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Serie Anna Irene – Die Weihnachtsvorstellung (06)

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20.11.2001
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Anna Irene – Die Weihnachtsvorstellung (06)

Es ist Samstag und Anna Irene ist allein zu Hause, wie so oft. Plötzlich klingelt es an der Tür, was sie zuerst erschrocken zusammenzucken läßt, denn sie wurde ja aufgeklärt, was alles passieren kann, wenn sie jemand Fremdem die Türe öffnet. Abgesehen davon ist sie aber ohnehin eingesperrt, also könnte sie ja gar nicht öffnen. Ängstlich zögernd geht sie zur Sprechanlage, wo sich auf ihr Fragen eine vertraute Stimme meldet: „I bin´s, da Papa. Machst´ mir auf?“ Sie überlegt und entscheidet sich, doch lieber durch die Wohnungstür mit ihm zu reden, als über die Sprechanlage, und drückt auf den Öffner.

„Ich kann dich nicht hereinlassen, weil ich eingesperrt bin und die Mutti gesagt hat, ich darf niemandem, aber auch wirklich niemandem, die Türe öffnen.“ – „Aber ich bin doch dein Papa und will dich nur ins Theater mitnehmen zur Weihnachtsaufführung. Ich habe das deiner Mutti doch gesagt.“ – „Aber ich weiß nicht, ob die Mutti das erlaubt. Sie hat nix gesagt.“ – „Wo ist sie denn?“ – „Das weiß ich nicht, vielleicht arbeiten.“ – „Und du hast keinen Schlüssel?“ – „Nein.“

Anna Irene´s Papa ist über diese Vorgehensweise seiner Ex-Frau soviel erstaunt, wie verärgert,. Er hatte sie schon zwei Wochen zuvor von der heutigen Theatervorstellung informiert und sie hat sich nicht dazu geäußert. Damit, daß er jetzt seine Tochter eingesperrt und alleine vorfindet, hat er nicht gerechnet. Aber sein logisches Denken setzt nicht so leicht aus und er hat Glück, denn das Schloß ist noch dasselbe, das beim Bau des Hauses montiert wurde – und davon hat der Hausbesorger einen Generalschlüssel, der ihm nach Erklären des Sachverhaltes auch aufsperrt.

Doch Anna Irene ist nicht so einfach zu überreden, nun mitzukommen. „Die Mutti wird schimpfen, wenn ich mitkomme.“ – „Das erklär´ich ihr dann schon, der Mutti.“ – „Aber wenn du dann wieder weg bist, dann krieg ich geschimpft.“ – „Aber nein, das machen wir schon.“ – „Und wenn sie zurückkommt, weiß sie nicht, wo ich bin.“, dabei sieht Anna Irene ihre Mutter vor sich, wie sie bei ihrer Rückkunft, schon völlig am Ende ihrer Nerven, die Tür öffnet – „Ich schreib´ ihr einen Zettel, daß ich dich geholt habe, dann braucht sie sich keine Sorgen machen.“ – „Aber den sieht sie dann vielleicht nicht.“ – „Den wird sie schon sehen, mach dir nicht so viele Sorgen.“ – „Ich habe Angst, daß sie ihn nicht sieht und nachher mit mir schimpft.“ – „Außerdem weiß doch jetzt auch der Hausbesorger, daß du von mir abgeholt worden bist, da wird schon nix sein.“ – „Sie fragt doch nicht nach, beim Hausbesorger, mit dem und seiner Familie redet sie ja gar nichts.“ – „Dann läute ich jetzt bei der Nachbarin an und sage es ihr auch, die hört dann vielleicht, wenn deine Mutti nach Hause kommt und sagt es ihr.“ – „Ja, ist gut.“ Dabei hat sie aber in Wirklichkeit noch immer Angst, bloß weiß sie keine Argumente mehr. Der Papa hat scheinbar keine Ahnung, was ihr alles passieren kann. Aber sie möchte doch auch gerne zu der Theatervorstellung, wo auch ihre Schwester und ihre beiden Halbgeschwister mitkommen werden. Für eine Weile verdrängt sie ihre Angst.

