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Anitas Hair Magic
Er benutzte die Abkürzung, obwohl er es nicht eilig hatte. Mit Tempo dreissig fuhr er den schnurgeraden Schotterweg entlang, der durch eine Schrebergartensiedlung führte. Die Regentropfen prasselten schwer gegen die Windschutzscheibe und zwischen dem Auf und Ab der Scheibenwischer bemerkte er schon von Weitem die Frau im roten Regenmantel. An der Art, wie sie sich bewegte, wusste er sofort, dass es eine Frau war. Eine zierliche Frau musste es sein, und wie er schien sie es nicht eilig zu haben. Sie schlenderte im Regen, und als er näher kam, sah er, dass sie grüne Gummistiefel trug, in denen sie durch die Pfützen watete; und es schien, als würde es ihr Spaß machen, durch die Pfützen zu waten. Mit ihren Gummistiefeln schaufelte sie das Wasser in die Höhe und er erwartete fast, dass sie jeden Moment wie ein verspieltes Kind in die Luft hüpfen würde, um das Wasser platschend nach allen Seiten wegspritzen zu lassen.
Der Bums war dumpf, so dumpf, als wäre er gar nicht passiert. Der Körper rollte über die Motorhaube und die Windschutzscheibe über das Dach und hinterließ nur eine leichte Delle an der Stoßstange. Sogar die Scheibenwischer funktionierten noch einwandfrei.
Er sah nicht in den Rückspiegel und hielt zehn Minuten später vor Franzis Directors Cut. Franzi lehnte hinter der Theke und blätterte in einer Illustrierten. Ihr gelangweiltes Gesicht hellte sich auf, als er den Laden betrat.
„Hey Bernd“, sagte sie und kam auf ihn zu. „Das ist ja eine Überraschung.“ Sie umarmten sich und Franzi küsste ihn auf den Mund. „Ich dachte, du hast heute Familienabend?“
„Hab ich auch“, sagte er, zog den dunkelgrauen Trenchcoat aus und reichte ihn Franzi. Er lockerte die Krawatte und reichte sie ebenfalls Franzi. Dann setzte er sich in den Friseurstuhl und betrachtete sein Gesicht in dem großen Spiegel. Ein normales Gesicht, auf einem normalen Hals, der auf einem normalen fünfunddreißigjährigen Körper steckt.
Er hörte, wie Franzi den Trenchcoat an einem Bügelhacken in der Garderobe aufhing. „Du hast Glück“, hörte er sie sagen. „Heute ist ausnahmsweise Mal nichts los.“ Ihre Schuhe mit den hohen Absätzen klackerten bei jedem Schritt auf dem Fliesenboden und Franzi plapperte und plapperte.
Er betrachtete seine Hände, die ruhig auf seinen Oberschenkeln lagen.
„Ja“, sagte er dann, halb zustimmend, halb fragend, als er merkte, dass Franzi hinter ihm stand und aufgehört hatte zu plappern.
„Was ja?“, sagte sie.
Er zuckte die Schultern.
„Ich hab dich gefragt, wie es dir geht?“
„Mir geht’s gut“, sagte er und sah Franzi im Spiegel an.
„Warum bist du dann hier?“, sagte Franzi und stemmte keck die Hände in die Hüften. „Normalerweise kommst du doch nur, wenn es dir schlecht geht.“
Er sagte nichts, drehte mit den Fußspitzen den Stuhl um hundertachtzig Grad und zog Franzi auf seinen Schoss. Er küsste sie und sagte: „Ich habe eine Frau im roten Regenmantel überfahren.“
„Du Spinner.“
"Und jetzt bin ich hier, damit du mir die Haare schneidest.“
Franzi lachte und machte sich von ihm los. Ihr Parfum, ihre rot lackierten langen Fingernägel, ihre hochgetürmten blonden Haare, der Reiz der aufgeblähten Weiblichkeit; er würde sie nie lieben, immer nur besitzen.
Er küsste sie erneut und biss ihr dabei kurz in die Unterlippe.
