Mitglied
- Beitritt
- 03.07.2003
- Beiträge
- 43
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Angst
"Warum genau hast du Angst?"
Ich starrte an die Decke, auf dem Rücken liegend beobachtete ich das leicht flackernde Licht des Saales. Oft wurde ich solche Dinge gefragt, doch die meisten Fragen ignorierte ich. Nicht, weil ich keine Lust hatte sie zu beantworten, sondern… weil ich Angst davor hatte, mich jemandem zu öffnen. Angst war MEINE Sache, meine Probleme und ich musste damit klarkommen. Das geht niemanden anders etwas an. Meine Mutter steckte mich in diese Therapie, weil sie auf Heilung hofft. Das macht meine Mutter immer. Sie ist die Personifizierung des Wortes „Optimist“ und glaubt an das Gute im Menschen.
"Ist es okay für dich wenn ich dich mit „du“ anrede?"
Sie können mich von mir aus auch mit „ihr“ anreden, das ist mir egal. Nur hören sie auf zu fragen.
Ach, was rege ich mich auf. Er macht doch auch nur seine Arbeit. Er versucht an mich heranzukommen, zu verstehen was in mir vorgeht. Für ihn ist jeder Patient eine Art Bäcker. Er verdient seine Brötchen. Und wir liefern sie ihm.
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, das ich sofort zu unterdrücken versuchte.
"Sag mir doch mal, wann du das erste Mal große Angst hattest."
Ich unterdrückte den Drang einfach aufzustehen und zu sagen „Ich bin geheilt! Sie haben es geschafft und jetzt lassen Sie uns über etwas anderes reden“. Das würde wohl alles noch schlimmer machen. Aber ich werde nicht reden. Auf keinen Fall. Lieber ertrage ich den Geruch des Leders auf dem Liegesessel noch ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate, mehr. Es ist nicht so, dass ich nicht will, dass meine Angst geheilt würde aber… aber ich habe Angst davor.
Meine Angst. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich nicht wusste warum ich Angst hatte. Manchmal setzte sie in ganz alltäglichen Situationen ein. Sobald ich die Straße betrat und um mich das pulsierende Leben der Stadt kreiste wurde mir schwindelig und übel. Ich fühlte mich als das Zentrum alles Lebens der Menschen, als drehender Trabant um einen Fixstern. Alles könnte passieren. Ich könnte stolpern und die Menschen würden sich um mich versammeln und mich auslachen. Ich könnte mich beim Brötchen einkaufen versprechen oder anfangen zu stottern. Ich fühlte mich unwohl. Oft wurde ich auch paranoid weil ich das Gefühl hatte, beobachtet und ausgelacht zu werden.
Ich hatte auch oft Angst wenn ich alleine war. Die Angst vor der Zukunft. Wenn ich ein Tag vorher wusste, dass ich am nächsten Tag einen Termin hatte, wurde mir unwohl und oft auch übel. „Was ist mit dir los, du bist so blass?“, fragte dann immer meine Mutter. Ich antwortete: „Ich hab wohl zuviel gegessen.“ Meistens ließ sie dann locker und schnitt das Thema nicht weiter an. Ich war ihr dankbar dafür, obwohl ich tief im Inneren den Wunsch habe, dass sie mich doch darauf anspricht.
Eines Abends hatte ich Angst in der Badewanne. Das Wasser, in dem ich lag, war schon trüb vom Badeöl. Die Decke des Badezimmers spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und sah dadurch unendlich tief aus. Mein Puls raste. Ich versuchte die aufsteigende Panik in mir zu unterdrücken. Von der Panik schließlich jedoch besiegt sprang ich auf und stieg hastig aus dem Wasser. Ich fiel auf den Boden und schlug mit dem Gesicht auf. Ich registrierte nicht, dass ich an der Nase blutete, denn ich hatte das Gefühl, knapp dem Tod durch Ertrinken entkommen zu sein.
Mittlerweile habe ich es geschafft, einigermaßen mit meinen Ängsten umzugehen und zu leben. Das klappte jedoch nicht immer.
