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- 07.01.2018
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- Anmerkungen zum Text
Hallo, liebe Wortkrieger und Wortkriegerinnen
Dies ist mein Beitrag zur ersten Hamburger Challenge. Die Vorgaben dafür waren "Picknick zu dritt" und "das erste Mal". Kann sein, dass ich das erste Mal ein bisschen vergessen habe. Sagen wir einfach: Für Kinder ist alles das erste Mal.
Edit: Leider ist es mir noch nicht gelungen, die Zitate so einzubinden, dass sie eindeutig als Zitate, inklusive Urheber/in, zu erkennen sind. Deshalb: Die im Text vorkommen "Sings" sind Kinder aus Asbest von Neonschwarz und Wünsch Dir was von Die Toten Hosen. Reinhören lohnt sich.
Hamburger Grüße,
Maria
An'er Als
»Gude Luft«, sagte ich.
Mausi spitzte die Ohren. Sie schob die Schnauze an mir vorbei durch’en Türspalt, hielt die Nase in’en Wind. Und wuffte.
»Schnellschnell, Mausi. Zu Hoka.«
Während wir die Straße entlanglopten, färbte sich der Himmel weiß, und der Rad-Blau-Turm tauchte aus’em gelben Morgendunst auf. Die Schrift am Dach wurde sichtbar, Rad-Blau steht da. Zuminnest behaupten die Feuerkids das. Feuerkids und ihre Geschichten — die darf man nich’ glauben, nech? Feuerkids sind abergläubisch. Jedes Kid weiß das. Hoka wusste das auch.
»Da steht gar nich' Rad-Blau«, sagte sie früher einmal, als sie neben mir auf’em Dach eines Huuses hockte und zum Turm hinüberschaute. »Sonnern Radisson.«
Ich traf Hoka am großen Auto, in’em sie wohnte. Es war so groß, es hatte mehr als dreißig Sitze. Dreißig und sechzehn Sitze, ich hatte sie alle gezählt. Weiter als dreißig wusste ich nich', aber Hoka behauptete, es seien hunnertelf Sitze. Aber das ist Quatsch, denn hunnert, so viel weiß ich, das wären vielviele Sitze.
Das Auto fuhr schon lang nich' mehr, den Motor hatte Hoka weggegeben. Alles, was sie fand, tauschte sie gegen Essen, Süffel und anneren Krams.
An diesem Morgen hockte sie auf’er Erde vorm Auto. Sie sortierte Schrauben aus einer rostigen Kiste auf’m Boden.
»Hoi, Hoka«, sagte ich.
»Hoi«, sagte Hoka. Sie ließ den Blick schweifen von mir zu Mausi, dann zu Singsa an meinem Gürtel, Singsas Hörer, die ich mir um’en Hals gelegt hatte. Sie deutete mit’m grauen Finger auf Singsa. »Doch tauschen?«
Ich presste ihn an mich. »Nee. Gehen zur Als.«
Hoka erhob sich aus’er Hocke und wischte die Hände an’er Hose ab. »Nee«, sagte sie. »So Mumm haste nich'.«
»Mumm hab ich! Hab ich dir gesagt.« Ich reckte das Kinn. Wich Hokas Blick nich' aus. »Picknick an’er Als, das mach ich. Gehe auch zur Alsvilla! Hab ich dir Hand drauf gegeben.«
»Hand mit Spucke, haste«, sagte Hoka.
»Und du hast Hand mit Spucke gegeben, dass du Essen für Picknick gibst.«
»Gebe dir Essen, und holste mir Alswasser. Aber …« Hoka schüttelte den Dötz. »Geh nich’ zur Alsvilla. Da sind Spenster.«
»Denkste, ich hab keinen Mumm?«, fragte ich.
»Vorsichtig, Abra! Jo?« Hoka blickte mir tief in’e Augen.
Ich blickte auf’en Asphalt zu meinen Füßen. Ich hatte genug Mumm. Würd ich schon beweisen.