„Aua!“, sagte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. „Du Spinner, du. Das hat wehgetan.“ In ihrem Blick lag gespielte Empörung, und sie legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel und strich langsam Richtung Schritt. „Wenn du willst, sperr ich den Laden jetzt zu“, sagte sie. „Oben hab ich Sekt und eine Flasche Rotwein. Und um viertel nach acht kommt Die wunderbare Welt der Amelie im Fernsehen. Wir könnten ...“
„Ich will, dass du mir eine Glatze schneidest.“
„Ich mach deinem Schwanz ne Glatze“, lachte Franzi.
„Nein, im Ernst“, sagte er und drehte den Stuhl Richtung Spiegel zurück. „Außerdem hab ich heute Familienabend. Spätestens um sechs muss ich zu Hause sein.“
„Spinner“, lachte Franzi und kniff ihm ins Ohrläppchen.
Er zuckte den Kopf von ihrer Hand weg. „Fang schon an jetzt! Eine Glatze! Ratzekahl!“
„Was hast du denn auf einmal?“
„Komm!“, sagte er. „Nimm den Rasierer und dann los!“
„Ich rasier dir doch keine Glatze, du Spinner.“
„Ich sags nicht nochmal“, sagte er. „Entweder du fängst jetzt an, oder ich geh die Strasse runter zu Anitas Hair Magic.“
„Der Bitch?“
„Der Bitch“, sagte er. „Und ich bin sicher, dass mir die Bitch ne Glatze rasiert.“
„Sicher macht die das. Das ist ja das Einzige, wozu die fähig ist“, sagte Franzi, und dann, mit veränderter, zärtlicher Stimme: „Aber Bernd, warum ...“
„Darum“, sagte er.
„Aber deine schönen Haare, Bernd. Und überhaupt, was wird Lea dazu sagen?“
„Lea gehen meine Haare einen Scheissdreck an!“
„Und ich?“, sagte Franzi. „Ich fände es auch nicht gut, wenn du ne Glatze hättest.“
„Deine Meinung interessiert mich mal überhaupt nicht.“
Er parkte den Wagen in der Einfahrt und stieg aus. Die Regentropfen klopften kühl und erfrischend auf seine Schädeldecke, und er fühlte sich fast lebendig.
Er hörte die trampelnden Trippelschritte seiner kleinen Tochter, als er die Haustür aufsperrte. „PapiPapiPapi!“, stürmte sie auf ihn zu. „Ich hab ...“
Das kleine Mädchen blieb mit offenem Mund drei Meter vor ihm stehen und starrte ihn an. Dann brach es in lautes Lachen aus, drehte sich um und stürmte davon. „MamiMamiMami!“, hörte er sie rufen. „Papihat, Papihat, Papihat, Papihat ...“
Er hängte seinen Trenchcoat auf und zog die Schuhe aus. Er ging ins Wohnzimmer, schenkte sich aus der grünen Flasche ein, nahm einen Schluck und liess sich, die Flasche und das Glas in der Hand, auf die Couch sinken. Aus der Küche drang die aufgeregte Stimme seiner Tochter. Die Stimme seiner Frau hörte er nicht. Dann hörte er Schritte, Schritte von zwei paar Füssen, die näher kamen.
„Gott, Bernd!“, hörte er im Rücken seine Frau sagen.
„Habichnichtgesagt! Habichnichtgesagt! Habichnichtgesagt!“ Das kleine Mädchen sprang neben ihn auf die Couch und deutete mit dem Zeigefinger auf seine Glatze. „Hab ich nicht gesagt! Er sieht aus wie Onkel Uli! Und da!“, sagte das Mädchen und zeigte auf die grüne Flasche. „Papi trinkt auch wieder aus der grünen Flasche, obwohl heute Dienstag ist. Und unter der Woche soll Papi doch nicht aus der grünen Flasche trinken.“
„Ja, Süsse“, sagte seine Frau. „Du hast ja recht.“
„Ich hab recht“, sagte das Mädchen und kniff ihm ins Ohrläppchen. Diesmal zuckte er nicht den Kopf weg. „Komm jetzt, Süsse“, sagte seine Frau. „Hilf Mami in der Küche.“
„Nein“, sagte das Mädchen und wälzte sich über seinen Schoss.
