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Anekdote zum Zeitgeschehen
Ein Handy klingelt. Ein Mann hockt zusammengesunken auf einer Bank und schlürft Tee aus einem Pappbecher. Seine Hände zittern.
Der Anrufer bleibt hartnäckig, das Klingeln hält an. Irgendjemand will jemanden anders dringend sprechen. Niemand nimmt ab. Schließlich, nach einer Endlosigkeit, verstummt der Ruf doch. Die Stille währt nur kurz, dann beginnt es irgendwo anders zu piepen.
Der Zuhörer reagiert nicht. Die Anrufe gelten nicht ihm.
Noch bevor das zweite Handy verstummt, ertönt das erste erneut. Das Klingeln scheint ihm jetzt nervös, aber das ist Einbildung, Produkt seiner überdrehten Sinne.
„Nun hör schon auf“, sagt er leise, ohne den Blick zu heben. Als ob es die Schuld des Telefons wäre.
Jetzt dudelt es irgendwo weiter hinten in der langen Reihe. Schlimmer noch: Plötzlich ertönt blechern ganz in der Nähe eine bekannte Filmmelodie. Ein Star Wars Fan.
Auf einmal werden es immer mehr Klingelzeichen. Ein zweites, ein drittes … eine anschwellende Kakophonie der Ungeduld und der Angst.
Es musste gerade in den Nachrichten gekommen sein. Überall klingelt es jetzt - niemand nimmt ab.
Unwillkürlich beginnt er zu horchen, welche Melodien er erkennt und welche nicht.
Irgendwo erklingt die Internationale. Ein Genosse? Oder vielleicht ein Banker mit Humor? Nicht hinsehen. Ein Löwenbrüllen; wohl für Leute mit wenig Selbstbewusstsein. Der neue Hit von Britney Spears, fast zu seinen Füßen. Diesmal kann er sich des reflexhaften Blicks nicht erwehren. Ja, das Alter passt.
Er schließt die Augen. Warum hat er hingeschaut? In der Dunkelheit ist das Klingeln nur noch lauter.
„Hört auf, hört auf, hört auf …“
Der Bolero … Plötzlich ein bekanntes, monotonos Piepen. Sein Handy. Mechanisch greift er in seine Tasche. Doch ein anderes. Jemand anders mit dem gleichen Telefon.
Das kostet den letzten Nerv. Er fühlt nicht die Tränen. Erst kommt der Atem nur noch stoßweise, dann rollt er sich schluchzend auf der Bank zusammen wie ein Fötus.
Alle Eindrücke der letzten Minuten stürzen auf ihn ein.
„Bitte hört auf, bitte …“
Irgendwann später helfen ihm zwei Sanitäter auf. Nehmen ihn in den Arm. Bringen ihn fort.
Die Klage der kleinen Mobiltelefone hält immer noch an, aber die lange Reihe der Leichen ist verschwunden. Jemand hat sie mit schwarzen Plastikplanen bedeckt.