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Angst

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08.08.2002
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Angst

Sie sitzt mit dem Rücken an der Wand. Wie oft in ihrem Leben ist sie von den Ereignissen an die Wand gedrückt worden, schutzsuchend, verloren. Der Blick in die unendliche Weite des winzigen Zimmers ihrer Großstadtwohnung gerichtet, festgemacht an einer Mauer. Eine Nacht wie viele zuvor.

Die Überreste des Pappkartonessens, eine Salatmischung mit einer undefinierbaren weißen Sauce übergossen, die sich laut Aufschrift irgendwann in der Verarbeitung mit einem Tropfen Joghurt vermählt haben soll, verbreiten keinen unangenehmen Geruch. Haltbar gemacht für die Ewigkeit die doch keiner will, nicht in dieser erprobten Form.

Das Fenster wirft im Licht der Straßenbeleuchtung tanzende, unzählige Schneeflocken als Negativ auf die ihr gegenüberliegende Wand. Es ist wie ein bewegtes Gemälde, erinnert sie an Stürme die sich einem entgegenwerfen und trotz allem Aufbegehren keinen Schritt möglich machen. Die weißen Schneeflocken im Außen werden zu schwarzen Tränen im Inneren. Zu müde ist sie um zu erkennen, dass sie im Bild an der Wand nur das Spiegelbild ihrer Seele wahrnimmt.

Soviel Lebenshunger war da, soviel Leidenschaft und der Wunsch nach Erfüllung. Die Suche nach Zärtlichkeit und Wärme ließ sie doch immer wieder die starken Arme gewaltreicher Männer finden. Dass höhere Mächte ihr das Kind genommen hatten, noch bevor es den ersten eigenen Atemzug in seine Lungen holen konnte trafen eine weise Entscheidung. Sie hätte unbedingt alle Liebe geben wollend dem Kind diese einfach umgestülpt, ungefragt, ungebraucht. Hätte ihm den Atem der Eigenständigkeit herausgepresst um die eigenen Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Durch das vielleicht gnädige Schicksal wurde das Ungeborene der Aggressivität des Vaters entzogen. Musste es seine Schläge nicht stellvertretend für jene aushalten, denen er sich nicht zu stellen wagte, Zeit seines Lebens. Brauchte die abwertenden Worte nicht hören durch die er gewohnt war sich eine erhöhte Position zu verschaffen.

Von all diesen Gedanken muss sich die Frau, an der Wand lehnend, ablenken. Mit Stolz lässt sie diese Gedanken ziehen, hin zu den behinderten Menschen denen sie nach und nach immer mehr von ihrer Liebesbereitschaft widmete. In der Stille des Zimmers löst sich der Stolz in Einsicht auf. Nicht diese Menschen brauchten sie in all der Zeit, sondern sie brauchte diese Menschen. Durch sie erhielt sie eine Möglichkeit ihre ungelebten Gefühle irgendwo ankommen zu lassen. War sie nun die Helfende oder nützte sie schamlos die Not anderer um ihr eigenes Vakuum zu füllen?

Die Augen tränen einmal mehr in dieser Nacht und die Lider werden schwer. Ein befreiender Traum von erfüllten Sehnsüchten nimmt sie auf und schenkte ihr entspannenden Schlaf bis sie das Einstecken eines Schlüssels im Türschloß draußen am Flur erstarren lässt.

Da war sie wieder, die wie ein Tier im hintersten Winkel ihrer Seele immer lauernde Angst. Die Angst die sie seit ihrer Kindheit verfolgte und ihr ganzes Leben nicht mehr verlassen hatte. Sie vernimmt Geräusche im Zimmer nebenan, konzentriert sich völlig angespannt auf die kaum hörbaren Stimmen. Wie kann sie dem Geschehen entgehen? Gehetzt flackert ihr Blick aus unsteten Augen. Die Tür öffnete sich fast geräuschlos und der Schatten eines Mannes erscheint und lässt die Frau im Bett eine verängstigte und zusammengerollte Position einnehmen, die ihre Haut über die hart hervortretenden Knochen spannt.

„Ganz ruhig Oma, wir machen das schon“. Sie war ihnen ausgeliefert den Exekutern ihrer einsamen aber im Alter endlich verdienten Freiheit. Die Heimhelferin die ihr immer schon suspekt war in ihrer gespielten Freundlichkeit weist nochmals drauf hin, dass niemand da ist der sich kümmert, jetzt wo der Mann nicht mehr lebt. Sie nimmt die Tasche mit den paar Kleinigkeiten der Frau auf, hergerichtet für den Weg zum letzten Zuhause ihres Lebens, den Pav. V im Pflegeheim Lainz.