Mitten in der Vorstellung kommt sie plötzlich wieder. Sie weiß, sie sollte hier nicht sitzen. Sie sollte zu Hause sein, wenn ihre Mutter zurückkommt und jetzt sitzt sie hier und kann sich gar nicht wie die anderen Kinder richtig freuen, weil sie die Folgen, mit denen sie dieses Vergnügen bezahlen muß, schon kommen spürt. Sie will am liebsten die Zeit anhalten und für immer hier sitzen bleiben, auf dem weichen Samtsessel, mitten unter ihren Geschwistern. Sie fragt sich keine Sekunde, warum sie immer wieder in diese Hölle zurückmuß. Sie hat es längst als gegebene Tatsache hingenommen und kommt gar nicht auf die Idee, irgendjemandem, nicht einmal ihrem Papa, zu erzählen, was sie bei ihrer Mutter alles mitmacht. Jedes Wort zuviel könnte in die falsche Richtung losgehen, tausendfach zurückkommen. Besser, sie behält alles für sich, dann kann nichts passieren.

Der Vorhang fällt und Anna Irene bekommt Bauchschmerzen. Die Schauspieler verabschieden sich und Anna Irene wünscht sich, daß sie nie aufhören mögen. Sie muß schließlich ihren Platz verlassen und das schlechte Gewissen wird mit jedem Schritt, den sie in richtung Auto geht, größer. Die Fahrt nach Hause ist der Aufzug zur Hölle. Anna Irene leidet still, lächelt, wenn man sie ansieht und mimt das fröhliche Kind. So hat sie es von ihrer Mutter gelernt, damit niemand etwas mitbekommt. Sie will gerne ein braves Kind sein.

Der Teufel persönlich öffnet die Türe und fällt erst über den Vater mit Worten her, als dieser sich dann im Glauben, alles geklärt zu haben, verabschiedet, auch über Anna Irene, mit Haare-reißen, Schlägen und Tritten, die sie immer wieder mit dem Rücken gegen den Badewannenrand fliegen lassen.

Eine Stunde später ist Anna Irene einsichtig und entschuldigt sich dafür, daß sie das getan hat.

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Susi P.

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Wenn Dich mehr von Anna Irene interessiert, ist hier der Beginn:

1. Februar 1965, eiskalt

..und hier die nächste Geschichte: Anna Irene schreibt brav Briefe

 

Hallo Häferl!

Eine mitleiderweckende Geschichte mit einem traurigen und schockierenden Ende, das den Leser zum Nachdenken bringt über Gewalt in der Kindererziehung; ein immer wieder aktuelles Thema.

Die Umsetzung und auch den Schlusssatz halte ich für recht gelungen und sie bereitet den Leser ganz gut auf das Ende vor, auch wenn ich beim Lesen des vorletzten Absatzes doch etwas über die brutale Verhaltensweise der Mutter überrascht war.

Sprachlich eher durchschnittlich überzeugt der Text vor allem durch seinen dem Leser gut nahegebrachten Inhalt.

Viele Grüße,
Michael :)

 

Lieber Michael!

Danke für Dein Lob!

Ich denke, daß die einfache Sprache zu solchen Themen paßt, denn es ist unerheblich, ob etwa der Badewannenrand mit hellblauen Fliesen gekachelt war, dadurch wird er nicht weicher. Oder ich hätte auch schreiben können, daß sie an ihrem blonden, lockig gewelltem Haar gerissen wurde - es tut aber bei jeder Haarfarbe gleich weh und spielt daher keine Rolle.
Jede Ausschmückung würde nur vom Geschehen ablenken. - Denke ich. Aber ich weiß´nicht... Du hast es ja auch nicht direkt kritisiert... oder?