Hoka seufzte. »Warte.« Sie verschwand im Auto.
Ich kraulte Mausis Nacken. Durch’e Scheiben versuchte ich zu erkennen, was Hoka da tat, doch die Fenster waren blind vom Staub.
Schließlich kehrte Hoka mit einem gepackten Büddel und drei leeren Wasserschläuchen zurück. Den Krimskrams reichte sie mir. Die Wasserschläuche schlenkerten auf meinem Rücken, und der Büddel wog schwer an’er Schulter. Ich grinste, mein Herz flatterte.
Ein Picknick am Wasser wie in einer der Geschichten, die die Feuerkids vertellen. In’er Geschichte treffen sich drei Frauen an’er Als, und sie haben herrliches Essen dabei. Und auch ein heimnisvolles Süffel, das Bia. Ständig versuchte Hoka, Bia einzutauschen — das wollte jedoch niemand einem Kid geben. So herrlich stellte ich mir ein Picknick an’er Als vor mit Bia und genug Essen für drei Große Leute, dass ich Hoka davon vertellt hatte. Sie hatte mich ausgelacht. Gesagt, ich hätte nie genug Mumm, um an’e Als zu gehen.
Aber Mumm hatte ich. Jedes Kid wusste das. Damals.
»Da Bia drin?«, fragte ich.
»Wenn du Singsa gibst, gebe ich Bia«, sagte Hoka.
Ich riss die Augen auf. »Haste Bia?«
»’türlich nich'. Weißte doch.«
Niemand durchquerte den Mumpf, nie. Wer’s tat, kehrte nie zurück. Jedes Kid wusste das. Die Alsvilla fraß Menschen. Sie war die Bewacherin der Als. Aber ich ging trotzdem hin.
»Vor Spenstern haben wir Mumm, nech?«, sagte ich zu Mausi, sprach nur aus’m Mundwinkel.
Ich setzte einen Fuß in’en Mumpf. Der Boden war modderig, und ich sackte sofort ein, musste mir auf’e Unterlippe beißen, um nich’ zu schreien. Schmutziges Wasser sickerte in meine Schuhe.
Mausi lopte mir nach.
»Nich' stehenbleiben, Mausi«, sagte ich.
Die Luft roch tot. Ich atmete flach, presste die Zunge gegen’en Gaumen, ging schneller, rannte fast den ganzen Weg zum Huus.
Ich warf den Büddel oben auf’e Mauer und hob Mausi hoch. Ihr Fell war von Modder gesprenkelt. Nach ihr kletterte ich nach oben.
Im Schatten der Alsvilla roch es nich' mehr so schlimm, und wir hatten eine gude Aussicht über’n Mumpf und die Als. Auf’m Mauerrand lagen Tische und Stühle, verstreut, kaputt.
Früher, vielleicht vor Jahrhunnerten, das vertellen die Feuerkids, saßen hier Große Leute und genossen den Blick über die Als. Bei einem Eis. Ich lutsche gern Eis, und damals fragte ich mich, ob die Großen Leute die Eiszapfen direkt von’er Dachrinne der Alsvilla brachen. Im Winter hingen dort bestimmt leckere Eiszapfen.
»Kurze Pause«, sagte ich. Ich drehte Mausis Dötz zum Fluss. »Siehste, so ’ne gude Aussicht.«
Ich hockte mich auf’en Boden und steckte die Hörer in Singsas Seite. Einen Knopf pfriemelte ich in Mausis Ohr, den anneren in meins. Der Diskus, den ich in Singsas Bauch gefunden hatte, war ein bissken kaputt. Das erste Sing rauschte und knackte bloß, ich musste mehrmals auf’en Pfeilknopf an Singsas Oberseite drücken, damit ein Sing startete. Ich drückte immer gleich viermal.
»Funkelnde Augen auf mausgrauer Haut,
Irgendwer hat diese Stadt mit Schaufeln gebaut.
