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Angela und Fred
Es war an einem Samstag und Angela hatte mal wieder großen Hunger. Aber die kleine Maus musste noch ein wenig warten. Erst am nächsten Tag war die Kirche voll mit Menschen. Und dann fiel wieder so eine aus Mehl und Wasser gemachte weiße Scheibe für Angela ab. Ja, Kirchenmäuse sind wirklich arme Mäuse. So dachte auch der Pfarrer und jeden Sonntag schubste er heimlich eine Oblate für Angela hinter den Altar. Angela sah die Menschen nur einmal in der Woche etwas essen, nämlich am Sonntag. Und dann gab's auch nur diese dünnen Scheibchen, dazu tranken sie nur einen winzigen Schluck aus einem einzigen Krug. Angela hatte Mitleid mit den Kirchenmenschen.
Eines Tages änderte sich ihr Leben. Die kleine Kirchenmaus hatte sich gerade in einem Sonnenstrahl gleich neben dem Taufbecken gewärmt, als viele seltsame Männer herein kamen. Sie waren in weiß gekleidet, hatten weiße Hüte auf dem Kopf und überall Farbkleckse auf der Kleidung. Angela versteckte sich ängstlich hinter dem Taufbecken. Sie sah den Männern zu, wie sie hier und da braunen Matsch auf die Wände warfen, glatt strichen und dann weiße Farbe darüber verteilten. Als die Männer am Abend wieder gegangen waren, hüpfte Angela unter den Sitzbänken hindurch zurück zum Mauseloch. Doch oh weh! Es war mit diesem Matsch zugefüllt, er war jetzt ganz hart. Angela musste sich also eine neue Mäusewohnung suchen. Zum ersten Mal ging sie aus der Kirche hinaus ins Freie. Da sah sie noch viele andere Häuser. Das Haus gegenüber der Kirche gefiel ihr ganz gut. Über die Tür hatten die Menschen „Rathaus“ geschrieben. Ja, die kleine Kirchenmaus konnte ein wenig lesen. Oft hatte sie sich auf dem Altar versteckt und dem Pfarrer beim Sprechen zugesehen. Irgend wann hatte sie bemerkt, dass er diese Zeichen aus einem dicken Buch wiedergab und lernte, die Zeichen zu verstehen. Angela schlüpfte in das Haus, das Rathaus hieß. Sie tippelte gerade durch ein sehr großes Zimmer mit vielen Tischen und Stühlen, als es hinter ihr energisch fiepte.
„Hey du, wer bist du und was machst du hier?“
Angela hopste erschrocken herum. „Ich heiße Angela und wohne in der Kirche drüben. Aber jetzt ist meine Wohnung kaputt. Die haben mein Mauseloch zugemacht. Und wer bist du?“
„Meine Name ist Fred und ich wohne schon lange hier im Rathaus.“
Fred sah gut genährt aus, man konnte fast sagen, er war ziemlich dick.
„So wie du aussiehst, gibt's hier wohl viel zu essen? Ich habe dagegen fast immer Hunger“, sagte Angela.
„Hunger? Was ist das?“ Fred machte große Augen.
Da erzählte ihm Angela, dass die armen Menschen auch nur einmal in der Woche in die Kirche kommen, um etwas zu essen und zu trinken und für sie als Kirchenmaus nur wenig davon abfällt. Da musste Fred laut lachen.
„Hahaha...die Menschen essen wenig? Hier im Rathaus gibt es jeden Tag jede Mange zu futtern! Hier gibt es einen Raum, den die Menschen Kantine nennen. Die versammeln sich dort jeden Tag zum Essen. Du solltest mal sehen, was da an Resten im Abfall landet. Nudeln und Kartoffeln und Käse und Wurst und Gurken und Tomaten ... wirst schon sehen!“
Angela kannte all diese Worte gar nicht. Sie kannte ja keine Nudeln, keinen Käse und von den anderen Sachen hatte sie auch noch nichts gehört.
„Also bei uns in der Kirche essen sie jeden Sonntag einen Laib Christi. Das sagt jedenfalls der Herr Pfarrer immer dazu. Der Laib Christi besteht aus so kleinen flachen weißen Scheibchen“, sagte Angela.
„Das klingt ... äh ... interessant. Sonst nichts?“ fragte Fred etwas mitleidig.
„Nein, sonst nichts", sagte Angela.
„Du bleibst jetzt eine Woche bei mir im Rathaus, danach besuche ich dich für eine Woche in der Kirche und wir suchen dort gleich mal nach einem neuen Mauseloch für dich.“
Angela nahm Freds Angebot an. In der Woche, die Angela im Rathaus wohnte, konnte sie sich mal so richtig satt essen. Fast jeden Tag gab es all die Leckereien, von denen Fred so geschwärmt hatte. Nur am Wochenende war niemand da und die beiden Mäuse lebten von dem, was Fred zur Seite geschafft hatte.
Für Angela, die in dieser einen Woche ganz schön an Gewicht zugelegt hatte, wurde jetzt einiges klar. Die Menschen kommen gar nicht zum Essen in die Kirche. Nur am Sonntag gab's den Laib Christi. Und der war wohl gar nicht zum Sattwerden gedacht.
In der nächsten Woche wechselten die beiden Mäuse hinüber in die Kirche. In einem Nebenraum fanden sie ein Schlupfloch, das Angela und Fred zu einem Mauseloch ausbauten. Die Tage vergingen, Besucher kamen, doch es gab für die beiden Mäuse kaum Eßbares. Fred wollte schon nach drei Tagen wieder zurück ins Rathaus. Aber er blieb dann doch die ganze Woche mit Angela in der Kirche, er hatte es ihr versprochen. Am Sonntag gab es dann endlich die weißen Scheibchen aus Mehl. Der Pfarrer hatte wohl gemerkt, dass da nun zwei hungrige Mäuse lauerten und ließ zwei Oblaten hinter den Altar fallen. Fred war so ausgehungert, dass ihm dieses einfache Essen richtig gut schmeckte. Ein Gutes hatte der Besuch in der Kirche allemal: Fred hatte weniger gegessen und deutlich an Gewicht abgenommen. Er fühlte sich wieder richtig wohl in seinem Mäusefell.
Angela und Fred beschlossen, für immer zusammen zu bleiben. Sie wohnten immer eine Woche in der Kirche und dann eine Woche im Rathaus. Sie waren nicht zu dick und nicht zu dünn und fühlten sich am Ende an beiden Plätzen wohl. Sie wussten, dass die Menschen nicht zum Essen in die Kirche gingen. Aber warum sie es dennoch taten, war den beiden Mäusen letztlich egal.