Angst
Den ganzen Tag schon spüre ich es. Vormittags war es noch in Ordnung, da konnte ich mich ablenken, aber schon nach dem Mittagessen habe ich gemerkt wie es stärker wurde. Dieses Gefühl, dass die Welt um mich herum allmählich unwirklich wird, dass ich mich danach sehne, den Schmerz zu spüren, der mir versichert, noch am leben zu sein...
Ich halte es nicht mehr aus, ich kann es einfach nicht mehr, und obwohl in meinem Kopf eine leise Stimme sagt, dass es eine Niederlage ist, tue ich es wieder.
Der Messerschaft fühlt sich kühl an in meiner Hand an, fest und beruhigend... der Lampenschein fällt auf die Klinge, lässt sie aufgleißen.
Ein kleiner Schnitt, nicht mehr als ein dünner Strich auf meiner Haut, der kaum auffällt zwischen den anderen Narben, kaum ein Schmerz, aber ich bin jetzt ganz ruhig und koste jeden Moment aus. Da, nun treten drei, vier kleine Bluttropfen hervor, ganz zaghaft wachsen sie und ich begrüße sie in der Freiheit. Zu wenig... schon bald sind sie erstarrt und ein neuer Schnitt, gleich daneben, ein wenig länger, ein wenig tiefer... endlich läuft ein kleines rotes Rinnsal meinen Arm hinab, das ist der Anblick, auf den ich all die Stunden gewartet habe... ein leises Brennen... zu wenig... ein drittes Mal lasse ich die Klinge über die Haut wandern, langsam und mit geschlossenen Augen, um mich vollkommen auf den Augenblick konzentrieren zu können...
Endlich kann ich frei atmen... diese Last ist verschwunden... Klarheit tritt an ihre Stelle und ich nehme alles deutlicher wahr als zuvor... der leichte Geruch nach Kaffee der von der Tasse aufsteigt wird mir jetzt erst richtig bewusst, und ich kann mich nicht sattsehen an dem leuchtenden Rot meines Lebens.
Fasziniert beobachte ich einen einzelnen Tropfen, der zu Boden stürzt, dort vom Teppich aufgesogen wird... ein zweiter folgt ihm... Halt. Keine Flecken. Ein Stück Zeitung ausgebreitet - blöde Unterbrechung- und noch ein kleiner Schnitt.
Dieses Rot... erst hat es eine strahlende Farbe voller Frische... dann wird es dunkler, fast schon sinnlich... ehe es allmählich gerinnt. Gebannt starre ich dieses Schauspiel an, mir nur am Rande bewusst, dass meine Hand immer wieder hin- und herschneidet, ganz leicht nur die Haut aufreißt, grade so tief, dass neues Blut fließt...
Mir wird warm... ich fühle den Schmerz...sehe mein Blut...es geht mir gut.... das ist jetzt genau der Moment, an dem alles so ist, wie es immer sein sollte...
Dann geht es bergab.
Ich merke plötzlich, dass Blut auf mein Matheheft getropft ist, und eilig zerre ich es weg. Da ist noch mehr Blut. Es ist auf einmal überall, es ist meinen Arm hinab gelaufen, der Pulli ist ebenso voll davon wie meine Hose, ein Glück dass das bei Schwarz nicht so auffällt, aber es wird immer mehr, es ist wie eine Art Erwachen aus einem Rauschzustand und wahrscheinlich ist es auch nichts anderes, ich blicke meinen Arm an und sehe, dass aus unzähligen Wunden Blut sickert, aus manchen mehr, aus manchen weniger, aber es läuft und mit einemal erschrecke ich doch über das, was ich getan habe, soviel war es noch nie... was soll ich tun...
Ich weiß jetzt nicht mehr, was genau mir dann durch den Kopf gegangen ist, aber auf jeden Fall erschien mir alles plötzlich so sinnlos, das ganze Abstrampeln all die Tage für nichts und wieder nichts, jede kleine Enttäuschung kam mir wieder hoch, und es erschien mir plötzlich so einfach... der Weg breitete sich vor mir aus, und ich musste ihn nur noch beschreiten... warum hatte ich das nicht schon eher gemacht, was war ich doch blind gewesen... So kurz stehe ich nun davor... endlich... ich würde diese ganzen Probleme nicht mehr haben... nie wieder.... ein Schnitt. Noch ein Schnitt. Und dann überkommt mich der Hass, auf alles und jeden und vor allem auf mich selber, ich hasse mich für all die Dinge die ich falsch gemacht habe... ich lasse das Messer tanzen, ein wütender Tanz auf meiner Haut, in meine Haut, durch meine Haut; ich spüre den Schmerz nicht, ich sehe das Blut nicht.