Einmal noch wird sie sich aufbäumen, ihre ganze Würde zusammennehmen bevor sie in dem zahnlosen Heer nachthemdentragender Mithäftlinge ihre Identität nach und nach verlieren wird.

 

Ich freue mich aufrichtig über deine Worte. Wenn der Titel, der ja vielleicht nicht sehr anregend ist hinzuschauen, runterrutscht auf der Liste, denke ich wie schade, dass es keiner liest. Danke, du hast es getan. Lieben Gruß an dich schnee.eule

 

Hallo Schnee Eule,

Diese Geschichte ist so "schön-traurig"
Ich möchte nicht, daß sie so schnell nach unten fällt.

Vielleicht schaffe ich es ja auch einmal die Arktis zum schmelzen zu bringen!!

Liebe Grüße Archetyp

 

Lieber Archetyp!
Das ist lieb von dir meine Geschichte vor dem Untergang zu bewahren. Freu mich schon auf die Überschwemmung durch deine Worte, wenn die Arktis bricht und sich über uns ergießt. Lieben Gruß - Schnee.eule

 

Hey, schnee.eule!

Ich bin wirklich beeindruckt von der Story. Zum einen schreibst du in fantastischen Bildern, so dass mir die Geschichte wie ein Film vor den Augen ablief.

Und zum anderen ist das Thema mutig gewählt. Ich arbeite zur Zeit als Aushilfe in einem Altenpflegeheim, in dem ich auch meinen Zivildienst geleistet habe. Daher weiß ich, wie verängstigt oder hilflos neue Heimbewohner manchmal sind. Und wie schnell auch die Identität eines Menschen verloren gehen kann.

Gerade in der heutigen Zeit, wo im Bereich der Pflege überall Personalmangel herrscht und man kaum Zeit hat, sich individuell um die Leute zu kümmern. Daher empfinde ich deine Geschichte als eine gute Erinnerung daran, dass wir auch die älteren Mitglieder unserer Gesellschaft nicht vergessen sollten.

Nichts ist schöner als das Lächeln eines anderen Menschen, der merkt, dass man sich um ihn kümmert und dass er eben noch nicht seine Identität verloren hat. Ich spreche da aus Erfahrung :)

CU,
der_Karl.

 

Lieber Karl!
Danke, es freut mich, wenn meine Geschichte dich mit Bildern beeindrucken konnte.
Diese Menschen verfügen über keinerlei persönliche Ausdrucksformen wie Kleidung oder Wohnungsstil. Sie besitzen keine Intimität mehr, werden Teil der Öffentlichkeit einer Anstalt. Da kann die Selbstachtung leicht verloren gehen. Das vertraulich anmaßende "du" und das "Oma" fremder Leute tun das ihrige.
Wie schön, wenn es Menschen wie dich gibt, dem das Lächeln eines alten Menschen wichtig ist der um seine Würde ringt.
Liebe Grüße an dich - schnee.eule

 

Hallo und schönen Montag, schnee.eule,

deine Geschichte ist beeindruckend geschrieben, fast wie gezeichnet.
Alles ist darin verpackt. Die schweren Spachtelungen der Ölfarbe, aber auch der feine Tuschestrich. Sehr schön gemacht.

Ein Satz macht mir Verständnisprobleme:
,Dass höhere Mächte ihr das Kind genommen hatten, noch bevor es den ersten Atemzug in seine Lungen holen konnte trafen eine weise Entscheidung.'
Ist da was hineingerutscht, was nicht dazugehört?

Mir fiel auch auf, dass du Zeiten nicht konsequent durchhältst.
Z.B.,Ein befreiender Traum...und SCHENKT ihr entspannenden Schlaf..
Gehetzt flackert ihr Blick...Die Tür ÖFFNET sich fast..

Ganz liebe Grüße - Aqualung

 

guten morgen schnee.eule, ich habe deine geschichte jetzt im abstand von drei tagen drei, oder viermal durchgelesen. wie die kritiker vor mir schon richtig bemerkten, ist deine sprache sehr bilderreich. allerdings, muss ich leider sagen, ist die geschichte dadurch für mich schwierig zum lesen geworden. ich bin mir sogar jetzt noch nicht ganz sicher, ob ich die handlung ganz richtig verstanden habe: die protagonistin ist mit einem gewalttätigen mann verheiratet; gemeinsames kind stirbt bei oder vor der geburt; mann stirbt; protagonistin wird pflegerin (oder was ähnliches) für behinderte und konzentriert ihre liebe auf diese hilfsbedürtigen menschen; wird selber glücklich dabei; protagonistin wird in ein altenheim abgeschoben und wird dort unglücklich. sorry für den telegrammstil - aber trifft das die sache im wesentlichen?