„Na schön“, sagte seine Frau und zuckte mit den Schultern. „In einer Viertelstunde ist das Essen fertig. Habt ihr gehört?“
„Ja“, sagte seine Tochter.
„Bernd?“
„Ja“, sagte er, stellte die Flasche und das Glas weg, packte das Mädchen unter den Achseln und setzte sie sich auf den Schoss.
„Ich hab eine Eins in Mathe“, sagte das Mädchen. „Warum siehst du aus wie Onkel Uli?“
„Gut gemacht“, sagte er und stemmte das Mädchen in die Höhe, dass es sich vor lauter Lachen nicht mehr einkriegte.
„Dein Kopf sieht komisch aus von oben“, sagte es. „Ich will darauf sitzen!“
Er balancierte das Mädchen über seinen Kopf und setzte dann ihren Hintern auf seinen Kopf. Ihre Füsse standen auf seinen Schultern. „Ich hab eine Eins in Mathe“, sagte das Mädchen.
„Bravo“, sagte er und klatschte ihre Hände wie ein Puppenspieler zusammen.
„Bravo“, lachte das Mädchen und glitt den Hinterkopf hinab auf seine Schultern. Das Mädchen umfasste seine Stirn mit den Händen und schmatzte ihm einen feuchten Kuss auf den markanten Schädelknochen am Scheitel, der wie ein spitzer Hügelkamm aufragte und ihm selbst erst von einer Stunde zum ersten Mal aufgefallen war. Er fasste sie an den Knöcheln und betrachtete ihre kleinen Füsse, die in grün-blau-rot-weiss geringelten Söckchen steckten.
„Warum siehst du aus wie Onkel Uli?“, sagte das Mädchen.
„Weil ich Onkel Uli cool finde.“
„Find ich nicht.“
„Ich aber.“
„Ich aber nicht.“ Er griff ihren linken Knöchel und kitzelte mit der anderen Hand ihre Fusssohle. Das Mädchen lachte, zuckte, und trommelte mit den Händen abwehrend auf seinen Schädel. „Hör auf! Hör auf!“, lachte es. „Oder ich pinkel dich an!“
Er zog sie über die Schulter und setzte sie wieder auf seinen Schoss. „Schön, ich geb auf“, sagte er.
Sie schmiegte ihren Kopf unter sein Kinn und sagte: „Gut, weil sonst hätte ich dich angepinkelt.“
„Nicht deswegen“, sagte er. „Deswegen, weil Onkel Uli nicht cool ist.“
„Ist er nicht, gell?“
„Nein, aber das bleibt unser Geheimnis, ja?“
„Ja“, sagte das Mädchen, verdrehte den Kopf und sah von unten an seinen Nasenlöchern vorbei in seine Augen. „Warum trinkst du aus der grünen Flasche?“
„Ich trink doch gar nicht.“
„Jetzt nicht. Aber vorhin.“
„Zeig mal deine Eins in Mathe“, sagte er. „Ich will die Eins mit dir gemeinsam ansehen.“
„Mach ich“, sagte das Mädchen und sprang auf. „Neben der Eins hat mir Frau Schneider ein Bambi geklebt. Als Extralob“, hörte er sie noch rufen, dann stand er auf und folgte seiner Tochter in die Küche.
„Du Spinner, du“, sagte seine Frau, als sie aus dem Bad ins Schlafzimmer trat und sich neben ihn ins Bett legte. „Was hast du dir dabei gedacht?“
„Ich kann auf der Couch schlafen, wenn du willst?“
„Nein. Ich will wissen, was du dir dabei gedacht hast?“
„Gar nichts. Ich hab sie einfach überfahren.“
„Was?“
„Franzi meinte, es würde meinen Typ unterstreichen.“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Als Friseuse muss sie Männer mit Glatze hassen.“
„Ja“, sagte er. „Muss sie wohl, trotzdem ...“
„Was?“
„Trotzdem hat sie mir die Haare geschnitten“, sagte Bernd, stopfte das Kopfkissen in seinen Rücken und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich will nicht, dass du im Bett rauchst.“
„Mach einfach das Fenster auf.“
„Ich mach das Fenster NICHT auf.“
„Schön“, sagte er und blies den Rauch in Richtung Bettpfosten.