Die Bewohner der ersten Stunde,
Im Herzen gesund, nur verteert ist die Lunge.«
Ich spähte in’n Büddel. Atmete tief ein, den Duft, der mir entgegenschlug.
»Mausi, wir sind glückglücklich«, sagte ich.
Schinken, echter Schinken. Ein Stück Brot, genug für zwei Leute. Ich betastete es mit’n Fingern. Ein bissken hart, aber besser als alles, was ich die letzten Tage zu essen fand. Am Tag davor schnappte ein Wildhund Mausi einen Vogel vor’er Nase weg, und wir aßen beide nix. Mein Magengrummeln war lauder als das Sing.
Wir mussten nur noch das Alswasser besorgen, danach konnte es ein Picknick geben. Ein perfektperfektes Picknick.
Mausi fuhr zusammen. Sie machte einen Satz und war schon unter einem Tisch verschwunden. Ich hörte das Geräusch einen Moment später, ein Schleifen auf’m Steinboden. Es kam aus’m dunklen Inneren der Alsvilla. Mit einer Hand griff ich Singsa vom Stein, rupfte mit der anneren den Hörer aus’m Ohr und schlüpfte neben Mausi untern Tisch, presste mich an’en Körper der Hündin.
Das Schleifen wurde lauder, näherte sich. Doch Spenster. Spenster in’er Alsvilla.
Ich hielt Mausi das Maul zu.
Wir hörten annere Töne, nicht nur das Schleifen: ein Klingeln und Rasseln. Dazu der Geruch von Rauch und verbranntem Plastik.
Keine Spenster, gud, aber Feuerkids sind nich' besser. Sie bändigen das Feuer und teilen nich' gerne. Wenn sie Kids sehen, verjagen sie sie, manchmal, indem sie ihnen die Kleidung anzünden.
Das Feuerkid ging am Tisch vorbei. Vor sich her schob es eine Brenntonne.
Mausi witterte und stemmte sich gegen meinen Griff.
In wenigen Metern Entfernung verstummte das Schleifen. Ich drehte den Dötz, sah, dass das Feuerkid die Brenntonne umrundete. Ein Zischen und Murmeln, ein Knistern, mit’m das Feuer zum Leben erwachte.
Das Feuerkid schob die Tonne ganz nah an’e Mauer, stellte sich auf’en Mauerrand und blickte auf’e Als. Dann drehte es sich um in’e Richtung des Tisches, unterm wir lagen. Ich hörte Singsas Wispern aus’en hingeworfenen Hörern.
»Sie laufen jeden Tag am Abgrund entlang,
Ist ja auch klar, dass man abstumpft, verdammt.«
Ich schloss die Augen.
»Lassense den Hund nich’ los, ne?«, sagte eine Stimme, die Stimme eines älteren Jungen. »Wennse den Hund loslass’n, zünd ich ihn an, ne?«
Ich öffnete ein Auge. Mausi knurrte unter meiner Hand. Der Feuerjunge sprang von’er Mauer, beugte sich zu uns untern Tisch. Er hatte langes, rotes Haar, in’em funkelnde Euronen klapperten. Sein Gesicht war schwarz von Ruß. Er streifte den Feuerhandschuh ab.
»Kommense, ne? Ich beiß nich’.«
»Mein Hund beißt«, sagte ich.
Mausi knurrte erneut, und ich umklammerte ihr Maul fester. Der Junge zog ein Messer unter seiner Weste hervor.
»Kein Schiet, Kid«, sagte er. »Sonst mach ichse kalt.«
»Mausi. Schscht.« Ich streichelte Mausis Pelz. »Kein Schiet, jo.«
Ich ließ Mausis Maul los. Mausi wuffte laud und knurrte, doch sie blieb liegen.
»Bleib«, sagte ich. Dann kletterte ich unterm Tisch hervor.
Der Feuerjunge war größer als ich, aber das Messer zitterte in seiner Hand, der ganze Junge zitterte. Als hätte er schon lang keine Brenntonne mehr entzündet.
