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Anna Irene – pendelzugundstichzersägt (19)
Anna Irene und Frau K. kommen an eine große Kreuzung, die Fußgängerampel zeigt Rot. Anna Irene hebt ihren Blick vom Boden und richtet ihn auf die Menschenansammlung gegenüber. Die Liiieeesiii!!! Innerlich macht sie einen Freudensprung, den sie sich aber nicht anmerken lässt, als sie gleich darauf »Liesi!« ruft. Die vorbeifahrenden Autos schlucken ihre Stimme. Wieso ist sie denn hier in Wien? Liesis Mutter redet und Liesi schaut dabei auf deren Hände. Es wird Grün, die Menschenmengen strömen aufeinander zu. Anna Irene lässt Liesi nicht aus den Augen. »Hallo Liesi!«, sagt sie in der Mitte der Straße. Liesi schaut, ruft erstaunt: »Anna Irene!« Sie gehen aneinander vorbei und drehen ihre Köpfe mit; wollen schon die Richtung wechseln, werden aber von den Müttern, die sich mit einem befremdlichen Kopfnicken grüßen, an der Hand weitergezogen.
»Aber ich will doch nur kurz mit ihr re…«
»Was willst du denn noch von der? Willst du ihr jetzt vielleicht nachlaufen? Das kommt doch überhaupt nicht in Frage, ich versäume doch nicht meinen Termin wegen der.«
Den Rest des Tages erlebt Anna Irene nur mehr peripher mit, während ihre Gefühle im Schmerz ertrinken und ihre Gedanken um Liesi Karussell fahren. Vielleicht ist sie auch nach Wien übersiedelt? Aber wie soll ich sie finden, in der großen Stadt? Ich kenn mich hier doch auch noch gar nicht aus …
Fast ein Jahr hat sie immer wieder neu die Tage gezählt, mal bis vierzehn, mal bis einundzwanzig, von einem Besuch in Linz zum nächsten. Dann war sie wieder froh, wenn sie sich mit Liesi im neuen Hallenbad treffen konnte, mit ihr und anderen Kindern im Wasser Fangen spielen oder mit Schwung über die weißen Plastikbänke rutschen, die nass so schön glitschig waren. Und Spaß hatten sie, wenn sie auf der Wikingerschaukel stehend so hoch schaukelten, dass das Quietschen der Kettenaufhängung wie Lachen klang und die vereinzelten »Nicht so wild!«-Rufe der in der Mitte sitzenden Kinder übertönte. Anna Irene spürte die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Rücken, ging in die Hocke und schloss für einen Moment die Augen; so fühlte sich das Schaukeln noch mehr nach Fliegen und Freiheit an und im Kopf gab es wilde, bunte Bilder. Immer hat sie sich gewünscht, mitsamt der Schaukel abzuheben und davonzufliegen, in ein Land ohne Erwachsene. Stattdessen musste jedes der Kinder abends wieder zurück nach Hause, für viele Kinder die Hölle.
Anna Irene spürt noch die inneren Erdbeben, wenn sie durch die Sprechanlage erfahren hat, dass Liesi wieder einmal genau an dem Wochenende, an dem sie in Linz war, Hausarrest hatte. Sie brach innerlich zusammen, ließ aber Frau K. nichts davon wissen, um ihr den Schmerz nicht zu zeigen. Trost oder Mitgefühl von ihr zu bekommen, konnte sich Anna Irene gar nicht mehr vorstellen. Mitgefühl spürte sie nur bei den Kindern, denen es ähnlich ging; da reichte ein Blick. Anna Irene und Liesi waren in jeder Beziehung ein Herz und eine Seele.
Und dann meldete sich eines Tages niemand mehr an Liesis Sprechanlage. Drei Wochen später auch nicht. Als Anna Irene sich bei Harald und Helmut nach ihr erkundigte, bestätigte sich ihre Befürchtung: Liesi war auch nicht mehr in ihrer Schule. Keines der Kinder wusste Genaueres.
