochenes Schlüsselbein.
Vor der Polizei gibt sie an: »Ich hab alles so gemacht, wie wir es gelernt haben. Ich hab den Fuß hinuntergestellt und nach links und rechts geschaut, aber da war kein Auto. Wahrscheinlich hat das Losfahren so lang gedauert, daß das Auto in der Zwischenzeit gekommen ist.«
»Und wie erklärst du dir dann dein Tempo?«
Anna Irene hat keine Antwort. Ihre Erinnerung zeigt ihr nur Bilder, in denen sie den Fuß vom Pedal nimmt und auf den Boden stellt. Sie hat keine Erklärung dafür.
Einen Monat später fragt Anna Irene Onkel Joe: »Kannst du mir bitte mein Fahrrad reparieren?«
Frau K. hört dies und meint: »Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Du steigst auf kein Fahrrad mehr auf, solange ich für dich verantwortlich bin! Was glaubst denn du eigentlich!«