Und dann ist es vorbei. Da ist nichts mehr in mir drin, was ich fühle, außer Leere und Erschöpfung. Ich schließe die Augen und atme ein paar Mal tief durch, und als ich sie wieder öffne, sehe ich all das Blut, es ist so verdammt viel, überall, auch auf dem Matheheft welches ich vorhin beiseite geschoben hatte; mein erster Gedanke ist scheiße, nicht da drauf, und dann, mit erschreckender Klarheit: was ist schon ein Matheheft - ich bin zu weit gegangen, das ist zuviel Blut, dass kann unmöglich gut gehen, SCHEIßE!
Was mir grade eben noch so verheißungsvoll erschienen war, mein Blut strömen zu sehen und bald nichts mehr fühlen zu müssen, erfüllt mich jetzt mit jähem Schrecken und ich fange an zu zittern. Überhaupt ist mir plötzlich so etwas von kalt, wie ich es schon lange nicht mehr gespürt habe... und es läuft... rot... so rot...
Ich zwinge mich nicht in Panik auszubrechen, reiße im Bad die Schublade auf und hole einen Verband raus, versuche das irgendwie abzubinden und es blutet weiter ich bekomme immer mehr Angst, gehe wieder in mein Zimmer, schließe die Tür hinter mir, was soll ich jetzt machen, verdammt schießt es mir durch den Kopf so war das doch nie gedacht von wegen großartiger Exitus mit Sprung bei Mondschein von der Klippe und so, jetzt sitzt du hier und verreckst jämmerlich, ich merke wie ich immer mehr zittere und es ist mir so verdammt kalt ich wickle noch einen Verband drum und stülpe den Ärmel drüber dass ja nichts auffällt, gehe in die Kücke und mache mir einen Tee, aber der wärmt auch nicht genausowenig wie die Heizung ich krieg die Panik... Angst Angst vor dem Sterben ich will nicht sterben verdammt warum kann ich mich nie entscheiden gerade eben wollte ich es doch noch und jetzt mach ich doch den Rückzieher ich jämmerliche Versagerin noch nicht mal das bekomme ich auf die Reihe aber nein aufgeben soll ich nicht aber was soll ich jetzt bloß tun, das hört nicht auf zu bluten, alles ist voller Blut meine Kleidung der Tisch und die Sachen darauf, Blut auf dem CDCover auf den Stiften auf den Puzzleteilen oh scheiße was hab ich da nur gemacht und was mache ich grade und was sollte ich besser machen warum ist mir so kalt ist das das Ende nein das kann darf doch nicht sein... - all das schießt mir durch den Kopf, dreht sich und macht mich schier verrückt.
Im Nachhinein weiß ich, dass das vier Stunden so gegangen ist, vier Stunden Hölle, an die ich mich gar nicht mehr genauer erinnern will...
Am nächsten Tag, nachdem es aufgehört hatte zu bluten und mein Zimmer gereinigt, die Klamotten ausgewaschen waren, habe ich in mein Tagebuch geschrieben, dass ich nie wieder ritzen würde... dass ich definitv genug hätte... dass ich endlich leben wolle... Ich bin auf einmal glücklich, ich genieße den Tag und schimpfe mich eine Idiotin, wie ich nur solange in diesem schwarzen Loch verweilen konnte und frage mich wieso ich es nicht eher geschafft habe, da hinaus zu kommen...
Am übernächsten Tag habe ich wieder geritzt. Einerseits verachte ich mich dafür, weil ich nicht stark war, weil ich versagt habe, weil ich nicht durchgehalten habe.
Und andererseits habe ich Angst. Angst vor mir selber, weil ich mir selber nicht mehr trauen kann. All die Tage schon dieses ständige Auf und Ab, vorgestern am Ende, gestern dann so positiv eingestellt, heute tiefer gefallen als zuvor...
Und morgen? Wird es für mich überhaupt ein Morgen geben???