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Anemoi
"Ja, Frau Weiser, das wird umgehend erledigt", antwortete Lex Andermann seiner Mutter am Telefon. Täglich dachte er sich einen neuen Namen für sie aus, damit sein Vorgesetzter ihn nicht bei einem ihrer regelmäßigen Kontrollanrufe erwischte. Lex - das Gesetz: Mama Andermann nannte ihn so, in der Hoffnung, dass er genauso wie alle anderen Andermänner Anwalt werden würde. Tja, gejinxt: Lex arbeitete nun bei einem Versicherungsunternehmen. Da halfen auch nicht die täglichen BGB-Lesungen der Mutter statt der Gute-Nacht-Geschichten. Nicht Anwalt zu werden, das war Lex' kleines Stück Rebellion gegenüber den Traditionen und Werten der Familie Andermann.
Ansonsten lief es im Alltag weitestgehend okay für ihn. Minutiös war alles durchgeplant: Gleich 09:45 Uhr, Zeit für seinen typischen Post-Kaffee-Ausflug zur Toilette. Nach sechsundzwanzig Jahren auf dieser Erde war er endgültig mit der koffeinierten Darmperistaltik seines Körpers vertraut. Ein besonderes Gefühl der Macht übermannte ihn bei dem Gedanken. "Selbstoptimierung" war das Stichwort: Selbst das Toilettenpapier konnte man theoretisch bei all der Fehlerlosigkeit seines hinteren Backenpanoramas ein weiteres Mal benutzen. "Probiers mal mit Gemütlichkeit" Lächerlich! Lex hielt Balu aus dem Dschungelbuch für einen Heuchler. Immerhin war er nur ein Bär und schlug sich nicht mit den Unannehmlichkeiten der deutschen Leistungsgesellschaft herum. Hier hatte alles auf die Uhrzeigerbewegung genau zu funktionieren. Vor allem jetzt im Dezember musste alles klappen: Besonders viele Menschen rutschten zurzeit vor Geschäften aus und es wurde gestritten, wer nun für das Glatteis-Drama auf dem Weg verantortlich war. Extraarbeit für Lex' Firma. Um 11 Uhr stand seine zweite Mahlzeit des Tages an: Gemischter Salat mit Hähnchenstreifen, ohne Mais. Kein Mais, weil der ja so rauskommt wie er reinkommt. Die Kakerlake unter den Gemüsesorten, die jedes nukleare Magensäuregewitter überlebte. Nicht ideal, so etwas zu essen, da verschwendete Energie. Suboptimal. Um 12 Uhr rief wieder die Arbeit und bat um allstmögliche Zuneigung.
Lex' Leben war gut, sagten jedenfalls andere. Nur manchmal tauchten Episoden auf, in denen er sich wie in einem Loch fühlte, aus dem es schwer herauszukommen war. Leere füllte ihn, die Kontinentalplatten „Sinn“ und „Leben“ drifteten auseinander. Andere wollte er mit den Gedanken nicht belasten. Überhaupt, ein „Das wird schon!“ seiner Mitmenschen half dabei nicht. Natürlich nicht. So blubberte auch jetzt eine dieser Episoden auf. Frischluft war in den Momenten immer das Beste und so fand er sich auf der Dachterrasse des Bürogebäudes wieder. An der Kante zum Abgrund fühlte sich die Freiheit vom Sein besonders gut an. Einmal wie ein Buchenblatt im Wind wirbeln, in helixförmigen Bahnen in der Unendlichkeit schrauben. Es brauchte nur diesen einen Satz nach vorne. Wie immer breitete er bei diesem Kopfkino seine Arme aus und streckte sie wie Flügel nach hinten. In diese Gegend verirrte sich der Wind selten, was Lex nur noch verrückter werden ließ. Darum wollte er als Kind auch kein Astronaut werden - das Gefühl der Brise im Gesicht hätte er zu sehr vermisst. Doch hier fehlte die Brise auch. Was machte das Leben auf der Erde nun besser als das Leben im Nichts, wenn hier selbst der Wind nicht wehte? Heute würde er den Sprung wagen und die andere Seite sehen. Vergessene Seelen treffen, seine Hände durch das hohe grüne Gras fahren und glücklich sein. Nur einen Schritt nach vorne. Er trat mit beiden Beinen ins Leere und flog tatsächlich. Nach hinten. Eine große Böe erwischte ihn am Punkt des Absprungs und schleuderte ihn zurück in Richtung Dachterrasse. Wie Da Vincis vitruvianischer Mensch lag er in der Luft, steif wie in einem Rhönrad. Für einen kurzen Moment verließ ihn die Erdanziehung, bis er auf seinem Rücken landete und vom Schmerz an sein gewöhnliches Dasein erinnert wurde.