»Ich bin To«, sagte er. »Undse?«
»Abra.« Ich näherte mich der Brenntonne, dem Knisterfeuer. »Biste allein?«
Er zog die Nase kraus, zitterte noch ein bissken mehr. »Meine Freunne komm’n gleich.«
Ich streckte die Hände aus, hielt sie so nah an’e Wärme des Feuers, dass ich es grade noch aushalten konnte.
»Und was machense hier?«, fragte To. Er hielt immer noch das Messer in’er bebenden Hand.
Mausi zog unterm Tisch die Lefzen hoch, und ich warf ihr einen Blick zu, schüttelte den Dötz.
»Ein Picknick an’er Als«, sagte ich.
Einen Moment starrte To mich aus geröteten Augen an. Er lachte, bleckte die gelben Zähne. »Quatsch.«
»Haste nich' die Geschichte gehört von’en Frauen und dem Picknick an’er Als?«
»Die Geschicht’? Kid, war vor Jahrhunnerten. Große Leute. Keine Kids. War ’ne annere Als damals.«
»Weiß ich. Hatten auch Bia beim Picknick, nech?«
»Hamse Bia?«
»Nee. Die Großen geben keins.«
»Is’ besser, glaubense mir. Bia macht Große aus Kinners.«
»Hä?«
»Kinners, die Bia süff’n? Wer’n wie Große. Geruch, Stimme, Gang.«
»Haste schon Bia gesüffelt?«
Er leckte sich über die rissigen Lippen. »Jo. Aber mach ich nich’ mehr, nie. Würd ich nich’ woll’n, wenn ichse wär. Würd auch nich’ zur Als geh’n, ne? Die Eisenmänner leb’n in’er Als.«
»Die Eisenmänner?«
»Woll’nse nich’ kenn’n. Ich sach, machense Picknick hier.«
Ich presste den Büddel an’e Brust. Schinken und Brot, das reichte für Mausi und mich. Nich' für’n Jungen. »Nee, muss zum Wasser«, sagte ich.
Er betrachtete die Wasserschläuche, die von meinem Rücken hingen. »Holense Wasser?«
»Jo.«
Seine Nasenflügel weiteten sich. Er ließ das Messer sinken und machte einen Schritt auf mich zu, ergriff meine Hand. Seine Haut war kalt. »Bringense was mit?«
»Für meine Freundin.«
»Für mich? Kid, büdde.«
»Was willste damit? Kann man nich' süffeln.«
Er schüttelte den Kopf, die Euronen klimperten in’n filzigen Strähnen. »Nich’ süff’n, nee.«
»Was willste denn?«
»Kid … Büdde.« Er fummelte einen leeren Wasserschlauch von seinem Gürtel, hielt ihn mir hin. »Habense ‘nen Schlauch, machense den auch voll. Ich hab auch was fürse.« Er wies auf Singsa. »Braucht Batteries, ne? Kann ich geb’n. Tausch?«
Ich wechselte einen Blick mit Mausi. »Tausch.«
»Wasse auch tun, berührense nich’ das Wasser. Da sin’ Blaualgs drin.«
»Was ist das?«
Er zuckte die Achseln. »Niemand weiß das. Die Eisenmänner war’n Große Leute, bevorse im Wasser geschwomm’n sin’.«
Ich biss die Zähne aufeinanner. Blickte über die Mauer auf’n Fluss im Mumpf. Graue Grasbüschel bewuchsen das Ufer, und ich glaubte, eine Bewegung zwischen den Sträuchern zu sehen, zu weit entfernt, um mehr zu erkennen.
»Sie wurd’n sinnig«, sagte To. »Verlor’n den Verstand, kriech’n nur auf’m Bauch. Berührense nich’ das Wasser, vielleicht bemerkensese nich’. Und wasse auch tun – glaubense nix, wasse am Ufer seh’n.«
Ich blickte zurück zu Mausi und Singsa und murmelte: »Wer im Schlamm aufwächst, hat keine Angst vor dem Mumpf.«
Mausi war zurückgefallen, mit bebenden Flanken stand sie zwischen’en Sträuchern und winselte.
