Anfang und Ende
Ich arbeitete damals circa zwei Monate beim Kreuzsteiger Anzeiger als ich ihn zum erstenmal wirklich bemerkte. Ich hatte bis dahin noch nicht viel gemacht. Verständlich, als Anfänger wird man nicht grad auf die großen Artikel losgelassen. Kleinigkeiten im Lokalteil, wirklich nicht grade sehr spannend, aber dafür war das eh nicht die richtige Zeitung. Aber einsteigen mußte ja jeder Irgendwo. Ich hatte keine großen Vorbilder, darauf hatte ich noch nie viel gegeben. Leute die schlechter waren als ich, hatte ich nie wahrgenommen, meinungsmäßig, und Leute die eindeutig mehr auf dem Kasten hatten, hatte ich dafür zwar anerkannt, aber bewundert, Nein wirklich nicht. Meine Meinung war mein Maß, selbst wenn jemand offensichtlich eine viel bessere, weitere Sichtweise auf etwas hatte und es dadurch realistischer, weniger begrenzt erfaßte als ich, blieb ich trotzdem bei meiner. Ich weiss wirklich nicht woher meine Verbohrtheit in diesem Punkt kam, es war keine Igoranz in dem Sinne, es war einfach das ich meine Meinung immer sehr geschliffen wahrnahm und andere Akzentuierungen bei anderen nie etwas abgewinnen konnte. Kann ja auch sein gutes haben, so fest zu sein, ich war zumindest niemand der anderen seine Meinung aufdrängte oder ein intolerantes Verhalten an den Tag legte. Dadurch war es dann doch wieder aufgewogen.
Was mir schon gleich die erste Woche aufgefallen war, das vor dem Eingang des Anzeigers immer viele Penner rumlungerten.
Als ich Karst danach fragte, warum sie da scheinbar geduldet worden, antwortete er mir, daß der Vorgänger des Chefs in den 70ern selbst mal ne Zeitlang obdachlos gewesen war und für die Burschen immer Mitgefühl empfunden hatte, außerdem belästigten sie nie einen Mitarbeiter der Zeitung, sie waren froh einen Platz zu haben, auf den Verlaß war, außerdem waren es alles schon Ältere, die den alten Chef noch gekannt und respektiert hatten. Neue verirrten sich nie zum Anzeiger, es waren immer die selben Gesichter, was mir nach dem ersten Monat dann auch offensichtlicher wurde, indem sie sich mir immer mehr einprägten, ihre vom Suff und vom Wetter und von Alter geprägten, gegerbten, lederhäutigen und gebräunten Gesichter, durchzogen von blauen Äderchen im Augenbereich, viele mit Tränensäcken, alle mit rauhen gesprungenen Lippen und wässrigen Augen.
Aber einer stach heraus, nicht offensichtlich, nicht sofort, er war mir erst später aufgefallen, als mir die Gesichter schon bekannt waren. Er trug genauso ungepflegte Klamotten wie der Rest, hatte fettiges ungepflegtes Haar und sein Gesicht war genauso verwittert, aber die Augen, die Augen waren ungewöhnlich. Solche starken Augen hatte ich noch nie gesehen. Sie waren nicht wässrig wie bei seinen Kollegen, sie waren ganz klar und hellblau, ein wenig wie die Farbe die Babys noch haben, aber irgendwie wirkten sie auch sehr alt. Aus ihnen schien verdammt viel Erlebtes und auch Erkenntnis zu sprechen, schwer zu sagen. Ich bin nicht grad der Typ der sich viel Gedanken um das Leben, seinen Sinn und so macht, aber er sah mir aus wie jemand der zumindest einiges an Sinn schon gesehen haben mußte. Diese Augen sahen aus als könnten sie jedem seinen Willen aufdrücken, so viel Stärke strahlten sie auf mich aus. Trotzdem hab ich ihn nie angesprochen. Was hätte ich ihn schon fragen sollen?
"Entschuldigung, sie machen einen außergewöhnlichen Eindruck auf mich, kann ich sie auf einen Kaffee (oder Schnaps) einladen und wir reden ein bißchen?"
Nicht wirklich.
Die Penner bettelten nicht beim Anzeiger aber manchmal drückte ihnen doch einmal einer der Mitarbeiter was in die Hand. Das brachte mich damals als ich seit zwei Monaten dort arbeitete, dann wohl dazu, diesem besondern Mann regelmäßig was zuzustecken, nicht so das es irgendwem aufgefallen wäre, mal jede woche oder alle zwei wochen, passende Beträge, aber halt immer nur ihm, wortlos. Dabei muss ich ihm wohl immer ziemlich aufs Gesicht gestarrt haben, auf der Suche nach diesen Augen, jedenfalls schaute er mich irgendwann einmal an als ich ihm was gab und blickte in meine Augen. Dieses erste Mal war mir das unangenehm gewesen, ich dachte er würde gleich fragen warum ich ihn immer so anstarren würde, aber das war nicht der Fall. Sein Blick drückte nichts weiter aus, keine Aggression, Gereiztheit oder Unsicherheit, es war einfach ein freundlicher, fester Blick.
Das erfreute mich immer sehr, ich freute mich auf die Momente wenn ich ihm etwas gab. Er zeigte mir keine Dankbarkeit, das war es auch gar nicht was ich wollte. Ich hatte immer den Eindruck als würde mir sein Blick etwas Kraft geben, eine Zusatzportion Energie für den Tag, als würde ein kleines bischen seiner Kraft auf mich überspringen durch den Blickkontakt.