Anna Irene trauerte still in sich hinein. Nichts freute sie mehr. In Linz spielte sie immer seltener mit den anderen Kindern, weil sie dann die Abwesenheit Liesis umso mehr spürte. Selbst, wenn sie in Wien mit den neuen Schulkolleginnen in der Pause Spaß bei einer Runde Tischtennis hatte, war sie innerlich allein und unsicher. Sie hatte Angst vor der Zukunft ohne Liesi, mit der gemeinsam sie sich immer stark fühlte.
Und nun, da der Schmerz gerade ein bisschen nachgelassen hat, plötzlich dieser kurze Moment des Wiedersehens, zwischen drängenden Menschenmassen, Autos; gefangen in der Eile der Mütter; unfähig, ein paar Worte zu wechseln. Kein Mut, sich loszureißen und mit Liesi zu reden. Anna Irene hat gelernt, Angst zu haben, wenn sie nicht tut, was Frau K. für richtig hält. Angst davor, an den Haaren gerissen zu werden. Angst davor, gegen die Badewanne in der Linzer Wohnung zu fliegen, oder gegen die eckige Holzumrandung des Bettes in der Personalschlafstelle des Pensionistenheimes, wo sie und Frau K. vorübergehend wohnen. Angst, irgendwann die Situation nicht im Griff zu haben und mit dem Kopf so auf einer Kante zu landen, dass das Licht ausgeht.
»Hörst du es eigentlich, wenn meine Mutti mit mir schimpft?«, hat Anna Irene die siebenjährige Tochter des Verwalters, Doris, einmal gefragt. Sie bewohnt das Zimmer direkt nebenan und die Wände sind dünn. Anna Irene hat schon in Linz immer gehofft, dass eines Tages jemand kommt und ihr hilft.
»Manchmal, aber ich gehe dann eben in ein anderes Zimmer«, war Doris´ Antwort. Anna Irene hat von Anfang an gespürt, dass die beiden Verwaltertöchter Liesi nicht einmal den kleinen Fingernagel reichen können. Liesi hätte bestimmt jedesmal an die Tür geklopft, damit die Mutti aufhört.
Anna Irene muss an den Eisverkäufer denken, der für sie fast ein Freund geworden war. An seine mitleidigen Blicke, seit sie einmal mit Frau K. im Eissalon war, und daran, wie er im Oktober den Eissalon zugesperrt hat. Verzweifelt hat sie ihn gefragt: »Kannst du mich vielleicht mitnehmen nach Italien, und mich irgendwo hinbringen, wo mich niemand findet, bis ich erwachsen bin? Ich kann mich über die Grenze in den Kofferraum legen und ganz klein machen.«
Aber er meinte, das ginge nicht, und schaute sie dabei traurig an. Anna Irene fühlte sich wiederum verlassen, obwohl sie gar nicht damit gerechnet hatte, dass er ja sagen könnte. Die Frage fiel ihr einfach so ein in ihrer Angst vor Frau K., und dass dann niemand mehr da wäre, zu dem sie für eine halbe Stunde aus der Kälte in Frau K.´s Umgebung auf ein Eis flüchten konnte.
Nur, wenn Onkel Joe da ist, fühlt sie sich sicher, kann sie den permanenten Angstpegel etwas zurückschrauben. Aber es dauert noch ein weiteres Jahr, bis sie eine Gemeindewohnung bekommen werden und auch er nach Wien übersiedeln kann. Anna Irene will daran glauben, dass dann alles gut wird. Sie muss doch dann endlich so zufrieden und glücklich sein, dass sie zu schimpfen aufhört. Aber die Befürchtung, Onkel Joe könne es sich womöglich anders überlegen, lässt sie an ihrem Glauben zweifeln.
Als sie sich zu Beginn des neuen Schuljahres für den Klavierkurs in der Schule anmeldet, macht sie das heimlich.
