Angebot und Nachfrage
„Hi !“, sagte ich im Vorbeigehen zu Tim, wurde aber ignoriert. Ich gehörte nicht zu Tims Kundenstamm und war deswegen nicht viel Aufhebens wert. Mir konnte das recht sein – als Weiße nicht das richtige Profil zu haben, um Tims Opfer zu werden, war fast schon eine Auszeichnung. Es gab mir das Gefühl in Windhoek daheim zu sein, dazuzugehören, erkannt zu werden.
Tim und ich trafen uns beinahe jeden Abend im Casablanca – es war eine meiner Lieblingskneipen und sein bevorzugtes Jagdrevier. Das gab mir reichlich Gelegenheit die Arbeit des Königs der Ethnoschnorrer zu beobachten.
Tim war halb Nama, halb Ovambo, also schwarz, aber nicht ganz so dunkel wie viele andere. Im allgemeinen trug er second hand Klamotten, die heruntergekommen, aber nicht schmutzig waren. Ein paar Flicken und etwas Staub gehörten ebenso zum Handwerk, wie das Bob Marley Cappy und der „Tigerzahn“, den er an einer Schnur um den Hals trug. Für Tim war es wichtig „afrikanisch“ auszusehen, was immer das bedeuten mochte. Er musste seinen Touristen etwas bieten.
Tims Opfer waren vorwiegend junge, liberale Rucksackreisende aus Europa und Amerika, die unter der Bürde der imperialistischen Vergangenheit ihrer Länder litten, sich selbst für die Sünden der Vorväter, die Armut Afrikas und die Verwerflichkeit ihres westlichen Luxuslebens verantwortlich machten und nach Namibia gekommen waren, um das „echte Afrika“ zu erleben. Sie wollten dem schwarzen Kontinent frei von allen Vorurteilen begegnen, ohne zu erkennen, daß ihre allzu positive Haltung an sich schon wieder ein Vorurteil war.
Denn auch wenn viele ihrer Ansichten und Erkenntnisse richtig und lobenswert waren, waren sie doch nicht in der Lage zu verstehen, daß ihr Bild von Afrika ebenso unrealistisch war, wie das ihrer kolonialisierenden Ahnen. Einst wurden Afrikaner als dumme, minderwertige Menschen zweiter Klasse, bessere Affen betrachtet. Heute hält man sie für unverfälscht, naturverbunden, bescheiden, fröhlich und herzlich. Als ob man die Bewohner eines ganzen Kontinentes jemals mit einigen rein positiven oder negativen Adjektiven schlüssig charakterisieren könnte. Als ob eine solche Beschreibung auch nur einem einzigen Menschen gerecht werden könnte. Anstatt die Gemeinsamkeiten zu erkennen, die Tatsache, daß wir alle uns in unseren Sorgen und Freuden, Ängsten und Wünschen gar nicht so sehr unterscheiden, gefällt sich der wohlstandsüberdrüssige Erstweltbewohner darin, ein fatales Bild des paradiesisch-bescheidenen afrikanischen Naturburschens zu kreieren.
Es gibt einen richtigen back–to–the–nature–back–to-Africa–Boom in der ersten Welt, geboren aus der Illusion, daß die Antworten auf alle Fragen der westlichen Zivilisation in der einfacheren, afrikanischen Lebensart gefunden werden könnten. Nun, ich denke wir alle haben langsam erkannt, daß Geld und Macht nicht gleichbedeutend mit Glück und Zufriedenheit sind. Aber ganz ehrlich: Armut ist es auch nicht, selbst wenn sie in pittoresken Lehmhütten unter dem weiten Himmel Afrikas mit einem bewundernswerten Gleichmut ertragen wird.
Die meisten Afrikaner, die ich kennengelernt habe, sind in ihrem Alltag nicht glücklicher, als wir Europäer oder Amerikaner, aber wer dafür sorgen muß, daß genug Brot auf den Tisch kommt, um die Familie am Leben zu erhalten, grübelt nicht viel über derlei Fragen nach. Wir tendieren dazu, mit dem Kopf gegen die Wand anzurennen und beschweren uns danach über die Schmerzen, die wir aufgrund der Kollision zu erdulden haben. In der dritten Welt hat man gelernt, Tiefschläge als gottgegebenes Schicksal zu akzeptieren – was nicht bedeutet, daß die Leute weniger darunter leiden.
Tims Opfer waren also sozio-politisch motivierte Reisende, die Windhoek als Sprungbrett in das längst nicht mehr existierende (falls es das je tat) Afrika Hemmingways und Karen Blixens (mit einem Schuß Steven Biko) betrachteten, nicht ahnend, daß der schwarze Kontinent, wenn überhaupt, erst am Caprivizipfel beginnt. Bis dahin befindet man sich noch immer halb in Europa – auch wenn das Land südlich des Äquators liegt. Tim hatte ein geschultes Auge für diese jungen, bleichen Leute, die ein wenig schüchtern aber neugierig hereinkamen und darauf brannten neue Erfahrungen und Bekanntschaften zu machen. Sobald sie einen freien Tisch gefunden hatten, steuerte er auf sie zu.
„Hi, I am Tim. Welcome to Namibia.“ Ausgestreckte Hand.
Die Angesprochenen waren gleichzeitig verunsichert und fasziniert. Das war sie wohl, die berühmte afrikanische Herzlichkeit. Etwas ungewohnt vielleicht, aber lang herbeigesehnt und deswegen umso herzlicher willkommen geheißen.