Alles liebe
Susi

 

Es ging mir wirklich mehr um den Inhalt als um irgendwelche sprachlichen Ausschmückungen und von der Idee her hat mir "Die Weihnachtsvorstellung" gut gefallen.

Liebe Grüße, Michael

 

Hallo, Susi!

Eine sehr aufrüttelnde KG über die Wirkung elterlicher (hierbei überraschend: mütterlicher) Gewalt gegen Kinder. Ich konnte die zwiespältigen Gefühle und die Angst des Mädchens sehr gut nachempfinden. Der Erzähl-Stil passt, meiner Meinung nach, auch bestens zum Inhalt. Nicht beschönigend, sondern realitätsnah.
Genau richtig.
:thumbsup:

Liebe Grüße
Angelika

 

@Danke nochmal, Michael! :)

Hallo Angelika!

Danke Dir für Deine aufbauenden Worte!

Vor ein paar Tagen las ich mir selbst nochmal alle Anna Irene-Geschichten durch und fand dann irgendwie, daß mir der Stil bei der 4. und 5. nicht so gut gelungen ist. - Deiner Kritik nach habe ich das Gefühl, daß ich es jetzt doch wieder geschafft habe - das freut mich besonders! :)

Alles liebe
Susi

[ 15.07.2002, 02:49: Beitrag editiert von: Häferl ]

 

Hi Susi,

erst einmal entgegensetzen: die vierte und fünfte Geschichte, beide haben mir stilistisch gut gefallen, keine Frage.

Hier habe ich wieder (nach längerer Zeit) ein ziemlich kurzes und eindringliches Fragment der AI-Geschichte vor mir.
Interessant:

Jedes Wort zuviel könnte in die falsche Richtung losgehen, tausendfach zurückkommen
Hier fasst Du es in Worte, was sich in den Geschichten widerspiegelt. AnnaIrene lernt es nicht, Auswege zu finden, die Möglichkeit, dass es so etwas geben könnte, kann ihr gar nicht erst in den Sinn kommen. In gewisser Weise eine Brandmarkung. Ich denke, das ist die Hauptaussage dieser 'Episode'.
Gleichzeitig macht ihr Vater keine gute Figur. Er hat es verlernt (vielleicht auch, weil er nicht die Möglichkeit gehabt hat) in den Augen seiner Tochter, zwischen den Zeilen ihrer Worte zu lesen. AnnaIrene wird deshalb wohl keinen Hass auf ihn entwickeln, er verhält sich so, wie es in ihrer Dämmerwelt erwartet wird. Die Frage, ob er später irgenwann einmal etwas erkannt hat, bleibt.

Wenn die Geschichte fiktiv wäre, würde ich jetzt langsam auf einen Umschwung drängen oder einen zeitlichen Sprung machen, der Leser will wissen, was später auf diesem Fundament ihres Lebens entstanden ist. Mal schauen, was die nächsten Mosaiksteinchen bringen.

Den Stil ziehst Du konsequent durch, da würde ich nicht mehr viel ändern. Überlege, welche Geschehnisse in Zukunft sprechend sind.

Lieben Gruß, baddax

 

Lieber baddax!

Ich danke Dir fürs Lesen meiner Geschichte und vor allem für die tiefgehenden Gedanken, die Du Dir zu Anna Irene machst. Und ganz besonders freut mich, daß Dir dieser Satz aufgefallen ist.

Anna Irenes Vater hat es wohl nicht in dem Ausmaß registriert, oder aber er hat den Konflikt mit Frau K. gescheut... Aber böse ist sie ihm deshalb nicht, sie findet es verständlich. ;)

Vor ein paar Jahren fragte sie ihn mal (nett, nicht böse): "Was hast Du Dir eigentlich dabei gedacht, als Du meine Mutter geheiratet hast?" Darauf sagte er: "Das weiß ich wirklich nicht, was ich mir dabei gedacht hab..."

Alles liebe
Susi

 

S******,

was soll ich denn hierzu schreiben???

ich wünsche mir, dass es nicht mehr als eine geschichte ist.

barde

 

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