17 Uhr, Arbeitsende - Lex plante, zur Haltestelle zu hasten, die fünfhundert Meter von seinem Büro entfernt war. Die nächste Tram nach Hause musste erwischt werden; immerhin stand in einer Stunde seine Gymsession an und danach gab es Abendessen von Mama. Tätig bleiben, so vergisst man all das Elend! Kaum aus dem Gebäude der „Calabria Versicherungen“ raus, begegnete ihm ein kleines Mädchen mit kupfernem Haar, das zu einer Palme oben zusammengebunden war, in der rechten Hand ein Stieleis mit Schokohülle und in der linken Hand ein ampelroter Luftballon, der selbst im Dunkel des Frühabends befremdlich glühte. Älter als vier Jahre konnte sie nicht gewesen sein. „Mein Warten hat ein Ende: Lex Andermann, ich grüße dich!“, kam es aus ihr raus. Irgendwas an ihr schien Lex nicht richtig; sei es die für ihr Alter ungewöhnliche Art zu reden, das pinke T-Shirt bei Wintertemperaturen – kalt war ihr wohl nicht - oder ihre sonderbare Augenfarbe: Schwarzer Tintenklecks auf klarem Apfelsaft, anders nicht zu beschreiben, und dazu die ockerbraune Haut - nichts wollte passen. Es ließ sie unecht, mystisch wirken. Ganz zu schweigen davon, dass er keinen Schimmer hatte, wer zum Teufel dieses Kind sein sollte?!
„Es spielt keine Rolle, Lex. Ich bin niemand.“. Sie deutete auf ihr angeknabbertes Eis: „Auch einen Bissen?“
„Nee, aber danke.“ Er umfasste seine imaginären Speckröllchen, als würde er einen Rock hochhalten.
„Hast du mal aufs Thermometer geguckt?! Mag sein, dass du niemand sein möchtest, aber du hast einen Namen wie jeder andere Mensch. Wie rede ich dich an?“
„Du tust es gerade.“ Lex' Schultern sackten zusammen. Frustriert ließ er vom Gedanken ab, ihren Namen herauszufinden. Überhaupt hatte er eigentlich keine Zeit für diesen Plausch, er musste nach Hause und danach weiter ins Fitnessstudio.
„Ich, ein erwachsener Mann, mit einem fremden Kind neben sich. Weißt du, wie das für andere Menschen aussieht?“
„Nein. Ich weiß nur, wie es für mich aussieht. Von hier unten seh ich all deine Nasenhaare, hihi.“ Sie kicherte, während sie ein großes Schokoladenstück vom Eis zu zerkauen versuchte. Es stellte sich quer in ihrem Mund, als würde sie eine Frisbeescheibe hamstern, die schlussendlich zerbrach. „Ist aber auch egal, Lex. Merkt eh keiner. Hey, du bist so flott unterwegs, mach langsam, immer so im Stress, atme mal durch, Kerl!“
Das Kind ohne Namen bemühte sich, mit Lex Andermann im Gleichschritt zu bleiben, was mit diesen lächerlich kurzen Beinen schwer genug war. Der Ballon bremste sie beim Rennen auch noch unnötig, aber Loslassen kam nicht in Frage. Wie Götterspeise wackelte ihre Palmenfrisur rhythmisch in der städtischen Feierabendhektik. Gekonnt schlängelten die beiden sich durch den menschlichen Slalomkurs der Fußgängerzone, dünner Schneematsch spritzte durch ihre Schritte auf, in der Ferne hörte man ein Saxophon weihnachtlichen Jazz spielen und zwischen den Häusern wurden große leuchtende Sterne aufgehängt. Irgendwie schaffte das Mädchen es, mit dem Luftballon nirgends hängen zu bleiben. Auf dem Weg musste er ihr eine Packung gebrannte Mandeln kaufen, da sie mit Schreien zu drohen anfing, wenn er es nicht täte. Alle einhundert Meter biss sie von ihrem Eis ab, bis schlussendlich nur noch der Holzstiel übrig blieb, als sie an der Straßenbahnhaltestelle ankamen.
„Schön, mehr Baumaterial für mein Stielhaus“, sagte sie zufrieden und steckte ihn in die rechte Hosentasche. Zur gleichen Zeit kramte sie die gebrannten Mandeln hervor, deren Packung wie ein schussbereiter Merlinhut in der Hose hing. Die Straßenbahn kam, Lex stieg ein und drehte sich an der Türschwelle zum Mädchen um. Im Licht schimmerten die Apfelsaftaugen des Kindes.
„Wie, du hast ein Haus aus Eisstielen?“, fragte er frei von jeglicher Überraschung, da man dieses Mädchen mit dem Wort „normal“ schockieren würde. So fremdartig, wie es für sie klang.
