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Angst
„Das ist nicht fair!“
„Du musst endlich erwachsen werden, verdammt. Du kannst doch nicht immer hier bleiben, du bist 21 Jahre alt. In deinem Alter hatte ich schon Frau und Kind, für die ich sorgen musste.“
„Aber das waren andere Zeiten, du kommst aus einer anderen Kultur. Jetzt ist alles anders.“
„Nichts ist anders, Anis. Man muss immer noch genau so hart arbeiten, um etwas zu werden. Und je früher du das erkennst, umso besser ist es für dich, mein Sohn. Du bist ein Mann. Wo ist deine Ehre? Wo ist dein Stolz? Es ist dein Leben, nimm es in die Hand.“
Um Ehre und Stolz ging es mir tatsächlich nie. Ich war nicht wie mein Vater. Ich war nicht wie alle anderen, ich war ich. War ich falsch?
Mein Vater war in den 80ger Jahren nach Deutschland gekommen, um Maschinenbau zu studieren. In seiner Schulzeit war er immer der Beste, sein Zeugnis war übersäht mit lauter strammen Einsen. Keine einzige Zwei störte die Harmonie der Perfektion. Wieso konnte ich das nicht? Wieso kam ich jedes Jahr grad noch so in die nächste Klasse, mit einem miesen Dreier-Schnitt und dem ständigen Mahnton meiner Lehrer: „Mensch Anis, du kannst doch mehr. Wieso tust du nichts? Wird wieder nur eine 4. Schade.“
Ich sah einfach keinen Sinn darin, mich anzustrengen. Wofür denn auch? Ich war ein Ausländer, egal wie gut mein Zeugnis war, das erste was sie sahen, war mein Namen – Anis Omar. Ein Araber, ein Terrorist, was sonst? Nach dem 11 September 2001 hatte sich mein Leben verändert. Die Leute hatten Angst vor dem Islam, Angst vor den Muslimen, Angst regierte ihr Leben.
Angst verändert Menschen, sie frisst sie von innen auf, wie ein Parasit nagt sie sich durchs Fleisch, sie befällt Nerv um Nerv, bis der Mensch, wie eine Marionette von ihr geführt wird. Und die Fäden werden immer kürzer, immer dünner, bis man irgendwann zu einem Klumpen zusammengerollt, in einer Ecke liegt und keine Bewegung mehr wagt, keinen Mucks von sich gibt, nur das Herz schlägt leise einen monotonen Rhythmus – den Rhythmus der Angst.
Ich hatte auch Angst, aber ich lernte sie zu beherrschen. Der Gedanke daran, dass andere noch mehr Angst hatten, beruhigte mich irgendwie. Ich fühle mich besser, wenn ich mich überlegen fühlte. Das war mein Trick, um die Angst zu besiegen.
Ich stellte mir vor, ich sei besser als mein Gegenüber, klüger und schöner. Und es funktionierte. Ich wurde zu dem, was ich ausstrahlte. Die Leute sahen nicht den schwachen, unsicheren Anis, sie sahen nur eine Maske, eine goldene, strahlende Maske, die jeden bei ihrem Anblick blendete und das gefiel mir.
Aber mein Vater kannte mich, ihm konnte ich nichts vormachen, er las mich wie ein offenes Buch und das, was er las, gefiel ihm nicht.
„Ich habe ein Zimmer für dich gemietet. Für den nächsten Monat bekommst du Geld, dann musst du allein zurechtkommen. Die Miete werde ich auch nur diesen Monat übernehmen. Es ist nur zu deinem Besten, glaub mir, du wirst mir noch dafür danken.“
So entschlossen hatte ich meinen Vater noch nie erlebt. So entschlossen und so kalt. Er war nie besonders davon begeistert, dass ich nach meinem Abitur nichts gemacht habe. Er wollte, dass ich in seine Fußstapfen trete und Maschinenbauingenieur werde,
gutes Geld verdiene und einen sicheren Job habe. Aber ich wollte das nicht. Das war nicht das, was ich mein Leben lang machen wollte. Acht Stunden im Büro sitzen, dann nach Hause, schlafen gehen, in der Erwartung des nächsten Tages, der dem Vorigen genau glich. Nein, das war kein Leben. Das war Sklaverei.
Meine Mutter saß neben meinem Vater und schaute zu Boden. Sie weinte.
Der Zug brachte mich nach Münster. Eine ausgeleierte Sporttasche war mein einziger Begleiter. In der Tasche hatte ich 300 Euro, die mein Vater mir als „Starthilfe“ mitgegeben hatte. Der Bahnhof war voller Menschen, die sich beeilten, irgendwohin rannten oder da standen und nervös auf die Anzeigetafel starrten. Manche schauten mich komisch an. Was hat er da in der Tasche? Eine Bombe? Sieht doch schon genau so aus wie diese Terroristen? Eine ältere Dame musterte mich skeptisch aus dem Augenwinkel. Ich versuchte die Blicke zu ignorieren und machte mich auf den Weg zu den Taxiständen.
Die Stadt zog mit 50 km/h an mir vorüber. Alles sah wie zu Hause aus. Alles war fremd. Dieses Land mochte mich nicht und ich mochte es auch nicht. Zwar wurde ich hier geboren aber es war nicht meine Heimat. Wo war meine Heimat? Ich wusste es nicht.
Das Taxi stoppte an einem schäbig aussehenden Haus. Die Fassade hatte stellenweise die Farbe verloren und einzelne Ziegelsteine waren zu sehen. Da war ich also. Home, sweet home.
Mein Zimmer sah genauso einladend, wie die Hausfassade aus. Auf dem Boden lag eine Matratze, neben der ein Stuhl stand. Am Fenster stand ein alter Bürotisch, welcher die sporadische Einrichtung komplettierte.
Eine Kakerlake huschte über meinen neuen Schlafplatz und verschwand darunter.
„Na, wenigstens ein Mitbewohner ist da“, sagte ich mir, während ich die Tür hinter mir schloss.