Wenn ich das der Mutti erzähle, dann werde ich wieder den alten Leuten vorgeführt und muss vor allen spielen und zeigen, wie gut ich schon bin … Und sie steht daneben und tut ganz stolz, oder schimpft, wenn ich etwas nicht gleich kann … Ich will das nur für mich lernen und um die Oma damit zu überraschen, wenn ich dann gut spielen kann. Die wird sich richtig freuen. Die Oma, deren Leben das Klavierspiel ist, die selbst unterrichtet und in ihrer Freizeit komponiert. Sie wäre so glücklich, wenn eines ihrer Enkelkinder ihre Begabung geerbt hätte, daraus etwas machen und somit in ihre Fußstapfen treten würde, nachdem das schon ihre Töchter nicht getan haben.
Voller Vorfreude über ihren Plan denkt sie gar nicht daran, die Lehrerin einzuweihen. Am Elternsprechtag hat sie nur Angst, Frau Mock könnte sich bei Frau K. über ihre schwachen Leistungen in den Fächern Geschichte und Geographie beklagen.
»Du kommst mit«, befiehlt Frau K., obwohl Anna Irene ihre Angst viel lieber allein zu Hause ausstehen würde. »Immerhin haben die Sozialisten das durchgesetzt, dass Kinder zum Sprechtag mitkommen dürfen, damit sie dabei sind, wenn über sie gesprochen wird. Jetzt müssen wir das natürlich auch nützen, das ist doch wohl klar.«
Vielleicht war es die in Anna Irenes Gesicht geschriebene Angst, weshalb Frau Mock sie nur lobte: »Im Klavierspielen ist Anna Irene außerordentlich begabt. Sie sollten das unbedingt fördern.«
»Sie spielt Klavier?«, wundert sich Frau K. und richtet ihren Blick auf Anna Irene: »Warum weiß ich davon nichts? Du musst doch sicher üben!«
Die Lehrerin ist noch erstaunter: »Aber sie konnte doch die Hausaufgaben immer … Du hast das alles ohne Üben geschafft?«
»Ja …« Anna Irene muss schlucken, um sich die Tränen zurückzuhalten. »Ich hab es nur immer in der Pause davor einmal in Gedanken geübt.«
Pflichtbewusst versichert Frau K.: »Ab jetzt wird sie regelmäßig üben. Im Pensionistenheim steht ein Klavier im großen Saal, da kann sie jederzeit spielen, wenn keine Veranstaltung ist.«
Anna Irene spürt die Unwetter aufziehen, weiß, dass es heute noch kräftig donnern wird. Es ist verdammt schwül, obwohl es eigentlich kalt ist. Draußen ist es bereits finster geworden, als sie und Frau K. zur Straßenbahn gehen. Die Haube aus Angorawolle juckt auf Anna Irenes Stirn, ihr ist viel zu heiß, aber sie traut sich nicht, sie abzunehmen. Sie weiß, dass Frau K. sagen würde »Aber du kannst doch nicht ohne Haube …«. Wenn sie sich kratzt, lenkt sie damit Frau K.s Blick auf sich, der wie ein Blitz in Anna Irene einschlägt. Sie vergräbt die Hände in ihrem Mantel und versucht, sie drinnen zu behalten.