Wobei mir bei einer Sache die Angst immer am Meisten im Weg steht:
Mädchen. Ich weiß nicht ob ich gut aussehe und ob ich anziehend auf sie wirke, aber sobald ich ein Mädchen kennen lerne, geht der Horror los. Es läuft meistens immer nach folgendem Schema ab. Zuerst verliebe ich mich in ein Mädchen. Das ist nicht besonders schwer, schließlich passiert es automatisch. Es ist jedoch der erste Schritt ins Unglück. Als nächstes will das Mädchen mich näher kennen lernen. Es ist irgendwie immer das Mädchen, aber das stört mich nicht. Was mich am meisten mitnimmt, ist Phase drei. Ich sitze daheim, in meinem eigenen Schweiß badend, die Telefonnummer des Mädchens plus Telefon in meiner Hand. „Du musst sie anrufen! Ruf sie an! Jetzt ruf sie an! Du hast Angst! Angst! ANGST WIE EIN GEPRÜGELTER HUND HAST DU!“ Das rede ich mir stundenlang immer selbst ein. Bis ich zitternd die ersten Ziffern der Nummer eingebe aber sie gleich danach wieder lösche. Das ganze Spielchen kann sich stundenlang hinziehen bis ich tatsächlich ein scheußliches 220 Hertz Geräusch in meinem Ohr habe. Das Freizeichen. Fast schon betend hoffe ich dann immer, dass niemand rangehen würde. Was ist wenn die Mutter oder der Vater oder Geschwister drangehen? Was ist, wenn ich mich verspreche oder nicht mehr weiß was ich als nächstes sagen soll. Ich versinke in einem Pool aus Angst. Ich schwimme darin, nicht fähig, herauszusteigen.
Mittlerweile habe ich gelernt, die Angst wenigstens für ein paar Stunden zu betäuben. Zwar nicht komplett, aber immerhin schaffe ich es, sie dadurch abzuschwächen. Die Lösung heißt Schmerz. Versteht mich nicht falsch, ich will mich nicht umbringen. Es geht nur um den Schmerz, das ist alles. Schmerz als Medizin bei Angst, was ist daran denn so falsch? Meist nehme ich eine Schere, dreh die Musik laut auf und zieh mir damit so oft über den Arm ohne hinzuschauen bis das Lied fertig ist. Dann lege ich die Schere weg und schaue auf mein Werk. Stark blutend fange ich an zu weinen. Aber die Angst ist fort. In den nächsten Stunden bin ich frei. Ich habe das Gefühl, alles schaffen zu können. Auch wenn ich weiß, dass dieses Gefühl nicht ewig anhalten wird.
"… du nicht hilfst."
Ich drehte meinen Kopf, der mir zur Seite genickt war, in Richtung Sessel, auf dem der Psychiater saß. Etwas benommen sagte ich:
"Ich würde gerne Schluss machen für heute."
Er schaute mich mit einem neutralen Gesichtsausdruck an, als wäre ich die Liege und kein Patient.
"In Ordnung, machen wir Schluss für heute."
Ich stand langsam von der Liege auf und meine Haut blieb am Leder kleben. Mit einem lauten Abziehgeräusch als ziehe man einen Klebestreifen von einer glatten Oberfläche ab trennte ich meinen Körper von dem Ding, auf dem ich jede Woche zwei Stunden lag. Ich ging ohne ein Wort zu sagen in den Flur der Psychiatrie, holte meine Jacke und ging zur Tür hinaus ins Freie. Es schneite. Langsam atmete ich tief ein und ging los. Ich spürte wie die Angst in mir hoch kroch. Angst auszurutschen war die kleine Angst, Furcht vor der feindlichen Welt da draußen war meine große Angst. Und die würde ich ewig besitzen, ewig mit mir herumtragen. Die Angst ist ein Teil von mir. Manchmal komme ich mir so vor, als sei ich selbst die Angst. Meine Angst.
Und sie wird mich ewig begleiten.