Ich pfiff. »Mausi! Nich' stehenbleiben.«
Mausi wuffte, sie schlich weiter, den Dötz gesenkt.
Ein Platschen! Wie angewurzelt blieb ich stehen. Mit’m Satz schloss Mausi zu mir auf und verbarg den Dötz an meiner Hüfte. Durch’en Dunst versuchte ich, etwas zu erkennen — doch nix.
»Mumm, Mausi«, sagte ich. »Mumm, Abra.«
Ich kraulte Mausis Pelz, stapfte weiter, die letzten Meter zur Als.
Der Fluss war mehr als ein Rinnsel, ich konnte das annere Ufer im Nebel nich' erkennen. Auf’er Wasseroberfläche kräuselten sich grüne und blaue Schlieren. Wie die Regenbogenpfützen, die die Autos manchmal auf’er Straße zurückließen, aber heller. Duftender. Roch wie’s Fleisch eines Apfels.
Mein Mund war trocken, und ich fuhr mit’er Zunge den Gaumen entlang.
An’er Uferböschung wuchs weiches Gras. Ich ließ mich auf’n Po sinken und rutschte die Böschung hinunter zum Wasser.
Mausi wuffte auf’er Böschung.
Ich pfiff, doch die Hündin rührte sich nich'.
»Dann bleib oben!«, rief ich. »Schönschön hier.«
Ich setzte den Büddel ab, fingerte ihn auf. Packte das Essen aus, schluckte, um’e Mundhöhle anzufeuchten. Ich pfiff nochmal nach Mausi. Die blieb oben an’er Böschung stehen und wuffte. Würd schon kommen, wenn ich aß.
Ich steckte mir einen Knopf von Singsas Hörern ins Ohr.
»Der Himmel tief, der Dunst so dicht,
Sie seh’n die Sonne und den Mond hier nicht.
Taumeln und tanzen im Neonlicht,
Das Rauschen der Stadt ist ein Rausch für sich.«
Ich biss ein Stückchen vom Schinken ab, rupfte etwas Brot vom Laib. Ich kaute mit vollen Wangen, schmatzte, winkte Mausi zu.
Sie wuffte.
Ich atmete die duftende Luft ein und schloss die Augen.
Im Büddel war noch mehr drin, nich' nur Schinken und Brot. Eine Dose. Ich zog sie hervor. Sie war bemalt: Himmel, Wasser, darüber rote Schrift. Neben der Schrift eine Frau mit Fischschwanz. Es gab eine Lasche wie bei einer Konserve, und ich zog sie auf, hielt mir die Dose unter die Nase. Der Inhalt roch süß, prickelig.
»Bia«, hauchte ich. »Mausi!«, rief ich. »Bia!«
Mausi wuffte, doch sie blieb, wo sie war.
Ich hob die Dose an’e Lippen, erwartete das kühle Süffel im trockenen Mund.
Schwarz vor meinen Augen.
Ich schnellte hoch, bog den Oberkörper zur Seite und erbrach Schinken und Brot.
Ein kalter Wind riss an meinen Haaren, trieb die Nebelschwaden vor sich her, wirbelte sie hinauf in’en Himmel. Ich zitterte. Zitterte wie’er Feuerjunge.
Das Bia. Ich hockte zwischen der leeren Schinkenpackung und Brotkrumen auf’m Boden, der Büddel war leer. Keine Dose mit Fischfrauen darauf.
Eine Hallu. Nur eine Hallu.
»Mausi!«
Mein Blick fuhr zur Böschung. Keine Mausi, kein Wuffen.