»Wie kannst du mir denn so etwas verheimlichen, dass ich vor der Lehrerin so dumm dastehe und von nichts weiß? Was glaubst du denn eigentlich!«
»Ich wollte die Oma damit überraschen …«
»So ein Blödsinn. Und nimm die Hände aus den Taschen, wie stehst du denn da!« Frau K. ringt um sich blickend nach einem Argument und findet eines: »Die Oma kannst du doch auch überraschen, wenn ich davon weiß.«
Die Straßenbahn kommt, die beiden steigen ein und fahren wortlos nach Hause, ins Pensionistenheim. Könnte die Fahrt doch bloß ewig dauern, hier wird sie mir nichts tun …
Anna Irene ist noch mit dem Ausziehen ihrer Stiefel beschäftigt, als Frau K. sich in dem winzigen Vorraum vor ihr aufbaut. »Kannst du mir jetzt endlich sagen, warum du mich so hintergehst? Womit ich das verdient habe?« Sie schaut Anna Irene drohend an. Anna Irene sieht ihr in die Augen und macht einen Schritt rückwärts. Frau K. will sie an den Haaren nehmen; Anna Irene duckt sich und geht weiter rückwärts in ihr Zimmer. Ängstlich schaut sie in Frau K.s Augen, die ihr bei jedem Schritt folgen und vor Zorn vibrieren. »Du wirst mich noch kennen lernen!« Frau K. stößt dabei mit beiden Händen gegen Anna Irenes Schultern, sodass sie wieder einmal auf ihr Bett fliegt. Wie jedes Mal fängt sie sich ab, damit sie nicht auf der Kante landet. Dann verlässt Frau K. das Zimmer, um kurz darauf wiederzukommen und noch ein paar Worte in den Raum zu werfen: »Und ab jetzt wird geübt. Und geübt. Und geübt. Und geübt.«
Gut, dass morgen wieder Onkel Joe kommt …
Anna Irene hört, wie Frau K. zu Onkel Joe sagt: »Wir müssen heiraten, sonst zählst du fürs Wohnungsamt nicht mit und dann haben wir einen Raum weniger.«
Seine Antwort hört sie nicht, da die Zimmertüre geschlossen wird. Dann wird er ja sogar mein richtiger Stiefpapa!, freut sich Anna Irene. Hoffentlich sagt er Ja … dann wird wirklich alles gut … Wenn sie nicht streiten, hat er sicher Ja gesagt …
Das Wochenende verläuft wie immer, wenn Onkel Joe in Wien ist. Samstags gehen sie ins immer gleiche Restaurant und Anna Irene fadisiert sich nach dem Essen, weiß schon nicht mehr, wie sie sitzen und wo sie hinschauen soll, während die beiden auch nach dem Essen noch endlos über Filmschauspieler und Politik diskutieren. Was kann an diesen Schauspielern nur so wichtig sein, dass sie gar so viel über die wissen und bereden muss? Das sind doch alles Leute, die wir gar nicht kennen …
Am Sonntagabend, als Onkel Joe bereits wieder auf dem Weg nach Linz ist, informiert Frau K. Anna Irene: »Joe und ich werden heiraten.«
Anna Irene will ihr ihre Freude nicht zeigen. »Ja …«
Länger hätte sie aber auch gar nicht reden dürfen, denn im Radio, das immer läuft, wenn Onkel Joe von einer Stadt zur anderen unterwegs ist, ertönt das Signal der Verkehrsmeldungen. Frau K. macht »pscht« und hört angestrengt zu, ob es auf der Strecke schwere Unfälle gegeben hat, an denen Onkel Joe vielleicht beteiligt sein könnte.
Beide sind erleichtert: Wieder hat es keinen Unfall auf der A1 gegeben, Onkel Joe lebt also zum Glück noch.
Es dauert nicht lange, bis sich Frau K. ein Kostüm für die Hochzeit kauft, dessen Blau so stechend ist, dass es Anna Irene in den Augen weh tut. Sie ist beim Kauf dabei und sagt das sogar. Frau K. sagt darauf nur: »Es ist ja wohl meine Hochzeit. Falls du einmal einen findest, der blöd genug ist, dich zu heiraten, suchst du dir ja auch selbst aus, was du anziehst.«
An den nächsten Wochenenden, die sie in Linz sind, besuchen sie nun alle Verwandten von Onkel Joe. Anna Irene fühlt sich ganz komisch dabei, weil Frau K. sonst nie mitgefahren ist, wenn sie mit Onkel Joe bei ihnen zu Besuch war. Immer ist Frau K. zuhause geblieben, hat immer nur schöne Grüße ausrichten lassen und den Eierbehälter zum Nachfüllen mitgegeben, wenn sie zu seinen Eltern gefahren sind. Anna Irene konnte dort so sein, wie sie war, ohne sich permanent kontrollieren zu müssen. Jetzt hat sie Angst, etwas falsch zu machen, oder dass jemand etwas erzählt, was Frau K. besser nicht wissen sollte.
