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Angeheiratet
Angeheiratet
Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihr Leben nicht so verläuft, wie Sie es sich einmal vorgestellt haben? Dann sind Sie bestimmt auch Onkel.
Eigentlich hätte ich ja gewarnt sein müssen, als bei unserer Hochzeit der sechsjährige Sohn meiner Schwägerin unter den Schreibtisch krabbelte und versuchte, der Standesbeamtin unter den Rock zu schauen. Aber an diesem Tag hatte meine geistige Zurechnungsfähigkeit eh ihren absoluten Nullpunkt erreicht und mein zukünftiges Leben erschien mir rosarot leuchtend.
Seit diesem Zeitpunkt darf ich mir die wöchentlichen Berichte über die Therapiefortschritte des Kleinen anhören, gespickt mit dem fachlichen Kommentar meiner Ehefrau: „Die Psychologin versteht ihn einfach nicht!“ Ich schweige dazu lieber. Nachdem unser Neffe die zweite Klasse überspringen durfte, gilt er als „hochbegabt“ und ist die intellektuelle Hoffnung der Familie, meine fundierten Bedenken werden hingegen mit einem „Du magst ihn ja sowieso nicht“ weggefegt. Während der Rest der Familie sich schon über die geeignete Universität für den Jungen streitet, rechne ich fest damit, dass er bei seinem ersten Hafturlaub mit blutverschmiertem Messer vor unserer Wohnungstür steht.
Mir persönlich ist es egal, ob das kleine Genie nur ein mangelhaftes Sozialverhalten zeigt oder hyperaktiv ist. Auf jeden Fall sollte man ihn in die Nähe anderer Kinder nur mit Zwangsjacke und zwei Mann Bewachung lassen, da er sonst pitbullartig auf diese losgeht. Erst neulich musste meine Frau ihn als nächste erreichbare Verwandte vom Turnunterricht abholen, da er gleich zu Beginn einem Kind das Auge blau schlug und für den Rest der Stunde neben dem plärrendem Opfer auf der Bank sitzen durfte.
„Wir wollen doch heute zum Zoo fahren? Darf mein Neffe mit?“ Ich rolle die Augen, aber meine Frau hat ihn bereits telefonisch eingeladen, also bleibt mir nur ein wortloses Schmollen übrig. Auf dem Spielplatz entzieht sich meine Frau ihrer Aufsichtspflicht durch einen vorgetäuschten Toilettengang, während ich mich abseits stelle. „Ist das ihr Kind, dass meinen Jungen von der Rutsche geworfen hat?“ fragt mich eine tränenüberflutete Mutter, ich verneine energisch. Natürlich erinnert sich mein Neffe in diesem Moment an unsere verwandtschaftlichen Beziehungen, auch wenn er mich sonst penetrant wie einen Fremden behandelt, und läuft freudestrahlend mit einem "Hallo Onkel" auf mich zu.
Nachdem wir in allen nahe gelegenen Freizeitparks, Schwimmbädern und Tierparks Hausverbot bekommen haben (zumindest in den letzteren soll sich die Population inzwischen wieder erholt haben), beruhigt sich die Situation ein wenig. Auch rufen nicht mehr so häufig Bekannte an und fragen mich völlig verängstigt, ob meine Frau denn etwa ihren Neffen zum Treffen mitbringen wolle.
Meine Frau hat sich inzwischen dazu entschlossen, ihn nicht mehr so oft allein in ihrem Auto mitzunehmen, nachdem mein Neffe sich während einer Fahrt mehrfach den Sicherheitsgurt um seinen Hals legte und nach einem plötzlichen Bremsmanöver ungesund blau anlief. Aber er muss ja wissen, was er tut, schließlich ist er das Genie.
Nur ab und zu kommt noch ein flehentliches „Ich habe meinen Neffen so lange nicht mehr gesehen, darf er mal zu uns kommen?“
Da ich kein Unmensch bin, trage ich den Termin rot unterstrichen in meinen Kalender ein und arbeite einfach an dem Tag länger. Die türkische Putzfrau, die um 21.00 Uhr mein Büro säubert, kennt dies schon und bringt mir einen heißen Tee. „Ah, Neffe nix gut“ sagt sie mitfühlend und ich nicke müde.
Kürzlich verkündete meine Frau stolz, ihr Neffe sei jetzt zu einer Stadtranderholung weggeschickt worden. Meine Bemerkung, ich würde es gut finden, wenn man meinen Neffen wegschickt, damit sich der Stadtrand erholen könne, wurde nur mit einem verweinten „Ich vermisse ihn so“ beantwortet. Ich zückte meinen Terminkalender: „Wann?“