»Mausi!« Meine Stimme hallte grell durch’n Nebel. Ich zitterte so sehr, der Pfiff gelang erst beim dritten Versuch. »Mausi!«
Ich räumte den Büddel ein, klemmte Singsa wieder an’en Gürtel, warf mir alles über. Die Beine weich, die Knie schlackelig, ich konnte kaum stehen. Mir war flau im Magen, der Mund so trocken, als hätt ich seit einem Tag nix mehr gesüffelt.
Die Wasserschläuche baumelten am Arm.
Ich blickte auf’e Als. Mein Teil des Tauschs war noch nich' erfüllt. Der Tausch muss erfüllt werden, immer. Jedes Kid weiß das.
Am Ufer fiel ich auf’e Knie, begegnete dem Blick meines Spiegelbildes. Das Wasser nich' berühren. Wie’s Wasser nich' berühren?
Ich schraubte den ersten Schlauch auf. Versenkte ihn im Wasser, achtete darauf, dass meine Fingerspitzen das Nass nich' berührten.
Der zweite Schlauch. Ich starrte in’en Nebel. Da! Ein seltsamer Schatten.
Nee. Ich schüttelte den Dötz, wollte die Hallus vertreiben. Nur ein Nebelschwaden, verwirbelt vom Wind.
Der dritte Schlauch. Die Hände bebten. Schmerz jagte durch meinen Dötz, dröhnte hinter’er Stirn, und ich blinzelte.
Ein Platsch auf’m Wasser!
Ich sprang auf. Weiße Sternchen explodierten vor’m Blickfeld. Am Flimmern vorbei erblickte ich einen Schatten. Hörte ein Schnaufen und Platschen. Etwas wälzte sich auf mich zu, ich glaubte, die blaue Haut zu sehen, den schweren Körper, der sich auf’m Bauch durchs Wasser wälzte.
Ich rannte. Rannte und rannte und rannte.
Dornen ratschten die nackte Haut an Beinen und Armen auf. Ich war blind und taub, spürte meinen dröhnenden Dötz erst wieder, als ich hinfiel und mir auf’e Zunge biss. Ich schmeckte Blut, ich übergab mich nochmal.
Riss die Augen auf. Vor mir der Mumpf, braun und stinkend. Ich blickte zurück. In etwa zwanzig Schritt Entfernung lag etwas im Schlamm.
Ich kämpfte mich hoch, wischte den Mund ab. Taumelte zurück. Zwanzig Schritt. Mausi lag auf’er Seite, das Fell modderverkrustet. Die Augen starr, Pusteln am Maul.
Ich fuhr mit’m Handrücken über meine trockenen Lippen, ertastete juckende Pusteln.
Ich schrie. Und rannte.
Tos Tonne war heruntergebrannt. Die Terrasse menschenleer.
»To?«, rief ich, rappelte mich auf, taumelte zur Tür der Villa. »Ich hab Wasser.«
Keine Antwort.
Mein Hals tat weh, ich konnte nich’ mehr schreien. Ich stolperte in’e Dunkelheit, prallte gegen eine Wand und schüttelte den Dötz. Schmerzte immer noch. Ich verharrte, wartete darauf, dass die Augen sich an’e Dunkelheit gewöhnten.
Auch im Inneren der Villa standen Tische und Stühle, Überbleibsel der Großen Leute. Im Zwielicht erblickte ich eine Matratze, weit weg von’er Tür, eine erloschene Brenntonne, zahlreichen Krimskrams auf’m Boden. Die Stille drückte auf meine Ohren.
Ich tastete mich an Tischen und Stühlen vorbei, blieb vor’er Matratze stehen, schwankte auf’en Fußballen. Der Boden schien näher zu kommen. Ich streckte die Arme aus, bereit, einen Sturz abzufangen. Blieb aufrecht.
Der Feuerjunge lag auf’er dünnen Decke, Arme und Beine von sich gestreckt. Ich kniete mich neben ihn, betrachtete die Pusteln an seinem Mund, die aufgerissenen Murmelaugen.
Ein Wasserschlauch war auf’er Matratze ausgelaufen, von Tos Fingern umklammert.