Anna Irene hat Glück. Die Stimmung ist zwar überall so gespannt, dass man den Verdacht haben muss, eine Hochspannungsleitung führe direkt durchs Zimmer, aber das lässt die Abende wenigstens früh enden.
Und Frau K. ist zufrieden: Die Einladungen sind verteilt, die Wünsche für die Hochzeitsgeschenke deponiert.
Das Klavierspielen macht Anna Irene nicht mehr so viel Spaß. Wenn sie im großen Saal sitzt und übt, kommen immer wieder alte Leute, die von draußen die Musik hören und glauben, es sei eine Veranstaltung, und dann so tun, als wäre Anna Irene ein kleines Kind. »Ja, du kannst aber schon schön spielen! Da wird sich deine Mutti sicher freuen, wenn du so fleißig bist!«
Anna Irene weiß nie, was sie darauf sagen soll, hofft nur, dass sie schnell wieder gehen.
Frau K. ist dabei oft im Bastelraum nebenan und kommt dann stets heraus, um die Leute zu begrüßen und sich ausgiebig für ihre gelungene Tochter loben zu lassen. Sie kommt auch bei jeder falsch, zu schnell oder zu langsam gespielten Note angerannt, um Anna Irene zu sagen, dass sie das noch einmal üben muss, obwohl sie die Stelle bereits wiederholt.
Frau K. räumt die ganze Zeit nur Dinge von einem Platz auf den anderen, macht Schranktüren auf, schaut eine Weile hinein, macht wieder zu – obwohl sie weiß, was drinnen ist.
Wieso kann sie nicht endlich Ruhe geben und mich alleine üben lassen? … Warum hab ich keine normale Familie, sondern muss hier im Pensionistenheim wohnen und ständig für alle das liebe kleine Mädchen spielen?
Je näher der Hochzeitstermin rückt, desto aufgeregter wird Anna Irene. »Muss ich dann eigentlich ›Stiefpapa‹ zu dir sagen?«, fragt sie ihn. Onkel Joe ist so ein toller Name …
Er antwortet lächelnd: »Nein, du kannst mich schon weiterhin ›Onkel Joe‹ nennen. Warum solltest du das ändern?«
»Weiß’ nicht.« Sie zuckt mit den Schultern.
Dann gehört Onkel Joe richtig zu uns. Dann brauche ich keine Angst mehr haben, dass er womöglich eines Tages nicht mehr kommt …
In der Nacht wacht sie manchmal auf. Dann hat Onkel Joe in ihrem Traum wieder einmal am Standesamt nachdenklich dreingeschaut und »Nein« gesagt, und Frau K. ließ all ihren Zorn an ihr aus … Was mach ich bloß, wenn er das wirklich tut? Wenn er plötzlich genauso weg ist, wie die Liesi? Die Mutti bringt mich dann bestimmt irgendwann um … Er muss einfach Ja sagen … er weiß doch, dass ich ihn brauche. Bitte lass mich nicht allein …
Am nächsten Wochenende, an dem Onkel Joe nach Wien kommt, ist gerade die Messe, auf der die neuesten technischen Geräte vorgestellt werden. Da gehen sie alle drei hin, denn Onkel Joe darf auch bei seinen Kollegen Wünsche bekanntgeben. Sie entscheiden sich für drei nicht ganz billige Haushaltsgeräte. Doch dann beginnt sich Anna Irene zu wundern: So viele Geschenke bekommt man von Arbeitskollegen, wenn man heiratet?