Nach einem unmerklichen Zögern wurde die raue Hand ergriffen und mit aller Kraft geschüttelt. Namen wurden genannt, ein paar Witze gemacht. Dann griff Tim nach der nächsten Stuhllehne. „Kann ich mich dazu setzen ?“
Diesen Satz beherrschte er in Englisch, Französisch, Deutsch, Holländisch und Spanisch. Und natürlich auch in Nama, Oshivambo und Afrikaans. Tim war multilingual, das musste er für seinen Job sein. Und – auch das eine wichtige Voraussetzung – er konnte ohne Punkt und Komma reden. Über Stunden hinweg. Und dabei sagte er immer genau das, was sein fasziniertes Auditorium hören wollte. Ich nannte es seine „black and white unite, ey man“-Liturgie.
Sie begann mit der obligatorischen „Was haltet Ihr von Apartheid ?“-Frage, die erwartungsgemäß mit entsetztem Kopfschütteln und abwehrenden Worten beantwortet wurde. Daraufhin kam Tim so richtig in Fahrt: „Hey, brother, ich sage Dir – fuck Apartheid.“
Zustimmendes Gemurmel. „Ich meine, Du, wo kommst Du her ?“
„Bochum.“
„Bochum ?“ Freundliches Gelächter ob der falschen Aussprache. „Bochum, Germany, richtig ? Da war ich auch schon mal.“
Ich bezweifelte, daß Tim Namibia jemals verlassen hatte.
„Ich meine, ich besuche Dein Land, Du besuchst mein Land, weil, wir wollen lernen voneinander, richtig ?“
Spätestens in diesem Moment bestellte einer der um den Tisch Versammelten Tims erstes Bier und bot ihm Zigaretten an, die er dankbar annahm. Gleichzeitig sprach er weiter: „Hey, die basic, das ist doch Respekt, oder brother ? Ich meine, Du gibst mir Respekt, ich gebe Dir Respekt – wir können voneinander lernen. Das ist gut, richtig gut, man.“ In einem Zuge leerte er sein Bier und bestellte gleich noch ein zweites.
„In Deinem Land, ne, da habe ich gearbeitet, da wurde ich respektiert.“ Die Zuhörerschaft fühlte sich gleichzeitig gebauchpinselt und – zu Recht – verunsichert. Seitdem in Deutschland Asylantenheime brannten, konnte selbst der traditionell blinde und taube deutsche Biedermann nicht mehr behaupten, daß in diesem unserem Lande Ausländer „respektiert“ wurden. Aber das dachte man sich nur – aussprechen wollte man es an einem solch harmonischen Abend nicht. Es war nicht der richtige Moment für Selbstkritik und Desillusionierung, da hielt man sich lieber an ein Thema, desbezüglich es keine Meinungsunterschiede gab.
„Aber in fucking-Apartheid-Südafrika, da behandeln sie mich wie einen Hund. Warum ?“ Tim klopfte mit dem Zeigefinger auf seinen Unterarrn. „Darum, man. Weil ich schwarz bin.“ Er seufzte tief, alle anderen entrüstet. Noch ein Bier, die erste Packung Zigaretten war bereits leer.
„Hey, ich meine – god loves all his children. Fuck die Hautfarbe. Wir sind gleich. Du und ich, Brüder, man.“ Herzliche Umarmungen und Schulterklopfen mit dem Nächstsitzenden. Mittlerweile hatten alle glänzende Augen. Hier trafen sie auf den Mann, der ihre Gedanken, Träume und Ideale teilte und verstand. Keine Vorurteile mehr, keine Grenzen. United colours of Benetton und John Lennon’s „imagine“ in einer Person. Und die war zu allem Überfluß auch noch schwarz !
Sie hatten Glück. Draußen in Katutura gab es eine ganze Menge Leute, die von diesen Fraternisierungsideen ebenso wenig hielten, wie die reaktionärsten burischen Dickschädel im Süden. Die sogenannten „Baster“ wurden von jeder Seite verachtet und gemieden. Trotzdem brachten einige meiner Café-au-lait-Schüler den Mut und Optimismus auf zu sagen: „Wir sind die Zukunft unseres Landes. Wir sind die Integration unserer Rassen. Wir sind der Beweis, daß es funktionieren kann.“
Und sie hatten meiner Meinung nach recht damit. Die Frage war nur, ob sie mit ihrer Abstammung in Namibia glücklich werden würden. Sie hatten gute Karten – wie viele Mischlinge waren sie außerordentlich intelligent, attraktiv und hochmotiviert. Blieb zu hoffen, daß sie eines Tages davon profitieren konnten.
Während ich mich in meinen Gedanken verlor, dozierte Tim weiter. Lange nach Mitternacht trank man an seinem Tisch endgültig Verbrüderung, machte Photos und tauschte Adressen aus. Irgendjemand übernahm seine Zeche, steckte ihm noch ein paar Zigaretten zu, vielleicht auch einen Geldschein. Als er von der eigenen Armut berichtete, hatte er betont, daß er nie bettelte oder Geld von anderen annahm, aber nun war er entweder zu betrunken oder zu bewegt, um sich an diese hehren Grundsätze zu erinnern. Nach dem Prinzip „einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“, ließ er die Gabe elegant in der Hosentasche verschwinden, ohne allzu viel Aufsehen darum zu machen. Das wäre für Geber und Beschenkten gleichermaßen peinlich gewesen. Ich fand seine Diskretion bewundernswert.
Mit etwas Glück würden Briefe, Photos, Geschenke und mehr folgen. Wenn nicht würde Tim seine neuen Freunde mittels eines wohlformulierten Schreibens schon irgendwie auf den Gedanken bringen. Ich konnte ihm deswegen keinen Vorwurf machen. Schließlich lieferte er nur das, was die Touristen wollten: Lokalkolorit und Verbrüderungsszenen. Vielleicht war es ein wenig zynisch, aber im Grunde business as usual – eine Sache von Angebot und Nachfrage.