„Du etwa nicht?“, antwortete sie noch zufriedener auf seine Frage und ihr Grinsen hing wie eine Brücke von der einen zur anderen Backe. Die Tür begann sich zu schließen, Lex zückte seinen Hausschlüssel aus der Hosentasche und brachte ihren Luftballon zum Platzen. Das Grinsen verschwand, dessen Symmetrie blieb aber in ihrem begeisterungslosen Gesichtsausdruck erhalten. Entgegen aller Erwartungen weinte sie nicht. Lex lachte auf und machte sich mit der Tram davon. Durch die Glasscheibe sah er, wie sie ihm hinterherschaute und wieder lächelte.
Ohhh! In der hinteren linken Ecke machte die – augenscheinlich frisch geschiedene - Quotenfrau des Hantelbereichs auf eine viel zu suggestive Weise Streckübungen auf einer Yogamatte. Ein modrig-schweißiger Geruch umgab diesen Ort des ästhetischen Gesellschaftsdrucks, in dem jeder sich zu einem tauglichen Fortpflanzungspartner formen wollte, ja, auch der Opa mit verdächtig kurzen Trainingsshorts und dubios langen Strümpfen, der wie ein trocknender Babystrampler an der Klimmzugstange hing. Ohhh! Am Ruderturm in der Mitte des Raumes stöhnte ein Mann außerordentlich laut und ließ keinen Deut leiser die Gewichte fallen. Lex dagegen war sehr für sich: Mit maximalem Fokus trainierte er auf der Langhantelbank seine Brust, währenddessen lief im Raum ein Chart-Hit - zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde. Ein neuer persönlicher Rekord musste her: neunzig Kilo sind zu schaffen. Später geht es nach Hause zu Mamas Essen.
Eiiins
Hantel nicht zu eng gegriffen, beim Belastungspunkt ausatmen und die Ellenbogen nicht zu weit nach außen: Alles einfach. Alles perfekt.
Zweiii
Schon schwerer. Der rechte Trizeps scheint langsam dicht zu machen. Adern suchten den Weg aus seinem Gesicht, das rot anlief, als wäre die Darmperistaltik doch keine verlässliche Konstante in seinem Leben.
Dre ...
„Du schuldest mir einen Ballon.“
Wie aus dem Nichts schob sich die gedrehte Fratze des Mädchens vor sein Gesicht. Fast ließ Lex die Hantel fallen und entging dadurch knapp Darwins Willkür.
„Was machst du hier?“ Die anderen Gäste starrten Lex an.
„Wie gesagt: Du schuldest mir einen Luftballon. Und mir war langweilig, okay, mir war hauptsächlich langweilig. Warum bist du hier, das macht doch keinen Spaß.“
„Es hält mich gesund.“
„Wie hilft dir Gesundheit in einem Leben, das dir nicht gefällt?“
„Lass mich in Ruhe.“
Und das Kind ließ ihn in Ruhe, bis er seine Trainingseinheit beendete. Es folgte ihm bis zur Haustür an diesem verschneiten Winterabend. Dieses Mädchen hatte keine Eltern, keine Freunde, keine Verbindung zu jeglichen irdischen Banalitäten. Ganz sicher nicht. Niemand vermisste diesen fremdartigen Halbling. Als Lex die Tür aufschloss und das Mädchen abwimmeln wollte, sagte es:
„Ach, wir sind bei dir. Heute sieht dein Haus besonders schön aus.“
„Woher ...“
„Hat dir mein Wind heute Nachmittag gefallen? Hab ganz schön dafür pusten müssen.“
„Du hast mich auf dem Dach gesehen?“
„Natürlich. Auch all die anderen Male.“
„… ich bin da gerne etwas ungeschickt.“
„Natürlich. Ungeschickt.“ Das Mädchen deutete ein Lächeln an.
„Schatz, mit wem redest du da?“, rief Mama Andermann, die plötzlich im Flur stand.
Ehe Lex sich umdrehen und seiner Mutter das kleine Kind vorstellen konnte, war es verschwunden, als wäre es niemals Teil dieses Lebens gewesen. Frischer Schneestaub wirbelte durch die Lichtkegel der Straßenlaternen, verwehte alle Spuren in Richtung Vergangenheit.
Wochen vergingen; nie wieder sah Lex das sonderbare Mädchen mit der kupfernen Palmenfrisur. Er reichte kurze Zeit nach dieser Begegnung seine Kündigung ein, beendete sein Kapitel als Versicherungskaufmann und zog in eine eigene Wohnung. „Nein, Frau Alma, das ist mein letzter Arbeitstag. Ich werde sie aber zu einem anderen Kundenberater weiterleiten.“ Er räumte seinen Schreibtisch aus und verließ das Bürogebäude seines ehemaligen Arbeitgebers. Der Winter kam endgültig in der Stadt an und schmerzte vor lauter trockener Kälte auf den Gesichtern der Leute, entzog allen Atemwolken die Wärme und ließ sie im Wind sterben. Lex schaute auf seine metallene Armbanduhr:
11:00.
Er kaufte sich ein Eis.