Obwohl sie noch nicht sehr viel von Geld versteht, ist ihr das doch etwas suspekt, deshalb fragt sie Onkel Joe eine Woche später, als sie wieder in Linz sind und sie mit ihm zu seinen Eltern fährt. »Naja, normalerweise bekommt man sicher nicht so viel«, erklärt er ihr, »aber da ich ja im Zentralbetriebsrat der VÖEST bin, spenden auch recht viele etwas.«
Das wusste Anna Irene bisher nicht. Sie weiß auch nicht, was ein Zentralbetriebsrat ist, doch auch das erklärt er ihr. Nur die letzte Frage stellt sie ihm nicht: Und das will er wirklich alles aufgeben, nur weil die Mutti nach Wien übersiedeln wollte? Wird er das auch wirklich tun?
Es ist ein trüber Tag, an dem es hin und wieder leicht regnet, als sich alle vor dem Standesamt in Linz einfinden. Anna Irene kann Frau K. kaum ansehen, da ihr das Blau des Kostüms immer noch in den Augen schmerzt. Am liebsten wäre es ihr, wenn schon wieder alles vorbei wäre, ihre Hände sind kalt.
Dann ist es endlich soweit: Der Standesbeamte stellt seine Frage. Anna Irene macht die Augen zu. Bitte sag Ja … bitte sag Ja … bitte sag Ja …
»Ja … ich will.«
Ein Stein verrutscht auf ihrem Herzen, bleibt an der Kippe liegen.
Noch ist er ja nicht übersiedelt …
Anschließend geht die Gruppe in ein Restaurant auf der Donaulände, alle setzen sich an eine lange Tafel und essen. Die Stimmung ist trotz der Feierlichkeit ein wenig angespannt, es wird über belanglose Themen gesprochen.
Plötzlich sagt Frau K. zu Anna Irene: »Da vorne steht ein Klavier, zeig doch der Oma, wie du schon spielen kannst!«
Du bist ja so gemein … Ich wollte es doch erst wirklich gut können …
Den Tränen nahe, die sie sich aber zurückhält, setzt sich Anna Irene ans Klavier und spielt ein Stück, das sie bereits gut und auswendig kann.
Die Oma bewundert und lobt sie, und gibt ihr eine Stunde lang Nachhilfe; lehrt sie, die Tasten sanfter anzuschlagen, damit die Töne nicht abgehackt klingen. Für Anna Irene ist das zwar eine willkommene Abwechslung während der langweiligen Feier, doch der Verrat von Frau K. und ihre Enttäuschung wiegen schwerer.
Nächstes Schuljahr melde ich mich nicht mehr für Klavier an.
Zwischen achtzehn und neunzehn Uhr löst sich die Gesellschaft langsam auf. Keine Feier bis Mitternacht, wie Anna Irene das irgendwo einmal gehört hat.
Im Grunde ist wahrscheinlich jeder froh, aus dieser Atmosphäre zu entkommen, hinaus in den warmen Regen.
Zuhause meint Frau K.: »So, als Nächstes müssen wir dann die Wohnung aufgeben.«
»Was?!«, fragt Anna Irene erschrocken.
»Na sicher. Wir können ja nicht vorm Wohnungsamt in Wien als wohnungsuchend gelten, wenn wir eine Wohnung haben. Joe zieht solange zu seinen Eltern.«
»Dann können wir ja gar nicht mehr hierher fahren!«
»Was willst du denn noch da?«
Anna Irene weiß keine Antwort.
Ein letztes Mal geht sie am nächsten Tag zu Liesis Haus. Obwohl Liesi seit Monaten weg ist, probiert sie es noch einmal, läutet an der Sprechanlage. Eine fremde Stimme meldet sich: »Ja?«
»Ist die Liesi da?«
»Welche Liesi? Hier ist keine Liesi.«
»Die, die vorher da gewohnt hat. Wissen Sie vielleicht, wo sie hingezogen ist?«
»Tut mir Leid, das weiß ich nicht.«