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Angst
Sie sitzt mit dem Rücken an der Wand. Wie oft in ihrem Leben ist sie von den Ereignissen an die Wand gedrückt worden, schutzsuchend, verloren. Der Blick in die unendliche Weite des winzigen Zimmers ihrer Großstadtwohnung gerichtet, festgemacht an einer Mauer. Eine Nacht wie viele zuvor.
Die Überreste des Pappkartonessens, eine Salatmischung mit einer undefinierbaren weißen Sauce übergossen, die sich laut Aufschrift irgendwann in der Verarbeitung mit einem Tropfen Joghurt vermählt haben soll, verbreiten keinen unangenehmen Geruch. Haltbar gemacht für die Ewigkeit die doch keiner will, nicht in dieser erprobten Form.
Das Fenster wirft im Licht der Straßenbeleuchtung tanzende, unzählige Schneeflocken als Negativ auf die ihr gegenüberliegende Wand. Es ist wie ein bewegtes Gemälde, erinnert sie an Stürme die sich einem entgegenwerfen und trotz allem Aufbegehren keinen Schritt möglich machen. Die weißen Schneeflocken im Außen werden zu schwarzen Tränen im Inneren. Zu müde ist sie um zu erkennen, dass sie im Bild an der Wand nur das Spiegelbild ihrer Seele wahrnimmt.
Soviel Lebenshunger war da, soviel Leidenschaft und der Wunsch nach Erfüllung. Die Suche nach Zärtlichkeit und Wärme ließ sie doch immer wieder die starken Arme gewaltreicher Männer finden. Dass höhere Mächte ihr das Kind genommen hatten, noch bevor es den ersten eigenen Atemzug in seine Lungen holen konnte trafen eine weise Entscheidung. Sie hätte unbedingt alle Liebe geben wollend dem Kind diese einfach umgestülpt, ungefragt, ungebraucht. Hätte ihm den Atem der Eigenständigkeit herausgepresst um die eigenen Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Durch das vielleicht gnädige Schicksal wurde das Ungeborene der Aggressivität des Vaters entzogen. Musste es seine Schläge nicht stellvertretend für jene aushalten, denen er sich nicht zu stellen wagte, Zeit seines Lebens. Brauchte die abwertenden Worte nicht hören durch die er gewohnt war sich eine erhöhte Position zu verschaffen.
Von all diesen Gedanken muss sich die Frau, an der Wand lehnend, ablenken. Mit Stolz lässt sie diese Gedanken ziehen, hin zu den behinderten Menschen denen sie nach und nach immer mehr von ihrer Liebesbereitschaft widmete. In der Stille des Zimmers löst sich der Stolz in Einsicht auf. Nicht diese Menschen brauchten sie in all der Zeit, sondern sie brauchte diese Menschen. Durch sie erhielt sie eine Möglichkeit ihre ungelebten Gefühle irgendwo ankommen zu lassen. War sie nun die Helfende oder nützte sie schamlos die Not anderer um ihr eigenes Vakuum zu füllen?
Die Augen tränen einmal mehr in dieser Nacht und die Lider werden schwer. Ein befreiender Traum von erfüllten Sehnsüchten nimmt sie auf und schenkte ihr entspannenden Schlaf bis sie das Einstecken eines Schlüssels im Türschloß draußen am Flur erstarren lässt.
Da war sie wieder, die wie ein Tier im hintersten Winkel ihrer Seele immer lauernde Angst. Die Angst die sie seit ihrer Kindheit verfolgte und ihr ganzes Leben nicht mehr verlassen hatte. Sie vernimmt Geräusche im Zimmer nebenan, konzentriert sich völlig angespannt auf die kaum hörbaren Stimmen. Wie kann sie dem Geschehen entgehen? Gehetzt flackert ihr Blick aus unsteten Augen. Die Tür öffnete sich fast geräuschlos und der Schatten eines Mannes erscheint und lässt die Frau im Bett eine verängstigte und zusammengerollte Position einnehmen, die ihre Haut über die hart hervortretenden Knochen spannt.
„Ganz ruhig Oma, wir machen das schon“. Sie war ihnen ausgeliefert den Exekutern ihrer einsamen aber im Alter endlich verdienten Freiheit. Die Heimhelferin die ihr immer schon suspekt war in ihrer gespielten Freundlichkeit weist nochmals drauf hin, dass niemand da ist der sich kümmert, jetzt wo der Mann nicht mehr lebt. Sie nimmt die Tasche mit den paar Kleinigkeiten der Frau auf, hergerichtet für den Weg zum letzten Zuhause ihres Lebens, den Pav. V im Pflegeheim Lainz.
Einmal noch wird sie sich aufbäumen, ihre ganze Würde zusammennehmen bevor sie in dem zahnlosen Heer nachthemdentragender Mithäftlinge ihre Identität nach und nach verlieren wird.