Außerdem schien es mir immer eine Weitung meiner Sicht zu bewirken, als könnte ich mehr als meine eigene Welt sehen, als hätte mich jemand in einen Adler versetzt, der eine riesiges Gebiet überblickt von hoch oben, und nicht nur die nächsten Hügel sieht, die sich auf dem Land erheben.
Nachdem ich ein Jahr beim Anzeiger gearbeitet hatte, und mich auch schon etwas hochgearbeitet hatte, wie gesagt es gab Bessere als mich aber ich war gut und vor allem interessiert, sah ich ihn nicht mehr. Nach 2 Wochen in denen ich mich doch langsam wunderte, weil ich ihn sonst regelmäßig an den Säulen des Eingangs sitzend gesehen hatte, bis auf ein oder zwei Tage mal, fragte ich einen der Brüder, der öfter in der Nähe von ihm gesessen hatte.
"Sag mal was ist den mit deinem Kumpel, der saß doch sonst immer hier an der Säule, den hab ich ja schon länger nicht mehr gesehen?" Ich kam mir dabei recht dämlich vor, da ich bis zu dem Tag noch nie mit einem der Penner gesprochen hatte, und dann nach einem von ihnen zu fragen. Aber er schien nicht weiter verwundert, daß ich fragte.
"Der alte Joachim ist vor 2 Wochen gestorben, ist friedlich eingeschlafen, komisch hätt immer gedacht mich erwischts zuerst mit meiner Leber." Daraufhin brach er in einen schlimmen Hustenanfall aus, gemischt mit Lachen.
Ich war den ganzen Tag in einer komischen Stimmung, ich war nicht direkt traurig, aber es tat mir irgendwie schon ein bischen leid um den alten Mann. Nicht, weil mir dieses schöne Gefühl, diese Kraft, die Ahnung anderer Welten dort draußen fehlen würde in Zukunft, das würde es sicher, aber ich dachte mir das es irgendwie nicht das passende Ende für diesen Mann gewesen war, er hatte würdigeres verdient, als als vom Leben Vergessener in einem Obdachlosenasyl zu sterben.
Eine Woche danach erhielt ich einen Brief von einem der 3 in Kreuzsteig ansässigen Anwälte, der gleichzeitig der einzigste Notar der Stadt war. Ich kannte ihn von ein, zwei Lokaltrecherchen die ich gemacht hatte.
Als ich bei ihm vorstellig wurde, eröffnete er mir, das es um eine Testamentsvollstreckung ginge, ich wäre zum Erben eingesetzt worden von Joachim Bergner. Ich wußte sofort wer das sein mußte, obwohl ich im selben Moment fast gelacht hätte vor Unglauben. Ich sagte das es ein Irrtum sein mußte, ich würde keinen Joachim Bergner kennen, obwohl irgendetwas in meinem Inneren darauf beharrte, das es der Penner mit den außergewöhnlichen Augen war.
"Nun, Herr Bergner hat sie scheinbar gekannt, ihr Name ist im Testament genannt, Martin Becker, Mitarbeiter beim Kreuzsteiger Anzeiger."
Ich brachte mein Erstaunen zum Ausdruck, das jemand wie Herr Bergner ein Testament hatte, und dann noch beim Notar.
Ich erbte 3,4 Millionen Euro und einigen Grundbesitz, darunter auch die Villa in Hamburg, die Herr Bergner wohl bewohnt hatte, bis vor 10 Jahren. Der Notar kannte wohl einen Teil von Bergners Geschichte, scheinbar hatte er ihm einiges erzählt, als das Testament aufgesetzt wurde. Er war früher ein erfolgreicher Kaufmann und anerkannter Laienmaler gewesen.
Warum er sich entschlossen hatte seine letzten 10 Jahre als Obdachloser auf der Straße zu verbringen wußte auch der Notar nicht zu sagen, Familie hatter Bergner keine, weder Kinder, noch Frau, noch lebende Verwandte.
Zum Testament gehörte auch ein Brief an mich, der ein Blatt enthielt, das mit wenigen Worten in schöner Handschrift beschrieben war.
>>Martin Becker,
wir haben nie ein Wort miteinander geredet, ich kenne ihr Leben nicht, und sie meines nicht.
Es ist auch nicht wichtig. Ich bin weit gekommen, habe aber letztendlich doch nicht gefunden was ich mein Leben lang gesucht habe. Ich bin gescheitert, aber das Leben ist ein endloser Fluß, alles kommt wieder.
Ich habe niemanden dem ich meinen Besitz hinterlassen könnte, also hinterlasse ich ihnen es, die Fähigkeit andere Menschen wirklich zu sehen, nicht nur das Äußere, haben nicht viele Menschen, und sie haben mich gesehn.
Ich wünsche ihnen, das ihnen das Geld willkommen ist, tun sie damit was immer sie wollen, nur fangen sie an richtig zu sehen, die Welt bevor ihr Leben zuende ist und sie nichts mehr als die Hügel vor sich gesehen haben, sie müssen sehen lernen und wachsen, und am Ende vielleicht vollendet dastehen, was mir nun nicht mehr gelungen ist.
Mit besten Wünschen Joachim Bergner<<
Ich denke seither jeden Tag darüber nach, was Ich machen soll, aber eines weiß ich, ich habe Angst mich über die Hügel zu erheben, aber ich weiß auch das ich es tun werde, bald.