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Anna Irene – Der Furz des Anstoßes (09)
Was Anna Irene bisher über Menschen weiß, hat sie großteils von ihrer Mutter gelernt. Daß alle anderen Leute irgendwie schlecht sind oder einem Böses wollen. Anna Irene sieht aber auch immer wieder, daß ihre Mutter, Frau K., sich irrt.
Bei Onkel Joe sieht sie Geduld und Ausdauer. Sie bewundert ihn manchmal heimlich dafür, wie er die Attacken von Frau K. wegsteckt, obwohl immer die Angst mit dabei ist, daß er sich eines Tages ebendiese nicht mehr gefallen lassen würde. Deshalb ist sie sehr froh über die von ihm an den Tag gelegte Nervenkraft, sie braucht ihn einfach...
Aus der Box des Kofferplattenspielers dröhnt Daliah Lavi, mono, eine der Lieblingsplatten von Frau K..
„...man nennt es Liebe, man nennt es Glücklichsein, keine Sprache hat mehr als Worte... Licht und Schatten versteh´n... “
„Du kamst so wie ein Sturm über mich, unerwartet und wild, und hast vieles in mir, was verloren schien, einfach kurzerhand neu ans Licht gespült. Ich hab wieder gelernt, wie man liebt, andere Menschen und sich, wo das Lachen beginnt und was Träume sind, das alles nur durch dich, ....von dir krieg ich nie genug, weil du zärtlich bist und klug.“
Anna Irene hört diesen Texten, die in ihren Augen nicht zu ihrer Mutter passen, aufmerksam zu. Sie spürt, dass das, wovon da gesungen wird, ungefähr das ist, was ihr fehlt. Sie weiß, daß es ihr fehlt und sehnt sich sehr danach, endlich erwachsen zu werden. Sicher wird sie dann die Liebe finden, sie muß nur lang genug warten, noch viele Jahre zählen. Sie hat ja immerhin schon mit der Schule begonnen...
„...Meine Art Liebe zu zeigen, das ist ganz einfach Schweigen, Worte zerstören, wo sie nicht hingehören... spürst du, wie die Zeit entflieht, wie die Sehnsucht Kreise zieht....“
Ihre Mutter, Frau K., nimmt den Tonarm unter lautem Krachen aus der Box von der Platte und kommentiert ihr Tun mit den Worten:
„Die Männer wollen doch immer nur das eine.“
Ein fragender Blick von Anna Irene wird auch prompt beantwortet:
„Wollen alle nur mit den Frauen ins Bett, dafür lügen sie ihnen ins Gesicht. Reden von Liebe und wissen gar nicht, was das ist. Männer haben überhaupt kein Gefühl und können gar nicht lieben.“
Für Anna Irene sind diese Worte sehr wichtig, die genau das Gegenteil von dem sagen, was sie in den Liedern eben gehört hat, deshalb prägt sie sich das alles sehr gut ein.
Ein fast gemütlicher Nachmittag. Anna Irene sitzt in ihrem Zimmer und weiß wieder einmal nicht, womit sie sich beschäftigen könnte. Sie möchte die fast schon unheimliche, aber angenehme Stille nicht stören, indem sie etwas tut, was Frau K. aufregen könnte. Gerade will sie ein Buch zur Hand nehmen und sich damit aufs Bett legen, als die Ruhe auch schon dahin ist.
Ein empörtes „Wäh, du stinkst!“ dringt aus dem Wohnzimmer, die Balkontür wird geöffnet.
Onkel Joe verteidigt sich: „Wieso ich?“
„Na wer denn? (entrüstet-) Ich vielleicht?!“
„Sag einmal spinnst du?“
„Willst du vielleicht abstreiten, daß du einen hast fahren lassen?“
Anna Irene schaut aus ihrem Zimmer heraus Onkel Joe mitfühlend an. Sie sieht, wie er leidet. Sie sieht, wie ungerecht er behandelt wird. Sie spürt, wie gedemütigt er sich fühlt – das sieht sie in seinen Augen.
„Nein, ich hab keinen fahren lassen.“
„Dann stinkst du aus der Nase.“ Sie fängt an, durch die Wohnung zu gehen. „Überall stinkt es schon.“ Sie geht auf den Balkon: „Sogar schon hier heraußen!“
„Jetzt hat es dich aber wirklich.“
„Riechst du das nicht?“
„Das ist von der Chemie Linz.“
„Die stinkt doch sonst auch nicht so, sicher bist das du. Warum gibst du nicht zu, daß du einen fahren gelassen hast?!“
Anna Irene riecht, daß es stinkt, eigenartig stinkt. Aber sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß das von ihrem Onkel Joe sein soll. Onkel Joe tut ihr schon sehr leid, sie kennt ja Frau K. zur Genüge und weiß wie man sich fühlt, wenn sie einen niedermacht. Sie geht zu Onkel Joe und setzt sich neben ihn.
„Bist du gern dort, wo es stinkt?“, folgt aus Frau K.´s Mund in sehr zynischem Tonfall.
Anna Irene nimmt sich fest vor, bei ihm sitzen zu bleiben. Neben ihrem Onkel Joe fühlt sie sich stark. Ihre Beobachtungen lassen sie nachdenken, ob das denn stimmen kann, was Frau K. zu ihr sagte – daß nur Frauen Gefühle hätten. Sie sah sie doch gerade eben in seinen Augen. Onkel Joe legt seinen Arm um sie und drückt sie an der Schulter.
Es stinkt zwei Stunden lang und Frau K. regt sich auch so lange nicht ab. Sie bleibt bei ihrer Meinung, ihr Lebensgefährte hätte diesen Gestank verursacht. Auch, als er ihr erklärt, daß das Schwefel sei, und nicht sein verdautes Frühstücksei, bleibt sie dabei und behandelt ihn weiter wie den letzten Dreck, einen Aussätzigen, einen, um den man einen Bogen macht.
Und er läßt es sich gefallen. Geht nicht weg. Sitzt ruhig da und läßt sie reden, schaut Anna Irene an.
Sie ist stolz auf ihn und ihm dankbar zugleich, denn es gehört zu ihren größten Ängsten, daß er eines Tages nicht mehr da sein könnte. Was sie sogar verstehen könnte. - Und der eine Satz beschäftigt sie immer wieder: „Männer haben kein Gefühl.“
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Susi P.
Die erste Folge der Anna Irene-Geschichten findest Du hier:
1. Februar 1965, eiskalt
Die nächste ist hier: Anna Irene und die Kinder aus Linz-Kleinmünchen, 1972