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Anna Irene – Die Weihnachtsvorstellung (06)
Es ist Samstag und Anna Irene ist allein zu Hause, wie so oft. Plötzlich klingelt es an der Tür, was sie zuerst erschrocken zusammenzucken läßt, denn sie wurde ja aufgeklärt, was alles passieren kann, wenn sie jemand Fremdem die Türe öffnet. Abgesehen davon ist sie aber ohnehin eingesperrt, also könnte sie ja gar nicht öffnen. Ängstlich zögernd geht sie zur Sprechanlage, wo sich auf ihr Fragen eine vertraute Stimme meldet: „I bin´s, da Papa. Machst´ mir auf?“ Sie überlegt und entscheidet sich, doch lieber durch die Wohnungstür mit ihm zu reden, als über die Sprechanlage, und drückt auf den Öffner.
„Ich kann dich nicht hereinlassen, weil ich eingesperrt bin und die Mutti gesagt hat, ich darf niemandem, aber auch wirklich niemandem, die Türe öffnen.“ – „Aber ich bin doch dein Papa und will dich nur ins Theater mitnehmen zur Weihnachtsaufführung. Ich habe das deiner Mutti doch gesagt.“ – „Aber ich weiß nicht, ob die Mutti das erlaubt. Sie hat nix gesagt.“ – „Wo ist sie denn?“ – „Das weiß ich nicht, vielleicht arbeiten.“ – „Und du hast keinen Schlüssel?“ – „Nein.“
Anna Irene´s Papa ist über diese Vorgehensweise seiner Ex-Frau soviel erstaunt, wie verärgert,. Er hatte sie schon zwei Wochen zuvor von der heutigen Theatervorstellung informiert und sie hat sich nicht dazu geäußert. Damit, daß er jetzt seine Tochter eingesperrt und alleine vorfindet, hat er nicht gerechnet. Aber sein logisches Denken setzt nicht so leicht aus und er hat Glück, denn das Schloß ist noch dasselbe, das beim Bau des Hauses montiert wurde – und davon hat der Hausbesorger einen Generalschlüssel, der ihm nach Erklären des Sachverhaltes auch aufsperrt.
Doch Anna Irene ist nicht so einfach zu überreden, nun mitzukommen. „Die Mutti wird schimpfen, wenn ich mitkomme.“ – „Das erklär´ich ihr dann schon, der Mutti.“ – „Aber wenn du dann wieder weg bist, dann krieg ich geschimpft.“ – „Aber nein, das machen wir schon.“ – „Und wenn sie zurückkommt, weiß sie nicht, wo ich bin.“, dabei sieht Anna Irene ihre Mutter vor sich, wie sie bei ihrer Rückkunft, schon völlig am Ende ihrer Nerven, die Tür öffnet – „Ich schreib´ ihr einen Zettel, daß ich dich geholt habe, dann braucht sie sich keine Sorgen machen.“ – „Aber den sieht sie dann vielleicht nicht.“ – „Den wird sie schon sehen, mach dir nicht so viele Sorgen.“ – „Ich habe Angst, daß sie ihn nicht sieht und nachher mit mir schimpft.“ – „Außerdem weiß doch jetzt auch der Hausbesorger, daß du von mir abgeholt worden bist, da wird schon nix sein.“ – „Sie fragt doch nicht nach, beim Hausbesorger, mit dem und seiner Familie redet sie ja gar nichts.“ – „Dann läute ich jetzt bei der Nachbarin an und sage es ihr auch, die hört dann vielleicht, wenn deine Mutti nach Hause kommt und sagt es ihr.“ – „Ja, ist gut.“ Dabei hat sie aber in Wirklichkeit noch immer Angst, bloß weiß sie keine Argumente mehr. Der Papa hat scheinbar keine Ahnung, was ihr alles passieren kann. Aber sie möchte doch auch gerne zu der Theatervorstellung, wo auch ihre Schwester und ihre beiden Halbgeschwister mitkommen werden. Für eine Weile verdrängt sie ihre Angst.
Mitten in der Vorstellung kommt sie plötzlich wieder. Sie weiß, sie sollte hier nicht sitzen. Sie sollte zu Hause sein, wenn ihre Mutter zurückkommt und jetzt sitzt sie hier und kann sich gar nicht wie die anderen Kinder richtig freuen, weil sie die Folgen, mit denen sie dieses Vergnügen bezahlen muß, schon kommen spürt. Sie will am liebsten die Zeit anhalten und für immer hier sitzen bleiben, auf dem weichen Samtsessel, mitten unter ihren Geschwistern. Sie fragt sich keine Sekunde, warum sie immer wieder in diese Hölle zurückmuß. Sie hat es längst als gegebene Tatsache hingenommen und kommt gar nicht auf die Idee, irgendjemandem, nicht einmal ihrem Papa, zu erzählen, was sie bei ihrer Mutter alles mitmacht. Jedes Wort zuviel könnte in die falsche Richtung losgehen, tausendfach zurückkommen. Besser, sie behält alles für sich, dann kann nichts passieren.
Der Vorhang fällt und Anna Irene bekommt Bauchschmerzen. Die Schauspieler verabschieden sich und Anna Irene wünscht sich, daß sie nie aufhören mögen. Sie muß schließlich ihren Platz verlassen und das schlechte Gewissen wird mit jedem Schritt, den sie in richtung Auto geht, größer. Die Fahrt nach Hause ist der Aufzug zur Hölle. Anna Irene leidet still, lächelt, wenn man sie ansieht und mimt das fröhliche Kind. So hat sie es von ihrer Mutter gelernt, damit niemand etwas mitbekommt. Sie will gerne ein braves Kind sein.
Der Teufel persönlich öffnet die Türe und fällt erst über den Vater mit Worten her, als dieser sich dann im Glauben, alles geklärt zu haben, verabschiedet, auch über Anna Irene, mit Haare-reißen, Schlägen und Tritten, die sie immer wieder mit dem Rücken gegen den Badewannenrand fliegen lassen.
Eine Stunde später ist Anna Irene einsichtig und entschuldigt sich dafür, daß sie das getan hat.
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Susi P.
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..und hier die nächste Geschichte: Anna Irene schreibt brav Briefe