Ich atmete flach. Am liebsten hätte ich nich' geatmet. Nie wieder.
Bei Einbruch der Dunkelheit erreichte ich das große Auto. Ich hatte mich auf’m Weg durch’e Stadt noch zweimal übergeben. Inzwischen war mein Magen leer, doch Hunger hatte ich nich’. Nur Schmerzen. In’en Armen und Beinen, im Magen und Dötz.
Ich sah einen Schatten, der sich hinter’n Fenstern des Autos bewegte. Ich stieß einen Pfiff aus.
Hoka erschien in’er Tür des Autos und sprang mit’m Satz von’er steilen Treppe. »Abra! Du hast’s geschafft! Dachte, du kommst nich' wieder!« Sie lief auf mich zu, legte mir die Hände auf’e Schultern. »Kid, hast Mumm! Komm rein, komm!«
Sie bugsierte mich vor sich her, hievte mich über die Treppe ins große Auto. Mir war schwinnelig, ich ließ mich auf einen Sitz fallen, versank im muffigen Stoff.
»Hier.« Hoka setzte sich neben mich und reichte mir einen Diskus. »Besorgt für dich. Kannste annere Sings hören.«
Ich stellte Singsa vor mir auf’n Boden, entnahm ihm den anneren Diskus, legte den neuen ein. Steckte mir einen Knopf ins Ohr und drückte ein paar Male auf’n Pfeil.
»Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft.«
»Dank«, sagte ich.
Hoka streckte die Hand nach’en Schläuchen aus, die von meiner Schulter baumelten.
Ich sprang auf, verlor das Gleichgewicht und musste mich an’er Rückenlehne eines Sitzes abstützen. Ich packte Singsa und taumelte nach draußen.
Hoka lopte mir nach. »Was?«, fragte sie, breitete die Arme aus.
»Nichnich’ atmen«, sagte ich.
Ich ließ die Schläuche vom Arm rutschen und riss die Stöpsel heraus.
»Abra!«
Ich hielt die Luft an. Ich griff die Schläuche am falschen Ende. Das Wasser platterte auf’en Asphalt, versickerte zwischen den Rissen in’er Straße.
Eine Hand traf mich an’er Brust, und ich stürzte zu Boden, schlug auf’n Asphalt. Schaffte es, nich' nach Luft zu schnappen.
Hoka fiel vor’er Pfütze auf’e Knie. »Nee, nee! Abra! Blödian! Weißte, was die Feuerkids tauschen für Alswasser?«
»Weiß ich«, sagte ich, wagte zwei flache Atemzüge. »Für Hallus tauschense ihr Leben. Sterben an deinem Tausch!« Ich rappelte mich auf und zeigte Hoka den bösen Finger. »Warum haste nichts gesagt?«
»Was gesagt?«
»Was Alswasser macht!«
»Abra«, sagte Hoka, streckte eine Hand nach mir aus.
Ich schlug sie weg. »Mein Leben tauschste nienich’!«
Hoka hockte auf’m Boden, öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus.
»Dachte, wir sind Freunne«, sagte ich.
»Sind wir.«
»Nee. Mausi war meine Freundin.«
Hoka presste die Lippen aufeinanner, ein Schimmern in’en Augen. »Abra …«
»Hast ihr Leben getauscht für Alswasser!«
Ich rotzte auf’en Boden, wandte mich ab. Ich humpelte na Huus, presste Singsas Hörer in’e Ohren.
»Ich glaube, dass die Menschheit mal in Frieden lebt
Und es dann wahre Freundschaft gibt.
Und der Planet der Liebe wird die Erde sein,
Und die Sonne wird sich um uns drehen.«
Seitdem bin ich allein. Und ich habe keine Freundin, die auf mich aufpasst.
- Quellenangaben
- "Kinder aus Asbest" von Neonschwarz (Album: Metropolis (2016))
"Wünsch dir was" von Die Toten Hosen (Album: Kauf mich! (1993))