Nun ein paar details, die mir aufgefallen sind

Sie sitzt mit dem Rücken an der Wand. Wie oft in ihrem Leben ist sie von den Ereignissen an die Wand gedrückt worden,
- wäre es nicht eindrücklicher gewesen, wenn sie an der wand GESTANDEN wäre (statt sitzen)? das entspräche dem sprichwort "man steht mit dem rücken zur wand" mehr.

liebe grüße. ernst


Mit Stolz lässt sie diese Gedanken ziehen, hin zu den behinderten Menschen denen sie nach und nach immer mehr von ihrer Liebesbereitschaft widmete. In der Stille des Zimmers löst sich der Stolz in Einsicht auf.
- das finde ich schade: wenn sich der stolz AUFLÖST, wird der in Summe weniger; dabei müsste er doch eigentlich MEHR werden, wenn er zur einsicht aufsteigt.

Sie hätte unbedingt alle Liebe geben wollend dem Kind diese einfach umgestülpt, ungefragt, ungebraucht.
- was meinst du mit diesem satz?

 

Morgen Schnee.Eule,

mir hat deine Geschichte ebenfalls sehr gut gefallen. Die beschwörst fein gezeichnete Bilder, die einem unter die Haut gehen.

Eine traurige - realistische - Alltagsgeschichte.

Grüße!

 

Lieber Aqualung !

Du hast zielgenau 2 schwächen aufgedeckt. Zum einen bin ich in meinem bestreben nach dem weiter oft auf meine inneren bilder, auf meine gefühle fixiert und es kommt zu satzbaustellen. zum anderen ist es mangelnde konzentration und fehlende disziplin durch welche ich in der zeitform ab und an irre - aber darin bin ich dann schon sehr konsequent !
dein vergleich mit den mal- und zeichentechniken hat mich sehr gefreut.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

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Lieber Ernst Clemens!

Du hast im telegrammstil die geschichte gut erfasst, abgesehen von deinen glücksinterpretationen. war sie glücklich bei ihrer arbeit mit den behinderten oder nur befriedigt? ob sie im heim unglücklich wird hängt davon ab wie sie dort mit den gegebenheiten umgehen lernt, das erfahren wir in der geschichte nicht mehr. der ausblick wir eröffnet und ist nicht rosig, aber....

Sitzen/stehen
Ich sehe die Frau tatsächlich sitzen, denn sie ist eine betagte frau welche vom schicksal ziemlich gefordert wurde, sie hat keine standfestigkeit mehr. sie steht nicht mit dem rücken an der wand, sie lehnt im sitzen um sich überhaupt aufrecht zu halten.

zitat Stolz/Einsicht:
ich sehe es nicht so, dass der stolz sich vermehren müsste durch diese einsicht. ich denke, dass sie zur einsicht kommt auf etwas stolz gewesen zu sein, das in wahrheit ein nehmen und nicht ein geben war. diese einsicht relativiert den stolz auf ihre arbeit, sie erhöht ihn nicht.

frage zur umgestülpten liebe:
es ist dasselbe prinzip wie bei ihrer arbeit mit behinderten. sie möchte einfach liebe geben und sucht sich dafür bedürftige. liebe äußert sich in vielerlei art, auch durch überbehütung, durch "bitte liebe mich auch" oder einengung der freiheit von kindern weil die mütter sie zum liebe geben "brauchen", vielleicht sogar missbrauchen. An so eine mutter die nicht nach den ansprüchen des kindes fragt, sondern sich die befriedigung ihrer eigenen bedürfnisse von ihren kindern holt, dachte ich beim schreiben.

Lieben gruß an dich - schnee.eule


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Liebe Liz !

Ich freue ich ganz besonders, wenn du die bilder hinter den worten siehst. denn meine sätze entstehen immer erst nach dem bild welches vor meinem geistigen auge entsteht. und wenn diese bilder deine haut durchdringen ist das sehr schön für mich .

Liebe grüße an dich - schnee.eule

 

guten morgen schnee.eule, deine begründungen kann ich weitgehend nachvollziehen und somit akzeptieren. danke dir dafür. bei der "umgestülpten liebe" hatte ich eigentlich nur ein problem mit dem wort "umgestülpt". ist das österreichischer dialekt? heisst das in hochdeutsch nicht "übergestülpt"? ich wünsche dir einen schönen tag. ernst

 

Servus Ernst Clemens !
Ich denke schon. Das Wort ist mir zu sehr vertraut. Ich glaube nicht, damit eine Eigenkreation geschaffen zu haben.
Lieben Gruß schnee.eule

 

Liebe Schnee.Eule!

Diese Geschichte hast du ganz wunderbar geschrieben! Ich finde deinen Stil sehr schön!
Liebe Grüße, Sonnenfrau

 

Liebe Sonnenfrau !
Vielen Dank für deine positive Reaktion.
Lieben Gruß - schnee.eule

 

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