„Morgen stinkt alles.“
Er stand auf, öffnete das Fenster und legte sich, die brennende Zigarette im Mund, zurück ins Bett.
„Was sie auf der Arbeit wohl dazu sagen werden?“, sagte seine Frau. „Ich meine ...“, sagte sie und legte eine Illustrierte auf ihren Schoss und begann darin zu blättern. „Ich meine, die werden sich sicher fragen, warum ...“
„Ist mir scheissegal, was die in der Arbeit denken“, sagte er.
„Echt beruhigend zu wissen, dass dir Alles scheissegal ist.“
„Nicht Alles.“
„Ach komm, Bernd“, sagte seine Frau und hielt eine Seite der Illustrierten etwa zehn Sekunden in der Senkrechten, bevor sie umblätterte. „Zu welchem Zeitpunkt unserer Ehe kamen wir an die Kreuzung, an der wir uns voneinander entfernten?“
„Was?“
„Du weisst sehr gut, wovon ich rede.“
„Nein“, sagte Bernd und drückte die Zigarette aus.
„Also schön“, sagte seine Frau und klappte die Illustrierte zu. „Warum erzählst du mir dann nicht, warum du jetzt mit einer Glatze neben mir im Bett liegst?“
„Weil es mir gefällt.“
„Mir gefällt es nicht.“
„Ich hab dich auch nicht nach deiner Meinung gefragt“, sagte er.
„Schön“, sagte seine Frau.
„Schön“, sagte er. „Ich wollte schon immer eine Glatze haben. Und ich denke, dass mein Haar meine Sache ist. Und heute habe ich mir gedacht: Scheiss drauf!“
„Scheiss drauf?“
„Ja, Scheiss drauf. Und dann hab ich mir die Glatze rasieren lassen, obwohl ich wusste, dass du wieder an meiner Entscheidung was zu meckern haben wirst.“
„Solange du dir die Haare nachwachsen lässt, habe ich nichts zu meckern.“
„Du meckerst gerade.“
„Ich meckere nicht“, sagte seine Frau. „Ich sag nur, dass du mir mit Haaren besser gefällst.“
Es entstand eine Pause. Draussen hörte man ein vorbeifahrendes Auto, und er stand auf, um das Fenster zu schliessen. Er zog seinen Schlafanzug aus und kroch nackt zurück unter die Bettdecke.
„Heute ist Dienstag“, sagte er und küsste seine Frau auf das Schlüsselbein. Sie richtete sich am Kopfkissen auf und sah ihn abschätzig an. Er zog mit den Zähnen die Bänder ihres Nachthemdes lang.
„Du Spinner, du“, sagte sie.
„Um halb sieben muss ich aufstehen“, sagte er und wischte die Illustrierte von ihrem Schoss. Später lag ihr Kopf auf seiner Brust und seine Hand streichelte über ihren Rücken. Sie fasste ihn am Kinn, drehte seinen Kopf etwas und drückte ihm einen Kuss auf die Backe.
„Du bist echt ein Spinner“, flüsterte sie und kämmte mit den Fingern durch seine Brusthaare.
Am nächsten Tag stand es nicht in der Zeitung, erst am Donnerstag. Die Frau war eigentlich noch ein Mädchen. Siebzehn Jahre wurde es alt. Die Polizei sucht nach Zeugen.
Maria L.
Er klappte die Zeitung zu und warf sie in den Mülleimer. Nach der Arbeit fuhr er zu Franzis Directors Cut. Heute war Donnerstag, und Donnerstagabend schloss Franzi den Laden früher als gewöhnlich.